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„Wir sind blind für alternative Möglichkeiten, Frieden zu schaffen.“

Tom Ragina/ Shutterstock
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Interview mit Prof. Friedrich Glasl

In Politik und Medien ist die Diskussion über den Ukraine-Krieg geprägt von militärischen Überlegungen. Für Konfliktforscher Friedrich Glasl beruht Eskalation fast immer auf Versäumnissen. Im Interview spricht er über Ansätze für einen Dialog, auch im Krieg, Informationslücken im Westen und warum es zum Wohle der Menschen wichtig ist, mit Diktatoren zu verhandeln.

 

Das Interview führte Birgit Stratmann

Frage: Sie sind Konfliktforscher und Mediator. Was ist die Quintessenz Ihrer Erfahrungen mit Konflikten auf internationaler Ebene? Sie waren in Krisengebieten tätig, auch für die OSZE.

Glasl: Sie fangen gleich mit der schwierigsten Frage an. Es klingt vielleicht banal, aber was wir in allen eskalierenden Konflikten sehen, ist: Es hätte nicht so weit kommen müssen. Meistens beruht die Eskalation auf Unterlassungen und Versäumnissen von „windows of opportunity“.

Entweder werden Gelegenheiten nicht genutzt, um noch ein Gespräch zu führen. Oder es unterbleiben Maßnahmen, die de-eskalieren könnten. Dann gibt es seinen Sog, der immer tiefer in den Konflikt hineinzieht. Man macht mehr vom Selben, z.B. „Wie du mir, so ich dir“.

Sie fordern in Ihrem „Aufruf zum Beenden des Ukraine-Krieges“ Initiativen für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen. Fast alle anderen fordern, mehr Waffen zu liefern. Woher rührt Ihre gegenteilige Auffassung?

Glasl: Erstens aus meiner inneren Haltung. Ich fühle mich der Gewaltlosigkeit verpflichtet. Ich habe in Österreich aus Gewissensgründen 1959 den Wehrdienst verweigert und mich in der Friedensbewegung engagiert. Dann habe ich Politikwissenschaften mit dem Schwerpunkt internationale Beziehungen sowie Psychologie studiert und meine Doktorarbeit zur Kriegsverhütung geschrieben.

Das andere ist: Es gibt kein einziges Beispiel dafür, dass man durch Hochrüsten Kriege verhindert hätte. Im Gegenteil! Erst werden die Rüstungsetats erhöht, die einen rüsten auf, die anderen ziehen nach, und so dreht sich die Rüstungsspirale hoch. Dann werden Waffen gekauft und irgendwann kommen diese zum Einsatz. Krieg wird damit eher wahrscheinlicher. Das traf deutlich zu auf beide Weltkriege.

Aber wenn die Gewalt erst einmal ausgebrochen ist, wird es schwierig, sie gewaltlos zu stoppen, oder?

Glasl: Wenn die Gewalt eskaliert ist, braucht man starke Mittel, z.B. wirtschaftlich, diplomatisch – und ich meine nicht das Appeasement -, um den Konflikt zu lösen. Nehmen wir als Beispiel den Terror des IS.

Wenn sich alle muslimischen Ländern einig wären, dass der IS den Islam missbraucht und ihn nicht unterstützen, d.h. keine Waffen liefern, kein Öl abnehmen, das sie durch ihre Eroberungen in Besitz genommen haben, dann wäre der IS bald „ausgehungert“.

Zuerst muss man versuchen, darüber zu sprechen, was auf keinen Fall passieren darf.

Sie haben ein Eskalationsmodell* publiziert, das neun Stufen eines Konflikts beschreibt. Auf welcher Stufe der Eskalation befinden wir uns aktuell im Ukraine-Krieg?

Glasl: Wir befinden uns derzeit (Anfang Mai 2022) auf Stufe 8, es geht Russland um „die Zersplitterung des feindlichen Systems“. Russland zerstört gezielt die Infrastruktur, die Versorgung mit Strom Wasser und Nahrungsmitteln in Gebieten der Ukraine. Ohne diese kann das Land nicht überleben.

Sie sind für einen Dialog, egal ob mit Putin oder den Taliban. Wie kann man mit Menschen in Dialog gehen, die gewalttätig sind und kein Interesse an einem Dialog haben?

