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Wissenschaft braucht ein ethisches Maß

LightField Studios/ shutterstock.com
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Ein Standpunkt von Carsten Petersen

Die Wissenschaftsgesellschaft ist wie hypnotisiert vom technisch Machbaren. Ein rechtes Maß zu finden, ist schwierig. Der Philosoph Carsten Petersen meint, die Wissenschaft habe ihre Ergebnisse selbst ethisch zu verantworten. Wissenschaftler sollten für ihr Gebiet einen Ethik-Katalog aufstellen, nach dem sie sich richten.

Einer der kürzesten Artikel des deutschen Grundgesetzes ist der Artikel 5 Absatz 3: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei. Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung.“ So kurz und prägnant der Artikel ist, so wenig Angriffsmöglichkeiten lässt er zu. Diese sind gesondert als Eingriffsmöglichkeiten gekennzeichnet, wenn etwa andere Grundrechte verletzt würden.

So kann die Freiheit der Kunst eingeschränkt werden, wenn durch eines ihrer Kreationen beispielsweise der Schutz der Jugend verletzt würde, indem ein pornographischer Film allgemein zugänglich wäre. Desgleichen kann die Kunstfreiheit dadurch begrenzt werden, wenn durch sie die Würde oder Ehre eines Menschen verletzt werden würde, indem beispielsweise eine Verleumdung oder Beleidigung darin enthalten ist.

Außer diesen eher selbstverständlichen „Eingriffen“ ist eine Beschränkung der Kunst und der Wissenschaft nicht möglich. Die Frage ist, ob das gut ist. Zwei aktuelle Entwicklungen regen die Frage an: Die Nachricht über die beiden genmanipulierten Mädchen, die im Januar 2019 in China geboren (erzeugt?) wurden, und die für die Bayer AG bedrohlichen Prozesse über die krebserzeugende Wirkung von Glyphosat.

Im ersten Fall hat die wissenschaftliche Weltgemeinschaft einheitlich und entschlossen reagiert und die auch in China illegale Manipulation verurteilt; der Forscher wurde bestraft. Das Beispiel zeigt die Verantwortungslosigkeit eines Einzelnen und ein ethisch einwandfreies Verhalten vieler. Die Gefahr ist allerdings nicht gebannt. Denn die gelungene Gen-Manipulation am Menschen könnte weitere skrupellose Forscher auf den Plan rufen.

Im Fall von Glyphosat agierte die Industrie verantwortungslos. Zuerst produzierte Monsanto ein Pflanzenschutzmittel, das bei Wissenschaftlern von Anfang an im Verdacht stand, Krebs zu erzeugen. Monsanto und die von der Firma beauftragten Wissenschaftler setzten sich darüber hinweg. Dann kauften verantwortungslose Vorstände der Bayer AG die Firma auf und haben nun einen Schaden, der den Aktienwert des Konzerns im letzten Jahr um 60 Prozent abstürzen ließ. Hier wird die Verantwortungslosigkeit eines globalen Konzerns sichtbar.

Wissenschaft muss ihre Ergebnisse selbst ethisch verantworten

Trotz dieser Negativbeispiele hat die Freiheit der Wissenschaft im Zuge der Aufklärung Bedeutendes bewirkt. Die Bevormundung durch Kirche und Staat ist bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Genveränderung des menschlichen Erbgutes) überwunden. Die Erfolge moderner Wissenschaft sind überall sichtbar.

Allerdings haben sich in den letzten 50 Jahren auch die Schattenseiten des ungezügelten wissenschaftlichen Fortschritts gezeigt, vor allem im Hinblick auf die Kontrolle und den Verbrauch der natürlichen Ressourcen. An diesem Punkt kommt meistens sofort der Hinweis, dass die Wissenschaft nicht verantwortlich dafür ist, was mit ihren Ergebnissen gemacht wird, sondern die Politik als Repräsentant der Gesellschaft. Nur die Gesellschaft bzw. ihre Vertreter dürften entscheiden, wie mit wissenschaftlichen Ergebnissen umgegangen werden soll. Wissenschaft habe nur zu liefern und darin sei sie frei und müssen das auch unbedingt bleiben.

Dieses Argument, das aus der Barockzeit stammt, in der Wissenschaft noch am Gängelband der Kirche hing, muss heute allerdings hinterfragt werden. Wissenschaft ist heute nicht nur völlig ungezügelt, sondern auch selbst eine der einflussreichsten Institutionen in den modernen Staaten, als dass sie sich hinter der Entscheidungshoheit der politischen Institutionen verstecken dürfte. Sie hat ihre Ergebnisse selbst ethisch zu verantworten. Unterlässt sie dies, müssten andere gesellschaftliche Institutionen tatsächlich die Verantwortung übernehmen.

