Zeit für Mitgefühl

LBP/ photocase.de
LBP/ photocase.de

Eine Meditationsanleitung

Mitgefühl ist eine natürliche menschliche Reaktion, wenn wir andere leiden sehen. Doch angesichts permanenter Katastrophenmeldungen verschließen wir oft unser Herz. Meditation ist eine Möglichkeit, mit dem, was ist, in Beziehung zu sein und Liebe und Mitgefühl zu kultivieren. Nur so können wir mit Leiden konstruktiv umgehen.

Jede und jeder von uns kennt Bilder von Flüchtlingen auf ihrer gefährlichen Reise über das Mittelmeer. Oder von vereinsamten Menschen in unseren Städten, die niemanden mehr haben. Oder von Tieren, die gequält werden. Die natürliche Reaktion ist Mitgefühl, Anteil zu nehmen an dem, was anderen widerfährt.

Doch oft stellen wir uns taub. Im Laufe unserer zum Teil schwierigen und stressigen Lebenserfahrungen haben wir manchmal keinen Zugang zum Mitgefühl in uns. Und selbst wenn wir über die Medien von überwältigendem Leiden hören, gehen wir darüber hinweg, um uns zu schützen. Wir werden apathisch und teilnahmlos, manche fühlen sich ohnmächtig, andere reagieren mit Zynismus und Verbitterung. Wieder andere fühlen so stark  mit, dass sie handlungsunfähig werden.

Meditation, regelmäßig geübt, kann Liebe und Mitgefühl stärken und innere Kraft aufbauen. Etwas Mut brauchen wir dafür, denn wir kommen mit schmerzhaften Anteilen in uns selbst und anderen in Kontakt. Mitgefühl hilft, mit dem Leiden konstruktiv und kreativ umzugehen und neuen Mut zu schöpfen. Denn jeder Mensch hat die Fähigkeit, Leiden zu überwinden.

Die eigentliche Übung des Mitgefühls geschieht mit vorgestellten Personen: Genau wie ich will dieser Mensch, dieses Tier kein Leid erfahren. So entsteht natürlicherweise der Wunsch, dass der andere von Leiden frei sein möge, das ist Mitgefühl. In der Meditation beziehen wir uns konkret auf jemanden, der leidet. Von hier aus gehen wir weiter und dehnen unser Mitgefühl auf andere aus.

Kurze Meditationsanleitung

Wir nehmen Platz an einem Ort, an dem wir für einige Minuten ungestört sein können. Wir nehmen eine Haltung ein, die ruhiges, entspanntes Sitzen ermöglicht.

Wir nehmen unseren Atem einige Minuten bewusst wahr, ohne ihn zu kontrollieren oder zu steuern. Wir atmen einfach ein und aus.

Nun rufen wir uns eine belastende Situation oder den Schicksalsschlag eines nahestehenden Menschen ins Gedächtnis: Unsere Mutter ist plötzlich erkrankt und voller Angst. Ein Freund hat seine Arbeit verloren und weiß nicht, wie es weitergehen soll.

Wir versetzen uns in die Situation hinein und öffnen uns. Wie fühlt es sich an zu erkranken oder die Arbeit zu verlieren? Welcher Schmerz, körperlich und geistig, ist damit verbunden? Je näher wir uns dem anderen fühlen, um so leichter fällt es, das Leiden nachzuempfinden.

Dann lassen wir ganz natürlich den von Herzen kommenden Wunsch entstehen: „Mögest du von Leiden frei sein. Mögest du die Situation gut meistern und alle Hilfe finden, die du brauchst.“ Wir wiederholen den Wunsch innerlich. Vielleicht kommt uns eine Idee, wie wir selbst hilfreich sein können. Unser Mitgefühl ist aktiviert.

Im nächsten Schritt stellen wir uns jemanden vor, den wir weniger gut kennen und lassen Anteilnahme entstehen: jemand, von dem wir aus den Medien hören, oder eine Arbeitskollegin, die gerade eine harte Zeit durchmacht. Wir nehmen ihr Leiden wahr und wenden uns dem Menschen zu. Wir wünschen innerlich: „Mögest du von diesem Leiden frei sein und Hilfe finden.“ Wir verweilen im Mitgefühl; dies schließt die Bereitschaft ein, etwas zu tun, um zu helfen.

Blick nach innen

Zwischendurch richten wir den Blick nach innen. Wir bemerken unsere Tendenzen auszuweichen, dicht zu machen. Dies zeigt sich zum Beispiel in ablenkenden Gedanken (“Ich muss noch einen Anruf erledigen”, „Was soll ich heute Abend kochen?“) oder im Zweifel (“Was soll so eine Meditation überhaupt?“). Achtsam bemerken wir, wie wir uns innerlich vom Leiden abwenden wollen und kehren behutsam zur Übung zurück.

Wenn uns das Leiden sehr aufwühlt, nehmen wir eine Pause und machen einige bewusste Atemzüge. Wir vergegenwärtigen uns, dass jede Situation, und sei sie noch so schmerzhaft, sich permanent wandelt und dass jeder Mensch das Potenzial hat, Leiden zu überwinden.

