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„Wir werden tausendmal wieder versuchen, Frieden zu schaffen.“

Womewagepeace
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Interview mit der Friedensaktivistin Yael Treidel aus Israel

Die grausamen Angriffe der Hamas auf israelische Zivilisten haben das Land in Schock versetzt; alte Traumata sind aufgebrochen. Yael Treidel beschreibt die Situation in Israel; sie kennt selbst Menschen, die entführt wurden. Seit Jahren setzt sich Treidel für den Frieden ein und hält trotz allem an Aussöhnung mit den gemäßigten Palästinensern fest: „Es gibt keine echte Sicherheit, wenn es keinen Frieden gibt.“

 

Yael Treidel engagiert sich seit vielen Jahren in Israel für die Verständigung zwischen Juden und Palästinensern und für einen dauerhaften Frieden, etwa in der Frauenorganisation Womenwagepeace. Ihre Ansichten geben ihre eigenen Überlegungen wieder und repräsentieren nicht die Perspektive der Organisationen, mit denen sie zusammenarbeitet.

English version of the interview

Das Gespräch führte Mike Kauschke

Frage: Wie nehmen Sie die Stimmung in Israel unter den Menschen jetzt wahr?

Treidel: In der gesamten Bevölkerung herrscht tiefe Trauer und Schock. Einen solchen Anschlag hat es seit der Gründung Israels nicht gegeben. Solch ein Ereignis wühlt das kollektive Trauma unserer Nation auf. Es gibt viel Frustration über die Fehlfunktion des Staates, der in jeder Hinsicht versagt.

Zugleich tun die Menschen alles, um einander zu helfen. Sie organisieren sich, sie nehmen evakuierte Menschen aus dem Süden auf und versorgen sie. Therapeuten engagieren sich im ganzen Land, um traumatisierten Menschen zu helfen. Es gibt Restaurants, die täglich Tausende von warmen Mahlzeiten zubereiten, um sie an die Evakuierten und die Soldaten zu verteilen. Und Menschen finden auch zusammen in Organisationen, in denen Juden und Araber sich gegenseitig unterstützen.

Wie ist die Stimmung gegenüber den Arabern in Israel?

Treidel: Ich habe gestern mit einer arabischen Freundin gesprochen. Sie sagte: „Wir halten uns bedeckt und warten, bis die ganze Sache vorbei ist. Wenn ich auf Facebook schreibe, dass ich um die Kinder in Gaza trauere, kann ich meinen Job verlieren.“

Araber in Israel wurden entlassen, suspendiert oder zur Polizei gebracht, damit gegen sie ermittelt wird. In der allgemeinen Atmosphäre rufen viele zu Rache und zur Auslöschung des Gazastreifens auf. Diese Stimmung wird auch von der Regierung unterstützt.

Und es gibt diejenigen unter uns, die sagen: Viele der Opfer im Gazastreifen sind Zivilisten. Wir haben kein Mitgefühl mit den Hamas-Terroristen, aber sehr viel Mitgefühl mit den Menschen in Gaza. Sie leben seit Jahren in einer entsetzlichen Situation.

Es ist also gemischt. Wir sind mittendrin und niemand weiß, wie es ausgehen wird. Das ist für mich besonders beängstigend. Dieser Krieg kann sehr lange andauern, und ich weiß nicht, wie viele Menschen sterben und leiden werden, bis er zu Ende ist. Und wenn er zu Ende ist, was dann? Wir haben die Zyklen der Gewalt schon so oft erlebt. Dieser ist schlimmer, aber es ist nur ein weiterer. Es ist ein ständiger Kreislauf der Gewalt.

Es dauerte Stunden, bis die Angegriffenen Hilfe bekamen.

Wie gehen die Menschen mit diesem ständigen Gefühl der Unsicherheit um, das dieser Kreislauf der Gewalt verursacht?

Treidel: Allgemein kann man sagen, dass viele Menschen es zwischen den Ausbrüchen von Gewalt verdrängen, ihr normales Leben führen und nicht allzu viel darüber nachdenken. Aber das Sicherheitsgefühl der Juden und Araber im Land ist so schwach wie nie zuvor.