Ethik-Katalog für die Wissenschaft

Der berühmte Fall Robert Oppenheimer ist leider ein Einzelfall geblieben. Der Wissenschaftler weigerte sich zum eigenen Nachteil, weiter an der Erforschung der Kernspaltung zu arbeiten und konnte auch einige Kollegen davon überzeugen, die die furchtbare Zerstörungskraft der Atombombe gesehen hatten.

Ist die Forderung, Wissenschaft und Forschung solle kontrolliert werden, mittelalterlich? Ich glaube das nicht, im Gegenteil: Alle gesellschaftlich relevanten Institutionen sollten einen Ethik-Katalog aufstellen, nach dem sie sich richten. Eine Art Eid des Hippokrates nicht nur für Ärzte, sondern auch für Wissenschaftler, Journalistinnen, Juristen, Unternehmerinnen und Ingenieure.

Ein anspruchsvolles Unterfangen wird es allerdings sein, die jeweiligen ethischen Standards zu definieren. Deshalb hier nur ein paar allgemeine Vorschläge:

  • Jedes Forschungseinrichtung bekennt sich zu ethischen Zielen neben seinen Forschungszielen.
  • Ethische Ziele umfassen weit mehr als das eigentliche Forschungsziel eines Vorhabens. Sie analysieren und benennen die möglichen Haupt- und Nebenwirkungen der Anwendung des Forschungsziels auf Mensch, Tier und Natur, machen diese öffentlich und stoßen Diskussionen an.
  • Stellt sich in diesem Prozess heraus, dass negative Folgen die positiven überwiegen, wird auf das Vorhaben verzichtet.
  • Außerdem ist auch auf die Forschungsmittel zu achten. So, wie es unethisch (und verboten) ist, am Menschen zu experimentieren, ist es unethisch (aber nicht verboten) an höheren Säugetieren zu experimentieren. Der gute Zweck heiligt die schlechten Mittel eben nicht.

Atomenergie und Gentechnik

Forschung und Wissenschaft unter ethischen Gesichtspunkten zu kontrollieren, bedeutet, ethischen Kategorien des Vorzug vor anderen Kategorien zu geben. Zur Veranschaulichung noch zwei Beispiele, bei denen jeweils eine Gefahr (von vielen) aufgezeigt wird:

Atomenergie: Der wirtschaftliche Nutzen der Kernspaltung ist groß, sie erzeugt klimaneutrale Energie mit geringem Ressourcenverbrauch. Hochradioaktive Abfälle müssen jedoch Zehntausende von Jahren sicher gelagert werden. Da die Menschheit nicht in der Lage ist, dies zu gewährleisten, kann sie eine Zukunft ohne mögliche Schäden für Mensch und Natur nicht sicherstellen. Solange dieses Unvermögen besteht, darf an der Kernspaltung nicht weiter geforscht werden.

Genmanipulation: Genmanipulierte Pflanzen und Tiere können resistent gegen Krankheiten sein und höhere Erträge ergeben. Damit, so die Hoffnung, könnten Ernährungsprobleme in großem Umfang gelöst werden. Allerdings bringen diese Organismen die Bauern in Abhängigkeit von den Saatgutherstellern, da die Pflanzen sich in der Regel nicht selbst reproduzieren. Abhängigkeiten werden in der Regel ausgenutzt. Die biologische Agrarforschung hat deshalb die zusätzliche ethische Aufgabe, einen Weg zu finden, wie die Abhängigkeit verhindert werden kann. Solange dies nicht gefunden ist, darf an der Genmanipulation nicht weiter geforscht werden.

Prozesse und Dinge können zwar durch Wissenschaft einfacher und besser werden, darauf würde man ggf. verzichten. Gleichzeitig bedeuten ihre Resultate aber immer eine Ausweitung der Kontroll- und Verwaltungszone. Hier setzt noch eine weitere, grundsätzlichere Kritik an. Denn wir müssen uns fragen, wer hier die kontrollierende und verwaltende Instanz ist.

Wie hypnothesiert vom technischen Fortschritt

Forschung ist gewissermaßen die Vorhut einer Organisation, die in ein noch unbekanntes Terrain vorstößt. Sie ist nie neutral, nie unschuldig, sie handelt zwangsläufig im Interesse, im Auftrag dieser Organisation. Wer oder was ist diese Organisation? Es sind eben die Interessen der Menschen, ihre Neugier, ihr Wissensdrang, ihr Wunsch, bessere Lösungen für alles zu finden oder zu erfinden.

