Die psychotherapeutische Sicht von Matthias Ennenbach
Starke Emotionen wie Wut bewirken hohe Spannungsmuster, die der Gesundheit schaden können und Beziehungen gefährden. Wie wir den inneren Kampfhund besänftigen und achtsam mit Wut umgehen, dazu gibt der Psychotherapeut Matthias Ennenbach Anregungen.
Der Umgang mit Emotionen ist in der Psychotherapie natürlich ein Top-Thema. Gerade die Wut bringt uns immer wieder in schwierige Situationen. Entweder bricht sie aus und wir haben es mit den Folgen und Konsequenzen von Gewalt zu tun, oder sie wird verdrängt oder unterdrückt und es entstehen Empfindungen von Hilflosigkeit, die ohnmächtige Wut.
Eine andere Folge der Unterdrückung ist eine innere Umlenkung dieser starken Energieform der Wut in die sogenannte Somatisierung. Dann bilden sich Körpersymptome, denn irgendwohin muss der Druck schließlich. Oft können wir für Wut klare Ursachen erkennen. Aber für eine innere, wütende Anspannung lassen sich manchmal keine aktuellen Anlässe identifizieren. Das verläuft dann vergleichsweise wie in einem Behälter, in dem sich die inneren Anspannungen über eine längere Zeit hinweg ansammeln. Die Weiterführung dieses Themas führt in der Therapie meist zu der Fragestellung, welche Ventile ein Mensch zur Verfügung hat, um inneren Druck zu kanalisieren. Wo lassen Sie Ihren Druck?
Sport als Ventil: nur kurzzeitig hilfreich
Bei diesem Thema tun sich viele unheilvolle Strategien auf: So wird der Innendruck oft mit zahlreichen Genussgiften zu betäuben versucht, unsere Eintrittskarte in die Süchte. Aber auch scheinbar hilfreiche Methoden sind zweischneidig: Natürlich ist Sport eine wunderbare Art etwas für sich zu tun. Aber Sport baut nur kurzfristig inneren Druck ab, zudem wird beim Sport unser inneres Aktivierungszentrum (Sympathikus) aktiviert und trainiert. Das führt dazu, dass wir noch intensiver auf Druck reagieren. Der Umgang mit Wut benötigt also eine achtsame Herangehensweise.
Starke Emotionen können uns fest in Beschlag nehmen. Das betrifft scheinbar sogar auch positive Emotionen, die wir anstreben und dabei oft nicht bemerken, wie sehr sie uns manipulieren. So können aus angenehmen Empfindungen schnell Bedürfnisse nach möglichst häufiger Wiederholung und daraus dann Gewohnheiten, Begehren und sogar Abhängigkeiten entstehen.
Die negativen Emotionen haben viel eindeutigere, schlechtere Auswirkungen. Die vier großen negativen Emotionen sind Trauer, Angst, Schmerz und Wut. Diese Emotionen sind in ihren inneren Abläufen sehr ähnlich, denn sie bewirken alle in uns hohe Spannungsmuster. Aber sie sind sehr verschieden in den Möglichkeiten der Spannungsabfuhr. So können ganz einfach bei Trauer Tränen fließen und so erleben wir oft über dieses Ventil eine Erleichterung.
Viele Klienten schildern zurecht größere Schwierigkeiten im Umgang mit Wut. Welches Ventil können wir nutzen? Das ist schwieriger. Einfach losschreien oder offenes, aggressives Verhalten zeigen, erscheint oft keine gute Umgangsweise. Dennoch hören immer noch Klienten von ihren Therapeuten Sätze wie zum Beispiel „Vertrauen Sie sich selbst.“ „Vertrauen Sie Ihren Gefühlen.“ Oder noch problematischer: „Lassen Sie es raus!“ Wie bereits erwähnt, benötigt Wut als komplexe und gefährliche Emotion eine wesentlich differenziertere Herangehensweise.
Frauen reagieren anders als Männer
Sehr oft zeigen Frauen vollkommen andere Reaktionen als Männer, wenn sie Wut erleben. Bei ihnen ist oft das direkte Wutventil verstopft. So wird dann oftmals das Trauerventil genutzt und es fließen Tränen der Wut. Hier ist dann zu prüfen, ob so ein Ventil wirklich funktioniert, also ob tatsächlich über Tränen der Druck der Wut abgebaut werden kann. Tatsächlich bleibt bei dieser „Methode“ immer viel Wutenergie im Organismus zurück, lagert sich ein und wirkt sich zeitverzögert negativ aus.