Wenn möglich, dehnen wir Anteilnahme und Wohlwollen auf weitere Menschen aus: Dies können Personen aus unserem Umfeld sein oder Menschen, die wir nur aus den Medien kennen. Wir lassen das tiefe Gefühl der Verbundenheit zu, das die Meditation befördert.

Auf dieser Ebene gibt es keinen Unterschied zwischen den anderen und mir. Wir alle wollen von Leiden frei sein und Wohlergehen erleben, sogar Menchen, die wir ablehnen oder hassen. Dies nicht nur intellektuell zu verstehen, sondern zu mit dem Herzen fühlen, ist Mitgefühl.

Wir gehen nur so weit, wie es in diesem Moment für uns geht und zwingen uns nicht zu Mitgefühl, wo es für uns gerade nicht möglich ist. Wir können jederzeit zu unserem Atem zurückkehren, wenn uns die Übung überfordert oder wir die Meditation beenden wollen.

Mit der Haltung des Mitgefühls gehen wir in den Alltag zurück und versuchen, Anteil zu nehmen am Schicksal anderer – und sei es, dass wir uns gedanklich mit ihnen verbinden. Wir haben dazu heutzutage unzählige Gelegenheiten. Mitgefühl ist eine der wichtigsten Kräfte in diesen Zeiten.

Birgit Stratmann

Buchtipp: Sharon Salzberg. Metta-Meditation. Buddhas revolutionärer Weg zum Glück. Arbor Verlag 2003

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Aktuelle Termine

Online Abende

rund um spannende ethische Themen
mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen
Ca. 1 Mal pro Monat, kostenlos

Auch interessant

julianboehm_Meister_Eckhart_in_a_white_monks_habit_with_a_ros_b77bc1fe-3349-4f4c-8800-d0c5b212328a_3 (1)

Teetrinken mit Gott

Meister Eckhart und die Präsenz Gibt es mehr als die tägliche Eile? Meister Eckhart, der selbst ein tatkräftiges und intensives Leben führte, war sich sicher: Die Antworten auf wichtige Lebensfragen finden wir in uns selbst. Wenn Stille einkehrt, kann der Mensch mit dem Göttlichen in Berührung kommen.
KI-Bild von Teresa von Avila, in die heutige Zeit gesetzt, Foto: Midjourney

Mystik trifft Zukunft

Wie Teresa von Ávila Meditation und Handeln verbindet Teresa von Ávila ist als christliche Mystikerin in die Geschichte eingegangen. Mit ihrer handlungsorientierten Achtsamkeit könnte sie einen Schlüssel für die Lösung unserer Probleme in der Hand halten. Sie sah die Meditation und Stille als Quelle für das Handeln an und begründete eine Spiritualität, die ein Handeln aus Liebe ins Zentrum rückt.

Newsletter abonnieren

Sie erhalten Anregungen für die innere Entwicklung und gesellschaftliches Engagement. Wir informieren Sie auch über Veranstaltungen des Netzwerkes Ethik heute. Ca. 1 bis 2 Mal pro Monat.

Neueste Artikel

Ahmed/ Unsplash

Die Kraft des Utopischen

Ernst Blochs Philosophie der Hoffnung Hoffnung spielt im menschlichen Leben eine große Rolle. Doch die Philosophie entdeckte diese vitale Kraft erst mit Ernst Bloch. Peter Vollbrecht über das „Prinzip Hoffnung“ in der Philosophie Blochs, Sozialutopien und die Kunst des Tagträumens hin zu einer besseren Welt.
Foto: Piotr Rosolowski

„Glaube an Dich, auch am dunkelsten Ort“

Eine Ukrainerin überlebte russische Gefangenschaft Die Ukrainerin Olena Piekh wurde 2018 in ihrer Heimat Donbas entführt und in Gefangenschaft misshandelt. Sie kam frei und lebt heute in Deutschland. An einem öffentlichen Abend erzählte sie ihre Geschichte und wie Liebe und unbändige innere Stärke sie retteten.
Getty Images/ Unsplash

Self-delusion – Why we need wisdom

Interview with Prof. Vervaeke (English) The human brain is susceptible to deception. Wisdom involves the ability to correct oneself again and again. Cognitive scientist John Vervaeke is convinced that we need a variety of wisdom practices for this. And: ‘Look for people who challenge you’. Because we can develop best in relationship with others.
Getty Images/ Unsplash

“Wir leiden unter Selbsttäuschung und brauchen Weisheit”

Interview mit Kognitionswissenschaftler Das menschliche Gehirn ist anfällig für Täuschungen. Weisheit beinhaltet die Fähigkeit, sich immer wieder selbst zu korrigieren. Dazu brauchen wir eine Vielzahl von Weisheitspraktiken, ist Professor John Vervaeke überzeugt. Und: „Suchen Sie Menschen, die Sie herausfordern“. Denn wir können uns am ehesten in Beziehung zu anderen weiterentwickeln.