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“Wir weigern uns, Feinde zu sein”

Foto: Zang
Straßensperre im Westjordanland behindern die Palästinenser |
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Bericht aus dem Westjordanland

In einem Teil des Westjordanlands hat Israel die Kontrolle. Das bekommt auch der palästinensische Christ Daoud Nassar zu spüren, dessen Familie seit Generationen hier lebt. Er kämpft friedlich für die Rechte der Palästinenser und hat allen Hindernissen zum Trotz das Projekt “Zelt der Völker” ins Leben gerufen, um christliche Werte zu vermitteln.

Wir fahren aus Jerusalem heraus Richtung Süden, durch das besetzte Westjordanland auf der einst für jüdische Siedler gebauten Straße 60. Linker Hand ist Bethlehem mit dem Nachbarort Beit Jala zu sehen – hinter einer grauen neun Meter hohen Mauer. Wir wollen den palästinensischen Christen Daoud Nassar besuchen, der im Westjordanland lebt.

Nach einer Viertelstunde Fahrzeit muss man parken, denn Hindernisse aus Felsblöcken und Geröll, die das israelische Militär errichtet hat, lassen sich nur zu Fuß überwinden. Die israelische Regierung hat hier einem Friedensstifter buchstäblich Steine in den Weg gelegt.

Ein Blick zurück: Infolge der zwei Oslo-Abkommen Mitte der 1990er Jahre zwischen der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO und Israel wurde das Westjordanland – etwa so groß wie Unterfranken – in drei Zonen aufgeteilt: A, B und C. In letzterer – nach manchen Quellen 59, nach anderen 62 Prozent der Fläche – hat allein Israel das Sagen, sowohl in zivilen Angelegenheiten (z. B. Bebauung) als auch die Sicherheit betreffenden.

In dieser Zone liegen alle israelischen Siedlungen, die By-Pass genannten Verbindungsstraßen dorthin sowie Israels Militärstützpunkte und Truppenübungsplätze, aber auch Naturschutzgebiete. Nach Schätzung der israelischen Menschenrechtsorganisation B´Tselem leben in diesem Gebiet jedoch auch 180.000 bis 300.000 Palästinenser. Einer von ihnen ist Daoud Nassar.

Israel übt Kontrolle in Teilen des Westjordanlands aus

Ende Juni 2023 vermeldete die Friedensorganisation Schalom achschav (Frieden jetzt), dass die ultrarechte Regierung im ersten Halbjahr 2023 Grünes Licht für 13.000 neue Wohneinheiten im West-Jordanland erteilt habe, was einen neuen „Rekord” darstelle.

Palästinenser des C-Gebietes dagegen erhalten, das haben verschiedene Untersuchungen gezeigt, so gut wie nie eine Baugenehmigung von israelischen Stellen. B´Tselem bringt es so auf den Punkt: „Israel behält sich die Kontrolle vor. In Missachtung palästinensischer Bedürfnisse verbietet Israel praktisch jegliche palästinensische Bauvorhaben und Entwicklung.” Gleichzeitig drückten israelische Stellen ein Auge zu, wenn „Siedler Bauvorschriften verletzen.”

Dahoud Nassar kämpft gewaltlos für seine Rechte. Foto: Zang

Daoud Nassars Familie kann davon ein Lied singen, und das schon seit gut 20 Jahren. Die Nassars besitzen ein 42 HektarGrundstück, fünf Kilometer südwestlich von Bethlehem in Zone C, 950 Meter hoch gelegen, an Wintertagen sieht man das Mittelmeer.

Daouds Großvater Daher – deshalb auch Dahers Weinberg genannt kaufte das Land 1916, lebte in einer Höhle und pflanzte Bäume, Granatapfel, Mandel, Feigen, Oliven sowie Reben. 1990 war es mit der biblisch-pastoralen Idylle vorbei. Daoud Nassar erfuhr, dass das Gebiet zum israelischen Staatsland erklärt worden sei.

Binnen 45 Tagen könne er Widerspruch einlegen. „Wir sind die einzige Familie, die das getan hat”, erklärt der Palästinenser, der bis heute mit juristischen Mitteln für sein Recht kämpfen will, allen entmutigenden Erfahrungen zum Trotz.

Trotz Besatzungsalltag das Leben in die Hand nehmen

Seitdem gehen Nassar und seine Familie einen steinigen Weg. Nachweise, dass seine Vorfahren in osmanischer, britischer und jordanischer Zeit Steuern entrichteten, waren einmal der israelischen Militärbehörde vorzulegen. Doch dann boykottierte diese sein Anliegen mit neuen Anforderungen oder der Absage von Anhörungen.

Gewalt jüdischer Siedlerin der Region sorgte zudem für viele schlaflose Nächte. Einmal versuchten jüdische Siedler, eine Straße durch den Weinberg zu bauen, ein andermal rissen sie im Beisein internationaler Friedensaktivisten gerade gepflanzte Ölbäume aus. Gegenüber einem Siedler verwies Daoud auf seine Besitzurkunde aus osmanischer Zeit. Der Siedler hielt dagegen: „Wir haben Dokumente von Gott“ und meinte seine hebräische Bibel.