Männern steht das Wutventil oftmals schneller zur Verfügung, oder sie suchen sich ein Umfeld, in dem sie das öffnen können, z. B. beim Fußball. Ob das besser ist, bleibt fraglich, denn alles, was wir regelmäßig wiederholen, hat die Neigung sich zu festigen. Wenn Sie bei inneren Spannungen, wie beispielsweise bei Wut, diese Energie sofort ausagieren, Sie z. B. mit aggressivem Verhalten, Schimpfen, Drohen, Fluchen, etc. sich Luft machen, werden diese Reaktionen immer tiefer „eingebrannt“.
Wenn man den inneren Kampfhund füttert, wächst er
Wenn Sie Ihren inneren Kampfhund regelmäßig füttern, wird er natürlich wachsen. Und große innere Kampfhunde entwickeln schon bald eine Eigendynamik, das bedeutet, dass die Hemmschwelle zur Aktivierung immer niedriger wird. Sie reagieren also immer schneller und bei immer weniger ärgerlichen Reizen mit Ärger und Wut. Wir haben es hier mit der Entwicklung und Stärkung von Ego-Anteilen zu tun. Emotionen sind nämlich stets mit entsprechenden Gedanken verknüpft.
Der innere Kampfhund ist einer von sehr vielen inneren Egoanteilen. Jeder und jede von uns besitzt die Veranlagung dazu. Die Veranlagung zum Kampfhund schlummert also ebenso in uns, wie die Veranlagung zur Gelassenheit. Wenn wir in Gewohnheitsmustern feststecken, wenig aufmerksam sind und nicht bewusst leben, werden solche inneren Veranlagungen quasi per Zufall und von außen aktiviert. Das ist sehr bedeutsam.
Wir sind über unzählige Generationen per Evolution sehr stark auf äußere Reize programmiert. Die Persönlichkeitsanteile, die Sie in sich stark entwickelt haben, sind ein Zufallsprodukt ihrer äußeren Umstände. Wir reagieren alle sehr auf unsere Umwelt und lassen uns davon prägen. Damit sind wir mit äußeren Bedingungen intensiv verknüpft. Das ist gewissermaßen die Natur in uns. Aber wir können mit einer Geisteskultur diese Abhängigkeit auflockern und ein größeres Maß an Unabhängigkeit antrainieren.
Vielleicht stimmen Sie mir zu, dass es eigentlich viel sinnvoller wäre, unsere inneren Veranlagungen eigenverantwortlich zu aktivieren und zu kultivieren. Oder möchten Sie wie eine Marionette von anderen ständig manipuliert werden? Sie tragen Ihre „roten Knöpfe“ quasi noch offenliegend und jeder kann darauf drücken und sie springen darauf an. Und jede Wiederholung stärkt auch noch diese Dynamik. Wohin soll das führen?
Im Zauberspiegel: Zielvisionen entwickeln
Stellen Sie sich vor, dass Sie sich in einem Zauberspiegel sehen könnten, und zwar in einer Weise, wie Sie in 5 Jahren sein werden. Was möchten Sie von der Person hören, die Sie in fünf Jahren sein werden? Über welche Eigenschaften möchten Sie dann verfügen? Soll das auch wieder nur ein Zufallsprodukt sein? Wahrscheinlich möchten Sie da ein Wörtchen mitbestimmen.
Das bedeutet aber, dass Sie damit anfangen, eine klare Zielvision zu entwickeln und diese dann täglich umsetzen. Diese Wege sind mittlerweile gut erprobt und wissenschaftlich abgesichert. Ja, Menschen können sich tatsächlich fundamental ändern. Das geschieht über Neuroplastizität, also die Fähigkeit unseres Nervensystems, die Form und Struktur zu ändern. So eine Änderung folgt den Naturgesetzen.
Ich erwähne das gerne so, weil es kein „Psychotrick“ ist und auch keine Esoterik oder Einbildung, sondern „harte“ Naturwissenschaft. Üben Sie regelmäßig, dann wird sich Ihr Nervensystem positiv anpassen. Das ist absolut machbar, aber zugegeben nicht leicht.
