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„Wir müssen kollektive Entscheidungsprozesse transformieren“

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Interview mit Otto Scharmer über Führung

Wir müssen Führung weiterentwickeln, um den Kern der Ökonomie zu transformieren, ist Otto Scharmer, Forscher und Dozent im MIT in Boston, überzeugt. Er spricht im Interview über den Zusammenbruch bestehender Systeme und Führungskräfte, die Gutes wollen, aber nicht wissen wie. Wichtig ist, kommunikative Räume zu schaffen und mehr Menschen in Entscheidungen einzubeziehen.

Das Gespräch führten Mike Kauschke und Birgit Stratmann.

Sie sprachen im ersten Teil unseres Gesprächs über Transformation. Welche Rolle spielen Führungskräfte und wie muss ich Führung ändern, damit wir die Herausforderungen bewältigen können?

Scharmer: Dafür gibt es schon Beispiele und Modelle. Wir sind mit Herausforderungen konfrontiert, vor denen wir als Gesellschaft, als Zivilisation, als Menschheit noch nie gestanden haben. Aber es gibt durchaus Wege, die wir zumindest im Kleinen schon ausprobiert haben. Und es gibt einen Bewusstseinswandel, der eine neue Ebene von Integrität einfordert.

Ich beschäftige mich seit 25 Jahren als Forscher mit der Transformation von systemischen Prozessen. Dabei habe ich gelernt, dass uns im Grunde zwei Elemente fehlen, um unsere Entscheidungsprozesse auf die nächste Stufe zu heben, die ich „Evolution 4.0“ nenne.

Wir brauchen die äußeren Institutionen, um die richtigen Leute zusammenzubringen. Heute finden im Lobbyismus viele Absprachen hinter verschlossenen Türen statt. Es sind transparentere Strukturen erforderlich, wo die relevanten Akteure zusammenkommen – sei es regional, national oder international –, um die Rahmenbedingungen ihrer Kooperation miteinander zu gestalten.

Gleichzeitig brauchen wir soziale Techniken, Leadership-Techniken, kommunikative Prozesse, durch die wir in diesen gemeinsamen Entscheidungsstrukturen innovativer miteinander kollaborieren können, damit wir gemeinsam von einer Ego- zu einer Öko-System-Perspektive kommen.

Wir brauchen kommunikative Räume, um Neues in die Welt zu bringen.

Wir müssen uns bewusstwerden, was unser Handeln und gemeinsames Entscheidungsverhalten für andere bedeutet. Dafür fehlen uns heute die Instrumente, die Techniken, aber auch die Übungsräume.

Hier im Presencing Institute bezeichnen wir diese Transformationsarchitektur als „Awareness-Based Systems Change“. Es geht um die Frage, wie sich Systeme dadurch verändern lassen, dass sich das Bewusstsein verändert. Dazu sind kommunikative Gefäße nötig, die wir heute in Institutionen und Gesellschaft noch nicht oder nicht ausreichend haben.

Zum Teil werden solche kommunikativen Räume auch durch das Wettbewerbsrecht verhindert, den alten institutionellen Strukturen, die auf Konkurrenz basieren. Aufgrund der vielen Krisen brauchen wir dringend aber solche innovativen Prozesse, die es heute schon in kleinen Teilen der Gesellschaft gibt. Wir müssen heute Innovation auf das gesamte System und seine Funktionsweise anwenden.

Das Problem sind die kollektiven Entscheidungsprozesse in unseren ökonomischen und politischen Institutionen.

Gleichzeitig gibt es in der Wirtschaft Widerstände gegen echte Veränderungen. Man spricht von Innovation und meint damit entweder nur technische Lösungen oder PR.

Scharmer: Das wird auf Dauer nicht mehr funktionieren. Ein Beispiel: Die Investmentfirma Black Rock hat begonnen, die Verantwortung von Unternehmen für den Kampf gegen den Klimawandel zu diskutieren und sich hier Ziele gesetzt. Gleichzeitig sind große Teile des Portfolios von Black Rock immer noch in der fossilen Energie der extraktiven Ölindustrie investiert.

