Eine Analyse des Philosophen Michael J. Sandel
Die Rechstpopulisten haben Zulauf. Der Philosoph Michael J. Sandel sieht den Grund in der modernen Leistungsgesellschaft, in der es an Solidarität und Gemeinsinn fehlt. Eine moralische und politsche Erneuerung sei nötig, um die Demokratie zu stärken und den Rechtspopulismus zu stoppen.
Nicht erst seit der Europawahl 2024 sind die Rechtspopulisten in Europa und den USA auf dem Vormarsch. Doch was sind die Gründe? Der Moralphilosoph Michael J. Sandel, der in Harvard unterrichtet, schaut tiefer: Trump und Konsorten seien nur ein Symptom, aber nicht die Ursache des Problems.
In einer detaillierten Analyse kritisiert der Autor die moderne Leistungsgesellschaft. Der Glaube, für seine Leistung und seinen Erfolg selbst verantwortlich zu sein, hat eine Kehrseite: Er untergräbt die Solidarität und befeuert Ungleichheit. Eine moralische und politische Eneuerung sei notwendig, um eine Gesellschaft zu schaffen, in der für das Wohl aller gesorgt werde.
Michael Sandel, dessen youtube-Vorlesungen viel beachtet werden, ist bekannt für seine gesellschaftspolitischen Analysen, etwa in seinen Büchern: „Das Unbehagen in der Demokratie“ 2023, „Was man mit Geld nicht kaufen kann“, neue Auflage 2024. Mit diesem Buch greift er ein weiteres wichtiges Thema auf: den Aufstieg des Rechspopulismus in den USA und Europa.
Die neoliberalen Gesellschaften des Westens sind an Erfolg und Leistung ausgerichtet, es herrsche eine „Meriokratie“. Die Entscheider sind davon überzeugt, dass sie ihren Reichtum, ihre Position, ihre Macht durch Leistung verdient hätten, ohne zu sehen, wie viel Anteil andere und auch der Zufall daran haben.
Sie schauen auf andere herab, die weniger besitzen, weniger gebildet sind und weniger Einfluss haben. Denn, so ihr Glaube, diese hätten selbst Schuld, stünden ihnen ja alle Möglichkeiten offen. Die Gedemütigten, so Sandel, setzten sich jetzt zur Wehr.
Anhand vieler Beispiele weist der Philosoph nach, dass das Versprechen des American Dream, „Wer hart arbeitet, kann alles erreichen“, schon lange nicht mehr stimme. In den USA entfiel der größte Teil der Einkommenszuwächse seit den 1970ern auf die obersten zehn Prozent der Bevölkerung. Die Löhne im unteren Sektor würden seit vier Jahrtzehnten stagnieren.
Sandel nennt weitere Beispiele für die ökonomisch-orientierte Weltsicht: Hedgefondsmanager, Banker und Akademiker sind besser angesehen und erfahren mehr Wertschätzung als beispielsweise Handwerker, Busfahrer oder Pflegende. Deren Leistungen würden geringer bewertet, körperliche Arbeit wird abgewertet. Daher gehe es auch um die Würde der Arbeit. Denn über ihre Arbeit tragen die Menschen zum Gemeinwohl bei.
“Die Eliten sind zu Recht beunruhigt.”
Sandel beklagt auch ein Versagen der Politik. Denn die Benachteiligten seien kaum in der Politik vertreten, ja ihre Bedürfnisse würden ignoriert. Die Hinwendung zu rechten Parteien sei Ausdruck eines tiefen Gefühls von Ungerechtigkeit und Demütigung.
Trump in den USA, Boris Johnson mit dem Brexit oder Marine Le Pen in Frankreich seien geschickt darin, die Gefühle der Demütigung und Verbitterung zu adressieren und politisch für sich selbst nutzbar zu machen.
„Die Eliten sind nun – zu Recht – beunruhigt. Doch sie sind blind für die Rolle, die sie selbst bei der Entstehung des Unmuts gespielt haben,“ so Sandel an die Adresse der Verantwortlichen. Am Ende folgt ein Aufruf, eine Politik des Gemeinwohls und der Gerechtigkeit zu erarbeiten, die allen Mitgliedern der Gesellschaft zugutekommt.
Sandels Analyse ist wertvoll und kann vielen, die in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Verantwortung tragen, die Augen öffnen: Was kann man aus den Protesten und unliebsamen Wahlausgängen lernen? Was ist schief gelaufen? Wo sind Korrekturen notwendig, und vor allem: Wie können wir tatsächlich eine Politik für das Gemeinwohl kreieren?
Doch auch jene, die rechtsradikale Parteien wählen, tragen Verantwortung – das erwähnt Sandel nicht. Sie müssen sich von faschistischen, demokratiefeindlichen Parteien und Politikern abgrenzen und sich mit jenen verbinden, die ein echtes Interesse an Gemeinwohl, mehr Bürgerbeteiligung und Gerechtigkeit haben.
Birgit Stratmann
Michael J. Sandel. Vom Ende des Gemeinwohls: Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt. Fischer 2020