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„Wir sollten die Achtsamkeit mehr in Beziehung bringen.“

Anna Vander-Stel/ Unsplash
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Interview mit Dr. Michael Huppertz

Die Achtsamkeit weiterentwickeln und an unsere Zeit anpassen, das ist das Anliegen von Dr. Michael Huppertz, Psychiater und Achtsamkeitslehrer. Die Praxis sei zwar hilfreich für den Alltag und die mentale Gesundheit, aber zu sehr auf das Individuum fixiert. Notwendig sei es, Achtsamkeit in die Beziehung zu anderen, zur Natur und Gesellschaft zu bringen.

Das Gespräch führte Birgit Stratmann

Frage: Meditation und Achtsamkeit liegen im Trend. Gleichzeitig gibt es viele Missverständnisse und auch Kritik. Lassen Sie uns erst mal den Begriff klären Was ist Meditation und welche Formen gibt es?

Huppertz: Es gibt eine Inflation des Begriffs Meditation, hier wird kaum differenziert. Meditation ist aus meiner Sicht immer Teil einer spirituellen Suche. Meditation bedeutet, dass man sich auf existenzielle Grundfragen besinnt, etwa Leben und Tod, Sinn des Lebens und durch eine Übungspraxis seine Existenzweise verändert. Achtsamkeit ist eine Haltung und eine Praxis, in der man versucht, in der Gegenwart absichtslos präsent zu sein, bewusst wahrzunehmen, zu spüren, zu fühlen.

Achtsamkeit war ja einmal Teil der spirituellen Suche, etwa im Buddhismus. Heute wird sie in säkulare Kontexte gesetzt. Verstehen Sie Achtsamkeit nicht als eine Form der Meditation?

Huppertz: Die Achtsamkeit ist im säkulären Zusammenhang ein Mittel, das zu einem gelingenden Leben beiträgt. Außerdem hat sie ein wichtige Funktion im Rahmen von Therapien. Das geht alles ohne spirituelle Anliegen.

Natürlich kann Achtsamkeit mehr und man kann sie als Teil eines spirituellen Weges und als Meditation üben. Eigentlich schöpft man die Potenziale der Achtsamkeit nicht aus, wenn man sie nur als Technik nutzt, um sein Leben zu verbessern oder die mentale Gesundheit zu stärken. Es ist natürlich trotzdem legitim.

Sie differenzieren also zwischen Meditation und Achtsamkeit. Wie würden Sie den Nutzen beider beschreiben?

Huppertz: Der Nutzen von Achtsamkeit ist, in die Gegenwart zu kommen, Grübeln zu überwinden, sich weniger Sorgen über die Zukunft zu machen und Gewohnheiten abzulegen. Ich bin mehr bei dem, was ich gerade tue, habe einen besseren Kontakt zu den Menschen, der Umwelt. Und das ist natürlich hilfreich für mein Leben. Wenn diese Erfahrungen eine bestimmte Intensität bekommen, dann entsteht ein umfassendes Gefühl, bestehend aus Dankbarkeit, Vertrauen, Verbundenheit und Daseinsfreude.

Der Nutzen der Meditation, so wie ich sie verstehe, besteht in der Erweiterung des existenziellen Horizonts, z.B. sich selbst weniger wichtig zu nehmen, und gelassener mit existenziellen Herausforderungen umzugehen.

Wer häufiger achtsam ist, beugt Depressionen vor.

Achtsamkeit hilft also, die mentale Gesundheit zu stärken?

Huppertz: Achtsamkeit hat ein großes Potenzial für die Prävention psychischer Erkrankungen und für die Therapie. Wir nutzen Achtsamkeit mit Patienten, die unter Depressionen oder Borderline-Störungen leiden, sogar bei Psychosen. Die Achtsamkeit als ein therapeutisches Instrument hilft den Betroffenen, selbstwirksam zu sein.

Nehmen wir Stress, Anspannung, Angst. Wenn man darunter leidet, ist man häufig nicht in der Gegenwart, sondern in der Vorstellung. Mit Hilfe der Achtsamkeit können Sie innerhalb einer Minute wieder in die Gegenwart kommen.

Ein Mittel dafür wäre, das Bewusstsein auf drei sichtbare Dinge, drei Geräusche und drei Tastempfindungen zu lenken. Sobald Sie wieder in der Gegenwart sind, nehmen Grübeln und Angst ab. Wer häufiger achtsam ist, beugt Depressionen vor.