Glasl: Zuerst muss ich mich auf die Suche nach einem „Konsens über die unerwünschte Zukunft“ begeben, wie ich es nenne, also etwas, von dem alle Seiten meinen, dass es auf keinen Fall passieren darf. Damit habe ich z.B. in der Mediation zwischen Serben und Kroaten nach dem Jugoslawienkrieg in Ost-Slawonien und in Nordirland gearbeitet.

Wo finde ich etwas, das beide Parteien auf keinen Fall wollen. Im Fall von Russland könnte dies sein, dass die russische Wirtschaft irreparabel zerstört, dass das russische Volk ausbluten oder Russland sich international total isolieren würde. Ich gehe davon aus, dass Putin das nicht wirklich will und er kein Psychopath ist. Dafür hat er m.E. noch zu viel Kalkül.

Muss man die Emotionen dann ausklammern?

Glasl: Nein, im Gegenteil, genau an diesem Punkt sind Emotionen wichtig. Die Vorstellung, dass Russland international geächtet wäre, müsste auch die russische Führung schmerzen. Und das öffnet die Tür einen kleinen Spalt für Gespräche.

Prof. Friedrich Glasl im Gespräch mit Ethik heute

Wir wissen, dass Putin sich ab einem bestimmten Zeitpunkt der Idee von Eurasien verschrieben hat, die Hinwendung nach Osten. Ein Grund ist, dass der Westen, vor allem die USA, Russland nicht als Teil von Europa sehen.

Als ich in Russland tätig war, wurde bei Gesprächen an der Universität oft Putins Eurasien-Konzept angeführt. Wenn dies aber durch Putins Krieg in der Ukraine versperrt würde, z.B. weil China sich mehr distanziert, dann darf das aus Sicht Putins auf keinen Fall passieren.

Russland kann nicht allein in der Welt bestehen, es braucht die Verbindungen. Und das ist ein Kalkül. So lange Menschen noch abwägen können, kann man mit ihnen reden. Ich würde nichts unversucht lassen, um auch mit Personen, die eine Gewaltherrschaft ausüben, auf eine Begrenzung der Gewalt hinzuwirken.

Es gibt Lücken in der westlichen Darstellung der Ereignisse.

Und was wäre das Schlimmste für den Westen?

Glasl: Hier wäre das Schlimmste, was passieren könnte, wenn die NATO militärisch in den Konflikt involviert würde oder wenn es atomare Schläge in Europa und irgendwo in der Welt gäbe.

Im Moment hört man überall, Putin sei ein Psychopath, mit dem man eben nicht reden darf.

Glasl: Das ist charakteristisch für Eskalationsstufe 5 „Dämonisierung“. Wenn Joe Biden Putin als „Schlächter“ bezeichnet, so ist das psychologische Kriegführung. Selbst wenn er Recht hätte, so verhindert man mit dieser Aussage die Chance auf Frieden.

Im Übrigen: Wir nehmen auch Kriegsverbrecher auf der westlichen Seite ernst, denken Sie nur an die Greueltaten der USA im Irak-Krieg und in Guantanamo. Wir haben trotzdem mit der amerikanischen Regierung geredet, und das ist auch richtig so, wenn wir Verbesserungen bewirken wollen.

Wir sollten uns sehr in Acht nehmen und die psychologische Kriegführung durchschauen, die zurzeit auf beiden Seiten stattfindet.

Sie beklagen „blinde Flecken“ in der westlichen Berichterstattung zum Urkaine-Krieg.

Glasl: Es gibt hier Informationslücken zu Fakten, die in den westlichen Medien nicht zu finden sind, etwa in Bezug auf die Krim. Bei der Auflösung der Sowjetunion 1991 erklärte sich die Krim, noch vor der Ukraine, für souverän. Sie gab sich eine eigene Verfassung und verankerte gesetzlich drei Sprachen als Landessprachen: Krim-Tatarisch, Russisch und Ukrainisch.

2013/14 wurde die kulturelle und sprachliche Autonomie der Krim von der Ukraine nicht anerkannt. Das Russische wurde als Amtssprache verboten, entgegen der Verfassung.

