Eine Spurensuche von Agnes Polewka
Menschen bewerten andere Menschen – nach ihrem Aussehen, ihrer Herkunft oder ihrem Beruf. Vorurteile sind tief im menschlichen Bewusstsein verankert. Doch wo gehen Vorurteile in eine Ideologie über? Ab wann spricht man von Rassismus und wie ist das Denken in „Rasse“-Kategorien entstanden?
„Rassismus beginnt mit Unterscheidungen“, sagt die indische Politik-Wissenschaftlerin Nikita Dhawan. Dhawan lehrt an der Gießener Justus-Liebig-Universität und untersucht unter anderem globale Gerechtigkeit und Menschenrechte. Aus Unterscheidungen zwischen bestimmten Gruppen erwachsen Privilegien oder Nachteile. Und mit ihnen Vorurteile und Stereotypen.
So sieht es auch Christian Geulen, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Koblenz-Landau und Autor des Buches „Geschichte des Rassismus“: „Vorurteile können zu Ungerechtigkeit und Ausgrenzung führen, bilden für sich aber noch keinen Rassismus. Der Rassismus ist eine Ideologie, der aus Vorurteilen eine ,natürliche Ordnung‘ macht“, sagt Christian Geulen. Dort, wo Rassismus eine „natürliche Ordnung“ herstellt, wird Andersartigkeit zur Bedrohung. Menschen werden ausgegrenzt und angefeindet.
Ausgrenzungen – etwa in Form von Versklavung – gab es schon in der Antike. Aber: „Ein Dasein als Sklave führen zu müssen, war meist Folge eines verlorenen Kriegs und nicht einer spezifischen Zugehörigkeit. Sklaven waren die im höchsten Maße multikulturelle Bevölkerungsschicht der antiken Welt“, schreibt Geulen in seiner „Geschichte des Rassismus“.
Wer versklavt wurde, stammte meist selbst aus einer Region, in der Sklaverei betrieben wurde. „Insgesamt scheint sich in der Antike kaum jemand an der Hautfarbe oder anderen ,Rassenmerkmalen‘ sowie an kulturellen Eigenheiten fremder Völker in politisch relevanter Weise gestört zu haben“, so Geulen.
„Das Rassedenken ist ein Produkt des moderen Europas“
Erst viele Jahrhunderte später – um 1500 – kristallisierte sich in Europa ein Denken in Rasse-Kategorien heraus. Zunächst in Spanien – um die Juden und Mauren zu kennzeichnen. Dann in Frankreich – um zwischen Geburts- und Amtsadel zu unterscheiden. Als globales Phänomen, wie wir es heute kennen, wurzelt der Rassismus ausgerechnet im Zeitalter der Aufklärung: Im 18. Jahrhundert war der Sklavenhandel eine über Jahrhunderte kultivierte, gängige Praxis.
Doch wie ließ sich dieser Verkauf von Menschen mit den modernen Idealen in Einklang bringen? Mit Werten wie Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit? Mit einem Rassensystem, das jene Menschen ans untere Ende der Hierarchie stellte, denen am übelsten mitgespielt worden war. Afrikanern und Indianern etwa, die verkauft wurden wie Tee oder Whiskey.
Sie wurden als Menschen einer unteren Entwicklungsstufe betrachtet und zugleich als Archetypen der eigenen Vergangenheit – „nach dem Motto: sind alles Menschen, aber ‚rassisch‘ eben unterschiedlich begabt und entwickelt“, sagt der Rassismusforscher Geulen.
Dieses Denken gipfelte in der rassistischen Unterdrückung in den Kolonien, in der Rassentrennung in den USA, vor allem in den Südstaaten, und: im Holocaust. Diese drei historischen Ereignisse brachten Menschen dazu, das Phänomen kritisch zu erforschen. Entscheidende Arbeiten kamen dabei von W.E.B. Du Bois, Magnus Hirschfeld, Stuart Hall oder Hannah Arendt – Menschen, die selbst unterdrückt worden waren. Wegen ihrer Hautfarbe oder ihres Glaubens.