Die Menschen wurden auf grausame Weise angegriffen und es dauerte Stunden, bis sie Hilfe bekamen. Das ist ein Gefühl, dass man wirklich nicht sicher ist. Wir haben angeblich das stärkste Militär im Nahen Osten, und es dauerte Stunden, bis Hilfe eintraf. Das muss mit der Zeit verarbeitet werden.

Gibt es etwas, das Ihnen in dieser schrecklichen Situation Hoffnung gibt?

Yael Treidel engagiert sich seit Jahren für den Frieden. Foto: Womenwagepeace

Treidel: Ich bin eine Friedensaktivistin. Die Tatsache, dass ich etwas tue, um unsere Realität zu verändern, hilft mir, einen Funken Hoffnung zu bewahren. Ich treffe Menschen, die wie ich überzeugt sind, dass es eine Chance auf Frieden gibt.

Drei Tage vor dem Massaker im Süden haben wir eine große Veranstaltung von Women Wage Peace und einer Schwesterbewegung in Palästina namens Women of the Sun mit Frauen aus dem Westjordanland und Gaza veranstaltet. Diplomaten waren eingeladen und gaben Vorträge. Die irische Botschafterin zum Beispiel sagte, niemand glaubte, dass es in Nordirland Frieden geben könne, es sei einfach nicht möglich. Und sie fuhr fort: „Es ist nicht möglich, bis es plötzlich möglich ist.“ Also müssen wir es einfach weiter versuchen.

Nach den Massakern am 7. Oktober schickte uns die Leiterin der palästinensischen Gruppe Women of the Sun eine Nachricht, in der sie sagte „Wir haben versucht, Frieden in dieses Gebiet zu bringen. Es ist uns nicht gelungen. Aber wir werden es tausendmal wieder versuchen, bis es endlich soweit ist.“

Sie sind auch sonst sehr aktiv.

Treidel: Ja, ich  arbeite auch für eine andere Organisation, die Patienten aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland in israelische Krankenhäuser bringt. Einige der Patienten, die wir fahren, starben bei Bombenangriffen oder weil sie nicht behandelt werden konnten.

Auch einige unserer Freiwilligen starben oder wurden von der Hamas entführt. Ich habe den Kontakt zu Menschen aus dem Gazastreifen verloren, aber ich stehe in Kontakt mit Menschen aus dem Westjordanland. Wir fahren weiterhin Patienten aus dem Westjordanland. Nicht mehr so viele wie früher, denn sie kommen nur noch, wenn sie unbedingt müssen. Und die Krankenhäuser sind jetzt voll mit Verletzten.

Wenn man die Menschen auf der anderen Seite kennt, dann kann man nicht das ganze Kollektiv verteufeln. Aber die meisten Menschen haben diese Verbindung zu den Menschen auf der anderen Seite nicht, dann ist es einfacher, sie alle als Mörder zu sehen.

Palästinenser sehen Israelis als Menschen in Uniformen und mit Waffen, die sie verhaften oder töten wollen. Und die Menschen in Israel sehen alle Palästinenser als Terroristen, die sie umbringen wollen.

Viele Menschen sind schwer traumatisiert.

Sehen Sie eine Hoffnung darin, dass es mehr Möglichkeiten für solche Begegnungen und Verbindungen gibt, die auf lange Sicht etwas verändern?

Treidel: Hoffnung kann von zwei Seiten kommen. Zum einen durch mehr Begegnungen und gegenseitiges Kennenlernen. Denn es gibt so viel Angst, wenn man die Sprache nicht versteht. Aber wenn man einander kennenlernt, kann man sich als Menschen zusammensetzen.

Die andere Hoffnung ist, dass die Welt aufhört, sich auf destruktive Art einzumischen, und beginnt, sich auf unterstützende Weise zu engagieren. Wir sind zu einem Spielball anderer Mächte geworden. Amerika mischt sich ein, weil es nicht will, dass der Iran mehr Macht bekommt. Hamas und Hisbollah werden von Iran und Russland unterstützt. Jede Supermacht schickt ihre Waffen zu regionalen Mächten oder manchmal an uns alle, und wir bekämpfen uns gegenseitig.