Wussten Sie, dass Präsident Selenskyi am 25. März 2021 den Auftrag zur militärischen Rückeroberung der Krim gab? Das Dekret von Selenskyi kann man nachlesen. Selenskyi hat deshalb alle ukrainischen Truppen im Donbas gesammelt, offiziell um den Separatisten etwas entgegenzusetzen. Nicht zuletzt deshalb traf die russische Armee 2022 im Norden kaum auf Widerstand, denn fast alle ukrainischen Truppen befanden sich im Südosten.

Ein weiterer blinder Fleck: 2021 gab es NATO-Manöver im Schwarzen Meer, abgestimmt mit Selenskyi. Wenn dieser auf dem Landweg zur Krim vorrückt, könnte vom Meer aus Schutz gegeben werden. Es kam nicht so weit, dass die NATO involviert würde, aber es war brenzlig.

Die Verantwortung für den Krieg in der Ukraine liegt allein bei der russischen Regierung.

Selbst wenn es eine Vorgeschichte gibt, kann man aber Putin nicht aus der Verantwortung nehmen für die Gewalt gegen die Ukraine heute.

Glasl: Präsident Putin ist verantwortlich für die Invasion in die Ukraine und die Gewalt, die die russische Armee verübt. Die Vorgeschichte – „es hätte nicht so weit kommen müssen“ – besagt, dass es vielleicht anders gekommen wäre, hätte man die Warnsignale ernst genommen und frühzeitig Gespräche geführt.

Laut den Abkommen von KSE 1990 sollten die Länder bei der NATO-Osterweiterung selbst entscheiden könnten, wem sie sich anschließen. Russland akzeptierte die Mitgliedschaft der baltischen Staaten, solange seine Sicherheitsinteressen berücksichtigt würden.

Dann begann der Westen, an den Grenzen Litauens, Estlands und Lettlands zu Russland Abschussrampen für Raketen mit Atomwaffen aufzustellen, und erklärte, das sei gegen den Iran gerichtet. Allerdings hätte man den Iran von anderen Stellen Europas besser in Schach halten können.

Sie empfinden also die Politik der NATO auch als aggressiv?

Glasl: Ja, das heißt aber nicht, dass die NATO für die Kriegführung Russlands jetzt verantwortlich ist, weder militärisch noch völkerrechtlich. Diese Verantwortung liegt eindeutig bei der russischen Führung.

Jetzt ist die Zeit der Falken.

Sind Sie als Konfliktforscher nicht der Meinung, dass sich ein Land mit Waffen verteidigen muss, wenn es angegriffen und in seiner Existenz bedroht ist?

Glasl: Völkerrechtlich ist es das Recht von Staaten, ihr eigenes Gebiet gegen militärische Aggressionen mit Waffen zu verteidigen. Das ist ganz klar. Auf der anderen Seite haben wir viele Erfahrungen, wie man auch mit gewaltfreien Methoden Gewaltinterventionen abwenden kann.

Denken wir an den Prager Frühling. Als die russischen Panzer kamen, überreichten die Tschechen den Soldaten Blumen. Sie montierten die Straßenschilder ab, so dass die Truppen sich nicht mehr orientieren konnten. Es hätte so wie in Ungarn Gewalt geben können, aber hier setzte man auf gewaltfreien Widerstand. Und auch das führte zu Gesprächen und Lösungen.

Aber würde sich die Strategie der Gewaltlosigkeit wirklich im größeren Stil machen lassen – angesichts der Übermacht und Brutalität des russischen Militärs?

Glasl: Die Bedingung wäre, dass man gewaltlose Mittel genau so eingeübt hat wie die militärische Verteidigung. Denn wenn bei gewaltlosen Aktionen etwas schief geht, dann sind die Konsequenzen dramatisch. Es gibt auch an manchen Orten in der Ukraine Beispiele, wie mit gewaltfreien Methoden erfolgreich dem Gewalthandeln russischer Soldaten begegnet wurde, die Prof. Wintersteiner publiziert hat.

Man sieht allerdings kaum Menschen, die heute auf Gewaltlosigkeit setzen. Und auch in der Politik scheint das Wissen um die Eskalation von Konflikten und wie man sie frühzeitig entschärfen kann, nicht angewendet zu werden.

Glasl: Ja, wenn es darauf ankommt, wird all das Wissen nicht beachtet. Jetzt ist die Zeit der Falken. Würden Politiker sich nicht nur von Militärs beraten lassen, sondern auch von Experten auf dem Gebiet des gewaltfreien Widerstands und politischer Prozesse, wären ganz andere Dinge möglich.