Mit solch einem Verhalten konnte man noch vor ein paar Jahren durchkommen. Heute jedoch wird das unter dem Stichwort „Greenwashing“ kritisiert und ist nicht mehr akzeptiert.

In den letzten 20 Jahren hat es für Unternehmen gereicht, eine Abteilung für Nachhaltigkeit einzurichten, die ein Teil des PR-Bereichs war. Das wird heute nicht mehr hingenommen, sondern die Geschäftspraktiken des gesamten Unternehmens werden hinterfragt.

Aber ein Aufbegehren von Einzelnen gegen Greenwashing reicht ja nicht, um Systeme zu verändern.

Scharmer: Genau, wir kommen nicht weiter, wenn Nachhaltigkeit und Regeneration nicht den Kern der Ökonomie transformiert, bis in die Innovationsprozesse und das Kerngeschäft hinein. Das gilt nicht nur für Einzelunternehmen. Letztendlich müssen wir kollektive Entscheidungsprozesse im ökonomischen und im politischen Bereich transformieren.

Unser systemisches Problem besteht nicht darin, dass nicht genug Menschen individuell versuchen, sich ethischer zu verhalten. Das Problem sind die kollektiven Entscheidungsprozesse in unseren ökonomischen und politischen Institutionen, die eigentlich den Mehrheitswillen der Bevölkerung reflektieren sollten.

Wir brauchen mehr Partizipation von Menschen, die bisher von Entscheidungen ausgeschlossen sind.

Wenn wir davon sprechen, dass wir die ökonomischen und gesellschaftlichen Systeme transformieren müssen, sollten die Veränderungen hauptsächlich von oben kommen oder aus der Zivilgesellschaft?

Scharmer: Von oben kommt erstmal nicht so viel. Das haben wir ja über Jahrzehnte gesehen. Die Konsequenz daraus ist: Wir brauchen kollektive Entscheidungsprozesse im Sinne der Partizipation von Menschen, die vorher von den Entscheidungen ausgeschlossen waren.

Das politische und ökonomische System muss weiterentwickelt werden. Das ist ein Prozess, der gleichzeitig Bottom-up und Top-down funktioniert. Meine Erfahrung in der Arbeit mit Führungskräften sagt mir, dass Bottom-up allein aber auch nicht ausreicht.

Buch von Scharmer aus 2022

In der jetzigen Krise, wo die Disruptionen in den nächsten Jahren zunehmen werden, tun sich neue Gräben auf. Es wird klar, dass die alten Verhaltensweisen nicht nur nichts bringen, sondern immer mehr Schaden produzieren. Es werden also neue Ansätze gebraucht.

Und wir müssen lernen, in diesen Situationen helfende Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Denn viele Entscheidungsträger stellen sich heute diese Fragen. Viele wollen Teil einer anderen Geschichte sein, eine andere Zukunft mitgestalten. Aber sie wissen nicht genau wie. Hier müssen wir ansetzen im Bereich der Organisationsentwicklung, aber auch der Bewusstseinsentwicklung.

Wir müssen also auf beiden Ebenen arbeiten. Ohne den Druck der Zivilgesellschaft wird überhaupt nichts passieren, zumindest nicht die fundamentalen Transformationsprozesse, die wir jetzt brauchen. Und gleichzeitig muss die Transformation auch aus dem alten System heraus wirksam sein, weil es darin viele Leute gibt, die das eigentlich wollen, aber nicht genau wissen wie. Und das ist eine Ressource, die zu nutzen ist.

Die meisten Führungskräfte haben die gleichen Widersprüche und Wünsche wie die Aktivisten.

Wie denken Sie, dass man das erreichen kann? Ich frage mich, ob die Unterscheidung in Top-down und Bottom-up, von Entscheidungsträgern als eine politische oder wirtschaftliche Elite auf der einen und den Bürgerinnen und Bürgern auf der anderen Seite nicht Teil einer alten Denkweise ist. Die Partizipation könnte diese Entkoppelung überbrücken. Eigentlich geht es doch darum, die Verantwortungskraft und die schöpferische Kraft aller Menschen zu aktivieren.