All diesen Widrigkeiten setzt Daoud Nassar Gewaltlosigkeit und Kreativität entgegen. 2001, mitten im zweiten Palästinenseraufstand haben er und seine Geschwister die Vision seines 1976 verstorbenen Vaters umgesetzt und das Zelt der Völker gegründet, ein internationaler Begegnungsort für Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen.

„Wir graben eine neue Zisterne, wenn wir frustriert sind”, sagt er. Es sind bis dato 23 Zisternen. Sein Credo lautet: „Wir weigern uns, Feinde zu sein!” Das sei „christlich-gewaltloser Widerstand.” Und: „Wir weigern uns, Opfer zu sein.“ Er möchte seinen Landsleuten vermitteln, dass sie trotz vieler Hürden eines Besatzungsalltags manches in die eigene Hand nehmen können.

Zelt der Völker: Glaube, Hoffnung, Liebe

An Sommerferienlagern nehmen bis zu 50 muslimische und christliche Kinder und Jugendliche aus dem Raum Bethlehem, auch aus nahe gelegenen Flüchtlingslagern, teil. Unterstützt von Freiwilligen aus aller Welt malen sie Bilder, lernen kreatives Schreiben, verzieren Mauern mit Mosaiken, erfahren etwas über Umwelterziehung und Umweltschutz oder studieren Musik- und Theaterstücke ein.

Foto: Zang

Das „Camp” genannte zweiwöchige Sommerprogramm „schafft ein unterhaltsames und sicheres Umfeld und soll den Kindern eine gewisse Freiheit und Ablenkung von ihrem Alltag bieten”, versichern Daoud Nassar und seine Mitstreiter.

Eine Pause von Politik, Besatzung und Alltag, denn dieser findet hinter Mauern und Kontrollpunkten statt, ist von Wasserknappheit und Bewegungseinschränkung gekennzeichnet und stets unberechenbar.

Daoud Nassar: „Wir wollen ihnen das Wissen an die Hand geben, dass sie mitwirken können an einer besseren Zukunft für Palästina.“

Doch die Auseinandersetzungen mit der israelischen Militärbehörde gehen weiter. Deren Abrissverfügungen gelten sogar Zelten, Ziegenunterständen, einer Wasserzisterne. Bis heute haben die Nassars über 50 Abrisserlasse oder Kultivierungsstoppbefehle erhalten, die juristischen Kosten nähern sich der 200.000 Euro-Grenze.

Einmal walzten israelische Bulldozer Weinstöcke und Aprikosenbäume nieder. Ein andermal händigten Offiziere dem Friedensvisionär neun Abrissverordnungen aus. „Strukturen” seien illegal gebaut worden. Dabei hatte sich Daoud Nassar um Baugenehmigungen bemüht, doch im C-Gebiet ist das nahezu aussichtslos.

Chris Gunness, Sprecher von UNRWA, dem UNO-Flüchtlingshilfswerk für Palästinenser, erklärt: „Israels Handhabung von Baugenehmigungen erlaubt Palästinensern, nur auf einem Prozent des C-Gebietes zu bauen. Das ist sehr unfair.”

Ein faires Zusammenleben kann möglich sein

Daoud Nassar, 53 und schon ein halbes Leben lang in Sachen Dialog engagiert, erklärt ohne Groll: „Wir dürfen auf unserem eigenen Land kein Haus bauen, kein Leitungswasser haben und keinen Strom.” Und bleibt seinen Werten treu: „Die Reise für Gerechtigkeit wird weitergehen mit Glaube, Hoffnung und  Liebe.”

Der Theologe und Religionslehrer Burkhard Fecher ist tief vom Zelt der Völker beeindruckt. Für ihn biete Nassar denen die Stirn, die mit Einschüchterungen versuchen, ihn kleinzukriegen. Mit seinem Bekenntnis Wir weigern uns, Feinde zu sein „verwirren Daoud, seine Mitarbeiter und Freunde die Spielregeln der Mächtigen und pflanzen mit jedem Ölbaum die Hoffnung, dass ein faires Zusammenleben von Juden und Palästinensern möglich ist.”

An der Straßensperre zum Versöhnungsprojekt hat sich Fecher zwei Steinchen mitgenommen, einen als Mahnung, Mauersteine zwischen Menschen abzutragen, den zweiten „als Mutmachsymbol, dass Beharrlichkeit und Kreativität, fester Glaube und Leidensfähigkeit nötig sind auf dem Weg zum Frieden.”

Darf Daoud Nassars Überzeugung – Zehntausenden von Besuchern wie Burkhard Fecher mitgegeben – wahr werden? „Sie wollen unsere Überzeugung kaputtmachen, aber wir sind entschlossen, uns zu widersetzen und das Böse mit dem Guten zu überwinden! Gerechtigkeit wird siegen!“, versichert der sympathische, stets sanft lächelnde Palästinenser.

Website Tent of Nations

Johannes Zang, Jg. 1964, hat fast zehn Jahre in Israel und Palästina gelebt. Er ist Autor, sein aktuelles Buch heißt “Erlebnisse im Heiligen Land”, erschienen 2021 bei Promedia Wien. Zang betreibt einmal pro Monat den Podcast Jeru-Salam. Das Zelt der Völker hat er Dutzende Male besucht und Vortragstouren von Daoud Nassar organisiert. 

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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