Im Moment agiert man primär aus Reflexen heraus. Man sieht die Gewalt und denkt sofort ausschließlich an Waffen. Es sind Affekthandlungen, aus Angst heraus. Ich kann das verstehen, aber es ist nicht rational. Da mögen Politiker und Medien noch so sehr darauf pochen. Man steckt sich gegenseitig an und wird blind für alternative Möglichkeiten, Frieden zu schaffen.

Die Millionen Menschen sind es mir wert, dass ich immer wieder alles unternehme, um die Gewalt zu stoppen.

Was braucht man, um den Konflikt jetzt zu lösen?

Glasl: Zuerst brauchen wir eine Waffenruhe, dann muss ein Waffenstillstand ausgehandelt werden. Jetzt ist die Zeit der neutralen und bündnisfreien Staaten. Man darf das Feld nicht den Parteien überlassen, die sich bewaffnen und aufrüsten.

Wir müssen die Stimme der Vernunft reinbringen, z.B. über Schweiz, Österreich, Schweden und Finnland. Es wäre so ein wichtiges symbolisches Zeichen, wenn die Ministerpräsidentin von Finnland das Gespräch mit Russland suchte. Sie könnte verständlich machen, dass sie nicht am Aufrüsten auf beiden Seiten der Grenze interessiert ist, sondern an einer vertrauensvollen Nachbarschaft – statt einen NATO-Beitritt voranzutreiben.

Der Besuch des österreichischen Kanzlers im April 2022 in Kiew und Moskau wurde in den Medien mit Häme kommentiert, weil er erfolglos war. Ich sehe es so: Wir dürfen nichts unversucht lassen, den Gesprächsfaden mit Moskau zu halten. Taktieren, Eitelkeiten und Stolz nützen in dieser Situation gar nichts, nach dem Motto. „Ich bin abgeblitzt, ich lasse mich nicht ein zweites Mal vorführen“. Nein! Die vielen Millionen Menschen sind es mir wert, dass ich immer wieder alles unternehme, um die Gewalt zu stoppen.

Auch China, Türkei, Iran sollten nicht zu Feinden Russlands werden, sondern Gesprächsbeziehungen offen halten. Nur dadurch kann man Einfluss ausüben.

Wie können Sie so ruhig und gelassen bleiben und so unbeirrbar in Ihrem Festhalten an Gewaltlosigkeit?

Glasl: Gelassen bin ich gar nicht. Ich rege mich enorm auf und habe keine ruhige Minute mehr. Täglich führe ich Gespräche, auch mit Leuten aus der Politik. All das ist ungeheuer aufreibend.

Aber ich bleibe dabei: Schauen wir uns die Situation genau an, damit wir nicht hereinfallen auf die psychologische Kriegführung von Ost und West. Wir befinden uns im Teufelskreis von Gewalt und gewaltsamer Gegenreaktion, „Wie du mir, so ich dir“, getrieben von Emotionen.

Politische Entscheider sind dem ausgeliefert, und die Medien und sozialen Medien heizen die Stimmung weiter an. Und wehe, wenn sich eine kritische Stimme erhebt, dann wird sofort mit dem Schimpfwort „Putinversteher“ zugeschlagen; das habe ich selbst auch zu hören bekommen.

Ich finde das einen grotesken Vorwurf: Wie können wir jemandem vorwerfen, einen anderen zu verstehen? Wenn ich mit Präsident Putin irgendwann verhandeln will, muss ich ihn zuerst einmal verstehen. Und ich will Putin verstehen, ohne mit ihm einverstanden zu sein. Verständnis und Einverständnis sind zwei ganz verschiedene Dinge.

Irgendwann werden die Waffen schweigen und die starken Emotionen verrauchen. Dann muss man wieder zur Vernunft zurückkehren, muss langfristig und in komplexen Zusammenhänge denken, um einen Friedensvereinbarung auszuhandeln. Warum nicht schon jetzt damit beginnen?

Friedrich Glasl ist Konfliktforscher und Organisationsbereater. Er hat ein Eskalationsmodell für Konflikte erklärt und ist international als Mediator tätig. Er hat die Trigon-Entwicklungsberatung mitgegründet.

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