„Seid fruchtbar und mehret euch und macht euch die Erde untertan“, so lauteten die allerersten Aufträge Gottes nach der Erschaffung des Menschen. Beide Aufträge wurden und werden bis heute überaus erfolgreich ausgeführt. Fast acht Milliarden Menschen bevölkern die Erde, deren allerletzten Winkel erforscht und genutzt sind. Nun macht man sich zu anderen Planeten auf, denen das gleiche Schicksal droht, man will die Erschaffung des Menschen erforschen und kontrollieren, man erforscht das Gehirn und das Bewusstsein, man will den Zufall selbst erklären und voraussagen.

Horkheimer und Adorno haben diese Organisation „instrumentelle Vernunft“ genannt. Das bedeutet, dass es sich dabei nicht einfach um die Interessen aller Menschen handelt, sondern um eine ganz bestimmte Seite ihres Denkens. Und sie haben außerdem die Verwüstungen benannt, die diese Vernunft an der Natur des Menschen und der Erde angerichtet hat.

Aber ihr Buch und viele weitere, die in diesem Sinne folgten, haben nichts bewirkt. Eine der letzten unerforschten Gebiete auf unserem Planeten, die Kontrolle über die Rekombination der DNS-Sequenz des Menschen, ist zwar weltweit verboten, aber bereits technisch möglich. Daher wird es nicht lange dauern, bis das Verbot fällt. Die Wissenschaftsgesellschaft ist hypnotisiert vom technisch Machbaren und muss es irgendwann verwirklichen, ob sie will oder nicht. Dieser Zwang macht es so schwierig, ja geradezu unmöglich, der Wissenschaft auch nur irgendein Maß zu aufzuerlegen.

Die Grenze des Sinnvollen

Wissenschaft braucht Grenzen, wenn sie dem Menschen dienen soll. Es mag seltsam anmuten, aber es dient dem Menschen, die Grenzen seines Wissens nicht nur zu erkennen, sondern anzuerkennen. Anerkannt wird hierbei nicht die Grenze des Möglichen, sondern die Grenze des Sinnvollen.

Die freie Entscheidung, das Terrain des Wissens nicht unendlich auszudehnen, sondern gewisse Gebiete unbekannt, unerkannt, als terra incognita zu belassen, würde zu verstehen geben: Unsere Art, Wissenschaft zu betreiben, ist nur eine unter mehreren möglichen Arten.

Erst wenn wir merken, dass es Grenzen unserer Wissenschaft gibt, könnten wir auch andere Weisen, Wissenschaft zu betreiben, zulassen. Aber diese Grenzen sehen wir nicht, weil wir sie nicht sehen wollen. Denn dann müssten wir den Allmachtstraum unserer Wissenschaft aufgeben.

Schauen wir uns die Taxonomie der Tiere an, die Jean Louis Borges in einer alten chinesischen Enzyklopädie gefunden hat, dann wird etwas klarer, was wir alles nicht mit den Augen unserer Wissenschaft sehen können:

„a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörende, i) die sich wie Tolle gebärden, j) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, k) und so weiter, l) die den Wasserkrug zerbrochen haben, m) die von Weitem wie Fliegen aussehen.“

Auch wenn das natürlich ein literarischer Spaß ist, so wird doch deutlich, wie eingeschränkt unsere wissenschaftliche Sicht auf die Welt ist. Es geht immer um Kontrolle und Nutzen. Und man darf sich fragen, was das eigentlich nützen soll, wem das dient. Ist nicht die ganze Welt schon kontrolliert und genutzt oder vernutzt, wie Horkheimer und Adorno das nennen ?

Ich habe den Verdacht, das Wissenschaft und Forschung heute eine Maschine ist, die einfach weiter läuft, weil sie zu groß ist, als dass sie jemand abschalten oder auch nur ein wenig das Tempo drosseln könnte. Kann man sich überhaupt noch vorstellen, dass die Menschheit entscheidet, etwas nicht wissen zu wollen ? Kann es Gebiete auf unserem oder anderen Planeten geben, die nicht dem Zugriff des instrumentellen Denkens anheimfallen, die frei von unseren Plänen bleiben ?

Könnte diese Freiheit am Ende auch uns freier von unseren Plänen machen und uns den Raum zurückgeben, in dem wir Tiere studieren können, die mit einem feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind?

Carsten Petersen

 

Carsten Petersen geb. 1954, studierte Philosophie, Literatur und Kunstgeschichte. Er ist Lehrer, Erzieher, Vater und Imker. Lebt mit seiner Familie in Uelzen.

 

 

 

 

 

 

 

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