Ein empfehlenswertes Buch des Philosophen Peter Bieri
Es gibt wichtige Begriffe für unser Leben, die wir zwar benutzen, aber kaum reflektieren. Würde ist so ein Wort. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, lautet der 1. Artikel des Grundgesetzes.
Peter Bieri, der am 23. Juni seinen 70. Geburtstag feierte, hat ein Buch über diese bedeutsame Idee geschrieben. Aber keine Angst! Der Philosoph wartet nicht mit einer theoretischen Abhandlung auf, sondern bietet uns eine lebendige Auseinandersetzung darüber, was Würde auf der Ebene der Erfahrung bedeutet.
Bieri bringt die Würde mitten ins Leben. Er unterscheidet drei Dimensionen: Erstens, wie werde ich von anderen Menschen behandelt? In welchen Fällen achten andere meine Würde, und wann verhalten sie sich so, dass sie verletzt wird. Wie ist es beispielsweise, wenn andere uns als Objekt sehen, wenn sie uns missachten, belügen, manipulieren?
Zweitens, wie behandle ich andere Menschen, welche Einstellung habe ich zu ihnen? Der Autor lotet aus, durch welche Handlungen anderen gegenüber ich selbst meine Würde bewahre oder verliere. Wie verhält es sich etwa, wenn ich andere täusche, wenn ich ernste Situationen mit sinnlosem Gerede überspiele, wenn ich jemandem wichtige Informationen vorenthalte?
Drittens, wie stehe ich zu mir selbst? Welche Art, mich selbst zu sehen, zu bewerten und zu behandeln, verleiht mir Würde? Dazu gehören Fragen, die die Verantwortung für mich selbst betreffen, aber auch Selbsttäuschungen, Lebenslügen und innere Zwänge, die mir nicht bewusst sind und meine Würde gefährden.
Bieri dekliniert all diese Fragen anhand von Menschen in konkreten Situationen durch und greift auf das Mittel der inneren Dialoge zurück. Die teilweise kniffligen Beispiele entnimmt er eigenen Lebenserfahrungen und Romanen der Weltliteratur. Es sind existenzielle Fragen, die hier fein differenziert und von vielen Seiten beleuchtet werden:
Wann schlägt Fürsorge in Bevormundung um? Wie kann die Offenbarung intimer Geheimnisse würdelos sein? Wann ist sie geeignet, Würde zu bewahren oder zurückzugewinnen, etwa wenn man sich einem Therapeuten öffnet? Inwiefern trägt moralisches Verhalten dazu bei, dass meine Würde gewahrt bleibt?
Der Autor gibt viele Denkanstöße in Form von Geschichten über das Gewinnen und Verlieren der Würde. Er schreibt zu Beginn, seine Ausführungen seien „in der Tonlage des Ausprobierens geschrieben“ und weist damit die Position des „allwissenden“ Autors zurück.
Trotzdem muss man anerkennen, dass er als Philosoph den meisten Lesern viel voraus hat. Bieri hat sich zu den verschiedenen Themen intensiv Gedanken gemacht – in einer Klarheit und einem Differenzierungsvermögen, die außergewöhnlich sind. Man muss gedanklich sehr flexibel sein, will man noch neue Aspekte und Nuancen finden.
Was dem Leser aber bleibt, ist, das Gelesene auf sich selbst zu beziehen und eigenes Erlebtes im Spiegel des Geschriebenen zu betrachten. So ist es ein Buch, das zum Nachdenken über uns selbst und unsere Beziehungen anregt.
Man sollte allerdings im Hinterkopf behalten, dass Peter Bieri ein europäischer Denker ist. So bringt er Würde vor allem mit Selbstbestimmung in Verbindung, der Fähigkeit, als selbständiges Subjekt zu handeln. In anderen Kulturen gibt es vermutlich andere Maßstäbe, um die aufgeworfenen Fragen zu betrachten. Es wäre interessant, das Thema in einem interkulturellen Dialog zu erörtern.
Birgit Stratmann
Peter Bieri. Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde. Hanser Verlag, München 2013. 384 S., 24,90 €