Sehen Sie eine Veränderung im Verhältnis der israelischen Bevölkerung zur Regierung? Ich habe Kommentare gelesen, die erklären, dass die Politik von Netanjahu die Institutionen und den Staat geschwächt und die Bevölkerung noch mehr gespalten hat. Gibt es ein Gefühl, dass mit dieser Regierung etwas nicht funktioniert?

Treidel: Das ist eine Untertreibung! Diese Regierung wurde im November 2022 gewählt und begann sofort mit der Arbeit an einer Regelung, mit der sich die Regierung über den Obersten Gerichtshof hinwegsetzen kann, was bedeutet, dass die Regierung absolute Macht hat. Das hat einen intensiven und erstaunlichen Protest ausgelöst. Jeden Samstagabend protestierten Hunderttausende von Menschen.

Heute ziehen sogar Menschen, die für diese Regierung gestimmt haben, ihre Unterstützung zurück. Es wurden Umfragen durchgeführt, die zeigen, dass die Zahl der Menschen, die diese Regierung noch unterstützen, sehr gering ist. Als Regierungsvertreter Krankenhäuser besuchten, wurden sie des Hauses verwiesen. Ich hoffe, dass es so bleiben wird, aber ich bin mir nicht sicher, denn der Krieg wird noch lange dauern.

Es ist dumm zu glauben, dass Gewalt die Lösung ist.

Wie werden Sie die Friedensarbeit mit Women Wage Peace fortsetzen?

Treidel: Immer, wenn etwas passiert, gibt es bei Women Wage Peace viele Gespräche über den nächsten Schritt. Aber zunächst unterstützen wir die Menschen, die angegriffen wurden. Alle von uns haben Menschen verloren.

Eine der Frauen, die unsere Organisation mitbegründet hat, ist in Gaza entführt worden. Wir wissen nicht, wie es ihr geht. Viele der Menschen, die im Süden entführt und getötet wurden, stammen aus Kibbuzim und Dörfern im Süden nahe der Grenze zum Gazastreifen, in denen es viele Friedensaktivisten gibt.

In der anderen Organisation, für die ich arbeite, wurden einige unserer Fahrer getötet oder entführt, einige haben ihre Söhne verloren. Wir haben viele Freiwillige in dieser Region des Landes. Viele Menschen sind schwer traumatisiert. In dieser Zeit kommen wir zusammen, um unsere Unterstützung zu zeigen. Und dann werden wir darüber diskutieren, welche nächsten Schritte wir gehen können.

Was erwarten Sie für die nahe Zukunft in diesem Konflikt?

Treidel: Ich habe keine Ahnung, was passieren wird. Es gibt Leute in der Regierung, die wollen, dass der Gazastreifen wieder besetzt wird, was eine Katastrophe wäre. Sie wollen die Hamas auslöschen, aber dazu müsste man Truppen schicken.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat niemand versucht, ein politisches Abkommen zu schließen. Es ist dumm zu glauben, dass Gewalt die Lösung ist. Schauen Sie sich nur in der Welt um, Gewalt ist nie die Lösung. Es gibt niemals wirkliche Sicherheit, wenn es nicht eine Art von Frieden gibt.

Wir müssen uns nicht gegenseitig lieben. Wir müssen nicht einmal offene Grenzen haben. Aber Menschen wie die Palästinenser können nicht so lange unter einer Besatzung leben.

Es ist viel schwieriger, Frieden zu schaffen als Krieg zu führen.

Niemand hat versucht, eine Lösung zu finden, und vielleicht erzeugt diese Situation den Druck, eine solche zu finden. Aber zum jetzigen Zeitpunkt scheint es so, als ob für viele Menschen jede Reaktion mit Gewalt verbunden ist. Oder gibt es eine Alternative?

Treidel: Es gibt eine Alternative. Wenn man sich in der Welt umschaut, sieht man, dass sehr lange Konflikte am Ende gelöst wurden, wie in Nordirland oder Liberia. Aber unsere Regierungen waren untätig, sie haben sich auf die Armee verlassen. Denn es ist viel schwieriger, Frieden zu schaffen als Krieg zu führen.

Im Krieg nimmt man alle modernen Waffen und schießt aufeinander. Aber um Frieden zu schaffen, muss man wirklich zuhören, muss mit Sorgfalt und Übersicht handeln, muss gemeinsam Lösungen finden. Deshalb sagen wir immer wieder, dass man Frauen mit an den Verhandlungstisch holen muss.