Auch bei Angststörungen, also beim Leiden an ünbegründeten, irrationalen Ängsten, leben Menschen zu sehr in ihren Fantasien. Es ist hilfreich, wenn sie lernen, mehr in der Wirklichkeit verankert zu sein. Besser, sie gehen achtsam die Treppe hinunter, statt sich zu überlegen, was ihnen alles zustoßen könnte.

Im Vergleich dazu wäre Meditation, wie Sie sie verstehen, aber nicht für psychisch Kranke geeignet, oder?

Huppertz: Nein, Meditation ist nicht für jeden geeignet. Sie dauert in der Regel auch nicht zwei oder drei Minuten, sondern besteht aus kontinuierlichen, länger andauernden Übungene. Meditation kann für manche Menschen schädlich sein.

Anfang Oktober 2023 gab es eine Titel-Geschichte im Spiegel über die Schattenseiten der Meditation, wobei es vor allem um Achtsamkeit ging; das wurde aber nicht differenziert. Ein Kritikpunkt war, dass Achtsamkeit schädlich sei für psychisch vorbelasteten Menschen oder jene mit Psychosen oder Traumata.

Huppertz: Achtsamkeit ist grundsätzlich für alle Menschen geeignet, aber bei Menschen mit psychischen Belastungen und Erkrankungen sollte sie auf ihre Situation angepasst werden. Es gibt keinen Grund, Menschen mit Psychosen von Achtsamkeit auszuschließen – unter der Bedingung, dass man die Praxis anpasst und dass man in akuten Zuständen besondere Vorsicht walten lässt.

Es wurden und werden international Programme für bestimmte Krankheitsbilder entwickelt, für Depressionen, Borderline-Störungen, Angst- und Suchtpatienten, auch für Menschen mit Psychosen. Wir arbeiten auch an solchen Programmen.

Die Achtsamkeit für Menschen mit Psychosen sollte zunächst kurz, fokussiert und nicht nach innen gerichtet sein. Meditations-Retreats, bei denen man lange Zeit die Augen schließt, wenig schläft und den ganzen Tag schweigt, sind für sie nicht sinnvoll.

Achtsamkeitskurse betonen zu sehr die introvertierte Praxis, statt die Beziehungen zu unserer Umwelt und Mitwelt.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, Meditation bzw. Achtsamkeit fördere die Selbstbezogenheit.

Huppertz: Die Sorge, dass Achtsamkeit die Selbstbezogenheit verstärkt, teile ich. Die Motivation, zu einem Achtsamkeitskurs zu gehen, ist oft, dass man bei sich selbst ankommen, sich mehr spüren, zur Ruhe kommen möchte. Oft kommen aber Menschen, die sich ohnehin schon sehr um sich selbst kümmern, die Yoga üben oder Therapie gemacht haben. Achtsamkeit ist auch Teil des Zeitgeistes, sich immer weiter zu optimieren.

Meine Kritik ist auch, dass viele Achtsamkeitskurse die Achtsamkeit vor allem nach innen ausrichten, auf Gedanken, Körperempfindungen, den Atem. Sie vernachlässigen die Beziehung zu anderen Menschen, zu Dingen und zur Natur, die achtsame Kommunikation oder z. B. das achtsame Hören von Musik. Wir können uns auch in unseren vielfältigen Beziehungen spüren.

Wenn man die Achtsamkeit tiefer versteht, geht es ja eigentlich darum, das Ego zu überschreiten, indem man erkennt, wie sehr wir mit anderen, mit der Natur, der Erde verbunden sind.

Huppertz: Das stimmt, aber das müsste dann wirklich Teil der Praxis sein. Im Zen gibt es z.B. in dieser Hinsicht deutliche Unterschiede. Es gibt Lehrende, die sehr introvertiert sind und Meditation als Rückzug oder Gewahrseins einer tiefen Wahrheit im eigenen Selbst vermitteln. Andererseits gibt es die Zen-Künste, also Kampfkunst, Kalligrafie, Gartengestaltung, die mehr nach außen gerichtet sind. Aber eigentlich geht es um alle drei Dimensionen: Achtsamkeit nach außen, nach innen und auf das Zwischen.