Scharmer: Ja, dem würde ich zustimmen. Wir brauchen die Innovation an den Rändern, denn es gibt eine enorme Innovationskraft am Rand eines Systems. Dieses Potential wird zu wenig beachtet und wir brauchen neue Institutionen und Prozesse, die diese Innovationskraft in die Gesellschaft und in die Institutionen bringen können. Das, was aus der Zivilgesellschaft kommt, kann auch problematisch seine, siehe Politiker wie Bolsonaro und deren Unterstützer.

Das ganze Gerede von einem Kampf gegen das System ist letztendlich auch nur eine Abstraktion. Ich habe in meiner Arbeit mit vielen Entscheidungsträgern zu tun. Früher hätte ich vielleicht gedacht: Es gibt Menschen, die wollen das System transformieren, und die anderen sind die Profiteure des alten Systems. Aber ich habe gelernt, wie falsch das eigentlich ist.

Welche Erfahrungen haben Sie in Ihrer Arbeit mit Entscheidern gemacht?

Scharmer: Wenn ich Kurse für Entscheidungsträger gebe, dann bitte ich sie, jede Woche einen Aufsatz über ihren eigenen Veränderungsprozess zu schreiben. Das gibt mir dann wiederum einen Einblick in ihr Denken, in ihre Seelen. Ich sehe dann, dass diejenigen, die institutionell in den Top-Entscheidungspositionen landen, und diejenigen, die draußen gegen die Institutionen protestieren, gar nicht so verschieden sind. Sie haben die gleichen Wünsche. Sie sind vielleicht in andere Verhältnisse hineingeboren und haben an gewissen Weggabelungen eine andere Wahl getroffen. Aber die Konstitution ist die Gleiche.

Otto Scharmer erklärt die Theorie U, Foto: www.presencing.org

Es gibt also ein riesiges Potenzial von Menschen innerhalb der Institutionen, die sich eigentlich auch als Opfer der Verhältnisse fühlen. Obwohl sie von außen gesehen sehr erfolgreich aussehen mögen, tragen sie in sich ein ganz anderes inneres Bestreben. Das sieht man auch daran, wie viele Leute in die innere Emigration gehen oder ganz aussteigen.

Betrifft das nicht nur eine Minderheit der Führungskräfte?

Scharmer: Es gibt natürlich Leute wie die Manager von Lehman Brothers, die mit Milliarden von Dark Money und Korruption die Institute aufgebaut haben, die den Klimawandel leugnen. Aber diese sehe ich eher als eine Minderheit. Die meisten Führungskräfte haben die gleichen Widersprüche und Wünsche wie die Aktivisten. Hier ist die Schnittmenge viel größer, als ich es mir vor einigen Jahrzehnten noch vorgestellt habe. Die abstrakte Gegenüberstellung hilft gar nicht.

Wenn Systeme zusammenbrechen, bleiben die Beziehungen.

Was wäre die Alternative zu dieser Polarisierung?

Scharmer: Wir leben im Zeitalter des Kollapses, wo etwas Altes, das nicht mehr funktionsfähig ist, zusammenbricht. Sicher wird nicht alles von heute auf morgen kollabieren. Es werden auch nicht alle aufhören, davon zu profitieren.

Je mehr der Prozess fortschreiten wird, umso mehr werden die Menschen aufwachen, sowohl außerhalb als auch innerhalb der Institutionen. Wenn sich diese Bruchlinien zunehmend auftun, können wir neue Bündnisse und Verbindungen schaffen, denn es wird nur gemeinsam weitergehen.

Was bleibt, wenn Systeme zusammenbrechen, sind unsere Beziehungen, die wir miteinander, mit unserem Planeten, mit der Natur und mit uns selbst pflegen. Und diese Beziehungen können wir jetzt schon kultivieren. Dabei geht es im Kern darum, neue schöpferische soziale Felder zu generieren.