Viele der Leute in der Regierung kommen aus den Siedlungen im Süden. Sie haben das Gefühl, dass sie als Juden etwas Besonderes sind, weil sie von Palästinenser umgeben sind, die nicht die gleichen Rechte haben wie sie. Das bedeutet, dass im Westjordanland ein Apartheidstaat existiert. Aber eine Demokratie ist für alle da. Wenn sie nicht für alle gilt, ist es keine Demokratie.

Woher nehmen Sie das Vertrauen, sich weiterhin für die Möglichkeit einer Lösung einzusetzen?

Treidel: Das ist schwer. Ich war immer sehr optimistisch. Ich weiß, dass es irgendeine Lösung geben wird, denn der Konflikt ist nicht beherrschbar. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich sie erleben werde. Aber ich hoffe, ich werde es erleben.

Frauen sollten Teil der Verhandlungsteams sein.

Es scheint psychologisch schwer zu sein, Mitgefühl für die andere Seite zu haben, wenn man gerade erst verarbeitet, was bei diesen Anschlägen passiert ist. Selbst wenn ich einige der Geschichten lese, habe ich das Gefühl, dass es jenseits von allem ist, was man begreifen kann. Wie können Menschen mit dieser Art von Trauma umgehen oder einen Weg zur Heilung finden?

Treidel: Die Menschen hier haben den Holocaust durchlebt, und natürlich ist das nicht vollständig geheilt, aber Zeit und Therapie können helfen. Manchmal denke ich, dass wir eine Art himmlischen Therapeuten bräuchten, der eine Traumabehandlung für die ganze Region durchführt, weil auf allen Seiten ein ständig erneuertes Trauma wirkt.

Warum glauben Sie, dass Frauen die Diskussion verändern können oder stärker einbezogen werden sollten?

Treidel: Frauen neigen weniger dazu, Kriege zu beginnen, und Frauen arbeiten besser zusammen. Frauen und Kinder sind die Hauptleidtragenden in Konflikten. Frauen haben eine andere Perspektive auf den Preis von Konflikten als Männer.

Es gibt Untersuchungen, die zeigen, wenn Frauen Teil des Verhandlungsteams sind, nimmt die Einigung weniger Zeit in Anspruch, hält der Frieden länger an und alle sind zufriedener, da beide Seiten gleichberechtigter sind.

Frauen bringen also sowohl eine weitere Perspektive als auch eine gewisse Fähigkeit zum Zuhören ein. Sie haben eher die Bereitschaft, nicht aufzugeben und darauf zu bestehen, einen gemeinsamen Weg zu finden. Ich weiß, das ist eine Verallgemeinerung, aber die meisten unserer Regierenden sind Männer, und wir sehen, wohin uns das geführt hat.

English version of the interview

Foto: privat

Yael Treidel, Autorin und Übersetzerin, engagiert sich seit vielen Jahren als politische und soziale Aktivistin. Derzeit ist sie vor allem in der Bewegung Women Wage Peace und der NGO The Road To Recovery aktiv. Ihr Roman „When the Water Rises“ erschien 2022.

www.womenwagepeace.org.il/en/

www.theroadtorecovery.org.il

Beide Organisationen werden durch Spenden ermöglicht:

www.womenwagepeace.org.il/en/donate/

www.theroadtorecovery.org.il/copy-of-i-want-to-donate

 

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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Wie wärs damit, Friedensarbeit so zu verstehen, indem man Führungspersönlichkeiten aus den empathisch motivierten und kompetent gebildeten Politdebatten selektiert, zusammenbringt und als Basis für kulturellen Wandel unterstützt?

ich glaube diese Art von Vernetzung findet ohnehin statt, aber sie reicht nicht. Wir müssen Krieg, Hass und Gewalt nicht aus den Köpfen und Herzen von Leuten bringen, in denen das eh keinen Raum hat. wir müssen das aus unseren eigenen Köpfen und Herzen bringen, und wir müssen darüber mit Leuten sprechen, die voll davon sind. und wir sollten nicht aufhören unsere Stimme zu erheben. Einstweilen hat der Hass wieder die Oberhand, aber es braucht Alternativen dazu und die müssen wir leben.

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