Dann gibt es den Vorwurf des Eskapismus, also dass man sich von seinem Umfeld, von der Gesellschaft isoliert?

Huppertz: Ja, es ist ein Thema in der Achtsamkeitsszene. Aber hier wird die Achtsamkeit falsch verstanden. Der Fehler ist, dass wir die Achtsamkeit als ein altes, statisches Konzept verstehen. Unsere Aufgabe heute wäre es, darüber nachzudenken, wie wir die Achtsamkeit weiterentwickeln und an die Gegenwart anpassen können.

Dann könnten wir sehen, dass bestimmte Dinge heute nicht mehr vertretbar sind, weil sie philosophisch, ethisch und anthropologisch nicht zu halten sind. Der Mensch kann sich nicht aus der Welt zurückziehen. Wir sollten mehr in der modernen Achtsamkeitspraxis von der, durchaus auch konflikthaften, Vernetzung mit Dingen, Natur und anderen Menschen her denken, also ein aktuelles Menschenbild zugrunde legen. Einfach nur das zu wiederholen, was im Buddhismus oder Hinduismus getan und gelehrt wurde, ist ein Holzweg. Lassen Sie uns die Achtsamkeit weiterentwickeln für die Welt von heute.

Auch im Westen gibt es eine Achtsamkeitstradition. Sie ist dialogisch ausgerichtet.

Würde es auch bedeuten, die Achtsamkeit mehr mit dem Handeln zu verbinden?

Huppertz: Ja, Menschen vermeiden es manchmal, Entscheidungen zu treffen und etwas zu tun. Achtsamkeit, falsch verstanden, erlaubt es ihnen, sich zurückzuziehen, nach dem Motto: Erst muss ich meditieren, dann kommt alles andere.

Im Übrigen komme ich nicht nur über Achtsamkeit mit mir in Kontakt, sondern auch über Begegnungen. Wir haben das alles in unserer westlichen Ideengeschichte, zum Beispiel mit Henry David Thoreau, Martin Buber, Viktor Frankl oder Charlotte Selver. Wenn man sie aufmerksam liest, kann man sie als extrovertierte, weltbezogene Achtsamkeitstheortiker:innen bezeichnen. Die Idee ist, wir lassen uns auch von außen ansprechen. Wir sehen uns als Individuen, die jeweils vor einem eigenen Hintergrund unterschiedliche Perspektiven einnehmen und eigene Wege gehen. Und wir kommen miteinander in ein offenes Gespräch Das alles sind Elemente einer westlichen Tradition der Achtsamkeit.

Die ethische Dimension der Achtsamkeit wird vielfach ausgeklammert. Der Fokus liegt auf der Selbsterfahrung, sie ist sozusagen eine Privatangelegenheit. Was wäre die ethische Bedeutung der Achtsamkeit?

Huppertz: Ich denke, die Haltung der Achtsamkeit kann zwei wichtige Aspekte zur ethischen Diskussion beitragen: Erstens kann sie die Erfahrung von Eigenwerten vermitteln oder stärken.

„Eigenwerte“ bedeutet, dass Objekte, Menschen, Naturelemente uns am Herzen liegen, obwohl sie keine Funktion haben. Sie haben keinen Gebrauchs- oder Tauschwert, sondern einfach nur das, was sie sind. Wir begegnen ihnen absichtslos. Wir erleben unsere Kinder, Freunde oder Kunstwerke nicht als austauschbar oder primär nützlich. Auch der Natur könnten wir so begegnen, jedenfalls teilweise.

Zweitens kann Achtsamkeit dazu führen, dass wir uns selbst nicht als Nabel der Welt erleben, sondern als Teil umfassenderer Situationen und Systeme, in denen wir natürlich als Menschen auch eigene Interessen vertreten dürfen. Aber unser Horizont kann durch die absichtslose Haltung der Achtsamkeit viel weiter werden als er es oft wird – sozial, räumlich, zeitlich. Das kann im historischen Maßstab die Ökozentrik fördern, im Alltag Fairness und Großzügigkeit.

Foto: privat

Michael Huppertz, Dr. phil. Dipl. Soz., Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Studium der Soziologie, Philosophie und Medizin. Verschiedene psychotherapeutische Ausbildungen, seit 1997 Arbeit mit achtsamkeitsbasierter Psychotherapie. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Achtsamkeit, Ethik, Global Mental Health. www.mihuppertz.de

 

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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