Situationen werden von uns sehr schnell bewertet und die inneren Reaktionsmuster laufen sehr schnell ab. Deshalb können wir wütende Reaktionen nicht vollständig eliminieren. Aber wir können lernen, sie schneller als destruktiv zu erkennen und sie dann stoppen, lindern und auflösen.
Strategien, Anspannungen zu lindern
Dafür gibt es heute Universalstrategien. Universal deshalb, weil alle positiven und negativen Reize in uns spürbare Anspannungen erzeugen. Es gilt nun, diese inneren Anspannungen wahrzunehmen und sie lindern zu lernen. Das darf und soll auf keinen Fall dazu führen, dass wir starke Spannungen und Emotionen nicht mehr spüren oder verdrängen. Es soll aber dazu einladen, dass wir sie nicht mehr hilflos erdulden oder sie unbewusst und destruktiv abreagieren oder sie ungesund zu betäuben versuchen.
Es gibt konkrete Atemübungen, wie z. B. die Bauchatmung, die im Gehirn das Ruhezentrum aktiviert. Mit ein bisschen geduldigem Üben, können wir so eine innere Pufferzone etablieren, die uns zu spürbar mehr Gelassenheit führt. Dann können wir ärgerliche Sachverhalte ohne Bluthochdruck verhandeln.
Die Bereitschaft auf vermeidbar ärgerliche Situationen ohne Wut zu reagieren, klingt theoretisch attraktiv, aber in der Realität stehen uns mächtige Gegner entgegen. Hier meine ich insbesondere unsere inneren strengen Egoanteile. Ganz vorne z. B. der innere Richter. Unser Gerechtigkeitsempfinden ist sehr tief verankert. Manche Menschen würden lieber übelste Konsequenzen ertragen, als mit dem Gefühl im Recht zu sein, nachzugeben. Diesbezüglich finden wir alte Begriffe wie z. B. den gerechten oder heiligen Zorn, ein Empfinden, das die alten Griechen sehr hoch geschätzt haben. Und hier entdecken wir ein weiteres Terrain für zahllose Fehleinschätzungen und Probleme.
Wutbürger und die blinde Wut
Wie sehr wir fehlgeleitete Wutempfindungen erleben können, zeigen uns aktuell die sogenannten Wutbürger. Sie erleben eine Wutform, die wir wohl eher als blinde Wut einschätzen müssen. Also einen hohen inneren Anspannungslevel, der sich durch ein sehr unbewusstes und unangenehmes Ventil zwängt.
Wir sollten zu dem Schluss kommen, dass wir unseren Emotionen nicht blind vertrauen können. Wir sind eben keine geeichten Messinstrumente. Aber wir können einen inneren Klärungsprozess initiieren, der zu einem ausreichenden Maß an innerer Klarheit führt, sodass dann noch vorhandene Empfindungen mehr Vertrauen genießen dürfen.
Stellen Sie sich z. B. im wütenden Zustand vor, dass Ihr Geist wie in einer geschüttelten Schneekugel, keine Durchsicht mehr hat. Es herrscht „Schneetreiben“. Suchen Sie sich für Sie passende Methoden, die dazu beitragen, dass sich Ihre inneren „Schwebepartikel“ wieder beruhigen und quasi zu Boden sinken. Die dann entstehende geistige Ruhe und Klarheit ist eine wunderbare und auch dringend notwendige Ausgangsbasis für alle weiteren Schritte.
Dr. Matthias Ennenbach (*1963) ist seit über 25 Jahren in unterschiedlichen klinischen und beraterischen Kontexten als Diplom Psychologe und approbierter Psychotherapeut tätig. Er promovierte an der medizinischen Fakultät München und ist seit vielen Jahren als Gastreferent an Universitäten, als Seminarleiter und als Ausbilder für Therapeuten (BPT®), Achtsamkeitstrainer (ASST®) und als Fachbuchautor aktiv.
Weitere Infos zu Kursen des Autors: www.Info-BPT.de
Bücher von Matthias Ennenbach
Inspirationen in 108 Leitsätzen, Springer Verlag 2017
Wie das Leben zum Urlaub wird, Springer Verlag 2017
So beruhigen Sie sich, Windpferd Verlag 2017