Deshalb erforsche ich soziale Felder und vor allem Beziehungsqualitäten, durch die wir soziale Kooperationsfelder aktivieren und kultivieren können, die generativ und regenerativ sind. Auf diese Weise können wir unsere Innovationsprozesse auf eine neue Stufe heben.

Der Zusammenbruch, den wir erleben, führt zur Suche nach neuen Lösungen.

Wie können solche sozialen Felder entwickelt werden?

Scharmer: Oft erleben wir toxische soziale Felder, in denen Exklusion wirkt und Strukturen entstehen, die letztendlich in struktureller Gewalt gegenüber all denjenigen enden, die aus dem inneren Zirkel ausgeschlossen sind. Deshalb ist die Transformation der sozialen Felder so wichtig.

Wir organisieren ja hier am MIT in Boston das u.lab. In den letzten acht Jahren hatten wir über 260.000 Teilnehmende. Was wir da gelernt haben, ist, den Anfang eines Veränderungsprozesses neu wertzuschätzen. Der Anfang ist klein, so als würde man einen Samen legen.

Beispielsweise treffen sich vier, fünf Leute im u.lab , das dann als eine Art experimentelles soziales Feld dient, aber gleichzeitig Teil eines globalen Netzwerks ist. In solchen Gruppen wird die Substanz gebildet, die wir brauchen, um zivilisatorische und ökonomische Prozesse neu zu denken.

Wir schaffen zwei Verbindungen: das kleines soziale Feld, in dem ich wirksam bin, und das global Feld, das die gesellschaftliche Transformation zum Ziel hat.

Darüber hinaus sind neue politische oder demokratische Entscheidungsprozesse und neue Bildungs- und Führungsstrukturen notwendig, die aus einem gemeinsamen Bewusstsein schöpfen. In diesem Bereich gibt es Fortschritte, weil der Zusammenbruch, den wir erleben, zur Suche nach neuen Lösungen führt.

Deshalb ist es so wichtig, die sozialen Kompetenzen, die mit dieser gemeinsamen Führungsfähigkeit zu tun haben, weiterzuentwickeln. Wenn wir dabei proaktiv sind, kann der äußere Zusammenbruch vielleicht nicht verhindert, aber in seinen Folgen abgemildert werden.

Um was es mir wirklich geht: unsere Transformationskompetenz zu steigern. Wir müssen allen den Zugang zu den neuen Ressourcen ermöglichen, durch die dieser innere und äußere Umschwung kultiviert werden kann. Der Zugang zu solchen Kompetenzen muss demokratisiert werden.

Lesen Sie den 1. Teil des Interviews “Mehr auf das antworten, was uns aus der Zukunft entgegen kommt”

Foto: privat

Otto Scharmer ist Senior Lecturer am Massachusetts Institute of Technology, MIT, und Gründer des Presencing Instituts und der u-school for Transformation. Mitbegründer des MITx u-lab, das ein Netzwerk des transformatorischen Wandels mit mehr als 200.000 Nutzern aus 185 Ländern aktiviert hat.

Gemeinsam mit seinem Team hat Scharmer ein globales Action Learning Lab für Hunderte von Entscheidungsträgern in UN-Organisationen sowie Leadership Labs für die Nachhaltigkeitsziele der UNO in 25 Ländern ins Leben gerufen. Sein jüngstes Buch, “Essentials der Theorie U: Grundprinzipien und Anwendungen”, Carl Auer-Verlag 2022, fasst die Kernprinzipien und Anwendungen des bewusstseinsbasierten Systemwandels zusammen.

Mitglied des “UN Learning Advisory Council for the 2030 Agenda”, des World Future Council und der High-Level 21st Century Transformational Economics Commission des Club of Rome. Ausgezeichnet mit dem Jamieson Prize for Teaching Excellence des MIT und dem European Leonardo Corporate Learning Award. Im Jahr 2021 erhielt er den Elevating Humanity Award des Organizational Development Network. 

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