„Das Rassendenken ist ein Produkt des modernen, weißen, christlich geprägten Europas, das in Jahrhunderten der kolonialen Beherrschung in den Rest der Welt exportiert wurde. Als eine solche Erfindung des modernen Europas richtet sich Rassismus bevorzugt gegen nicht-weiße, nicht-christliche und als nicht-entwickelt geltende Kulturen“, sagt Geulen im Gespräch mit Ethik heute.
Auch Billigproduktion in Bangladesh ist eine Form von Rassismus
Und doch ist der Rassismus sehr wandelbar und nuanciert. „Wenn wir über Rassismus nachdenken, kann man diesen nie für sich selbst betrachten. Wir müssen dann immer auch andere Dinge mitdenken. Dinge wie Nationalität, Religion, Klasse oder Sprache“, sagt Nikita Dhawan in einem Interview mit Ethik heute. So hallt der Begriff in Deutschland anders nach als in Spanien. In Kenia hat er einen anderen Stellenwert als in Südafrika.
Und: „Wenn wir an Rassismus denken, dann denken wir in der Regel an gewaltvolle Vorkommnisse wie den Mord an George Floyd. Dabei sind auch Fabriken in Bangladesh, in denen unsere Schuhe oder unsere Kleidung hergestellt werden, in denen Menschen ausgebeutet werden, eine Form von Rassismus“, sagt Dhawan.
Privilegierte müssten darüber nachdenken, was sie konsumieren und unter welchen Bedingungen dieser Konsum produziert wird. „Denn darüber sind wir alle auf eine gewisse Art und Weise Teil einer globalen Struktur von Ausbeutung, die Kapitalismus, Rassismus und Patriotismus einschließt.“
Wer Opfer rassistischer Anfeindungen wird, macht eine persönliche Erfahrung als Teil einer bestimmten Gruppe, zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Kontext. Als Mann oder als Frau. Denn der Rassismus unterscheidet sich auch darin, wie Männer und Frauen diskriminiert werden.
Beim weiblichen Geschlecht sind die Übergänge zum Sexismus oft fließend. Dhawan erzählt aus ihrem Alltag: „Eine Freundin mit dunklerer Hautfarbe wurde in einem Café als „Kanakenhure“ bezeichnet. Ist das nun Rassismus oder Sexismus?“
In der öffentlichen Debatte würde aber leider kaum differenziert. „Sicherlich überlappen sich die Erfahrungen von Männern und Frauen, die diskriminiert werden. Aber ich beobachte im politischen Kontext ganz klar eine andere Sichtbarkeit und Hörbarkeit von Männern“, sagt Dhawan.
Dies gelte für die Opfer und für die, die Protestbewegungen mobilisieren, gleichermaßen. Ein Beispiel: Martin Luther Kings Name ist den meisten Menschen ein Begriff. Und die Bürgerrechtlerin Angela Davis? Wahrscheinlich muss ihr Name zunächst gegoogelt werden.
Und so ist der Rassismus Teil unserer Geschichte, unserer Gesellschaft, vielleicht auch unserer Identität. Unauslöschlich? „Im menschlichen Denken ist nichts unauslöschlich. Den Rassismus zu einer allgemein menschlichen Eigenschaft zu erklären, ist einfach, aber auch dumm und gefährlich“, sagt der Historiker Geulen. Und macht Hoffnung. Für jeden von uns.
Agnes Polewka
Nikita Dhawan ist Professorin für Politikwissenschaft, die sich mit Frauen- und Geschlechterforschung sowie postkolonialen Studien beschäftigt. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören transnationaler Feminismus, globale Gerechtigkeit, Menschenrechte sowie Demokratie und Dekolonisierung. Aktuell lehrt sie an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Christian Geulen ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Koblenz-Landau. Sein inhaltlicher Fokus liegt unter anderem auf der Geschichte politischer Ideologien sowie der Wissens- und Begriffsgeschichte.
Tipps zum Lesen:
Christian Geulen: Geschichte des Rassismus, Verlag C.H. Beck, München 2007
Wulf D. Hund: Wie die Deutschen weiß wurden. Kleine Geschichte des Rassismus
J.B. Metzler Verlag, Stuttgart – Weimar 2017