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Zivilcourage: Wir müssen nicht Superman sein

Kirsten Baumbusch
Günther Bubenitschek und Stefanie Ferdinand zeigen, wie man Zivilcourage übt |
Kirsten Baumbusch

Bericht von einem Mut-Training

Raus aus der Schockstarre, wenn Unrecht geschieht, dazu bieten ein Kripo-Beamter und eine Theaterpädgogin ein Zivilcourage-Training an. Kirsten Baumbusch hat mitgemacht. In ihrem Bericht schreibt sie, was wichtig ist, um Schweigen und Wegschauen zu überwinden. Mut kann man lernen, so ihr Resumee.

Mutig sein, die Stimme erheben, einschreiten, Unrecht nicht zulassen; so wären wir gerne. Zivilcourage wird groß geschrieben in unserem Wertekodex. Schon als Kinder lernen wir, dass das wichtig ist. Und dennoch tun wir in aller Regel – nichts. Wir schweigen, schauen weg, wünschen uns, in einem Mauseloch zu verschwinden. Ein Beispiel, das ich selbst erlebt habe und das mich zu dem Zivilcourage-Training im Februar 2020 in Heidelberg brachte:

Eine Gruppe Jugendlicher steigt in die S-Bahn. Sie sind angetrunken und gereizt. Die junge Frau mit Kopftuch sitzt da und schaut auf ihr Smartphone. Augenblicklich wird sie zum wehrlosen Hassobjekt der Beschimpfungen. Rassistisch, frauenfeindlich, widerlich.

Der Wagen ist voller Menschen und voller Angst. Niemand tut etwas, wir sind wie gelähmt, seufzen nur erleichtert auf, als die Pöbler schließlich an der nächsten Haltestelle aussteigen. Das Opfer hat Tränen in den Augen, wirkt wie zusammengefallen. Nicht mal zu trösten bin ich in der Lage. Ich schäme mich, bin wütend auf mich und meine Hilfslosigkeit. Dieses Gefühl verfolgt mich tagelang.

Eines ist sicher, mit solchen Erlebnissen bin ich nicht allein. Günther Bubenitschek, Polizeibeamter frisch im Ruhestand, und Stefanie Ferdinand, Theaterpädagogin, wissen das. Deshalb geben die beiden im Tandem Trainings in Zivilcourage. An diesem Nachmittag machen sie das für angehende Erzieherinnen und Erzieher und mich als teilnehmenden Zaungast.

„Menschen, die helfen, kommen in aller Regel nicht zu Schaden“, erfahren wir. Und dass es nicht darauf ankommt, Superman oder Superwoman zu sein und sich kühn ins Getümmel zu stürzen. Die Polizei unter 110 zu rufen, andere um Mithilfe zu bitten, sich die Tätermerkmale einzuprägen, sich um die Opfer zu kümmern, das seien schon die wichtigsten Punkte.

Sich entschließen, etwas zu tun, ist wichtig

Die Hilflosigkeit, die wir empfinden, ist normal, so die Seminarleiter, aktiv für die gemeinnützigen Vereine „Prävention Rhein-Neckar“ und „Sicheres Heidelberg“. Wir benötigen Handlungsoptionen, die wir zumindest mental schon einmal durchgespielt haben, um reagieren zu können. Umso mehr Menschen da sind, umso weniger helfen, berichtet Günther Bubenitschek aus der Praxis. Verantwortungsdiffusion nennt sich das Phänomen.

Wenn wir aber Verantwortung übernehmen und Menschen gezielt aus der Lethargie reißen („Hey, sie mit der schwarzen Jacke, rufen Sie mal die Polizei!“), dann spüren wir schnell, dass wir etwas machen können. Dann löst sich die Schockstarre.

„Das Ganze als Notfall wahrnehmen und sich entschließen, etwas zu tun“, so der Polizist, das ist mehr als die halbe Miete. Wenn dann noch abrufbares Erfahrungswissen da ist, weicht die Lähmung sofort. Das gilt für die Profis von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst ebenso wie für uns Laien. Mut kann man lernen. Wenn ich mir etwas vorstellen kann, kann ich es auch tun.

Sogar paradoxe Interventionen sind möglich. Wenn der Pöbler in der S-Bahn unbedingt die Frau mit Kopftuch von ihrem Platz verdrängen möchte, kann ich ihm vielleicht mit ausgesuchter Höflichkeit meinen Sitzplatz anbieten und die Situation so gezielt deeskalieren.

Abstand halten, sich nicht in Gefahr bringen, aber sich schnell einen Überblick verschaffen – was im Erste-Hilfe-Kurs gilt, darf auch hier gelten, körperlich wie verbal. „Diese Sekunde, um durchzuatmen, die habe ich immer“, weiß Stefanie Ferdinand.

Stimme ist wichtig

Nach dem Theorieteil kommen Übungen. Bei der ersten geht es um Abstand. Wir gehen mal langsamer, mal schneller, mal einfühlsamer, mal ignoranter aufeinander zu. „Stopp“ sagen wir, wenn es zu nah wird. Erstaunlich, wie brutal das wirkt, wenn jemand das ignoriert, wie unterschiedlich die Abstände sind, die wir zu anderen benötigen, wie laut wir werden können, wenn wir uns trauen.

Stop sagen, wenn Grenzen überschritten werden. Foto: Kirsten Baumbusch

 

 

 

 

 

 

 

ist “Stimme ist wichtig“, lernen wir. Ich erspüre, dass ich „Stopp“ viel lauter, viel überzeugender und viel mehr aus dem Bauch heraussagen kann als „Nein“. Ich erlebe, wie mir das Adrenalin einschießt, wenn eine Mauer aus Menschen auf mich zukommt. Ich spüre, wie viel standfester ich bin, wenn ich die Füße versetzt und etwas breitbeiniger aufstelle und wie ich jemanden auf Abstand halte, wenn ich ihm die Hände, ebenfalls versetzt, vors Gesicht halte.

Wir lernen, dass nicht nur Notwehr, sondern auch Nothilfe gesetzlich geschützt ist. Dass Menschen, die sich einsetzen grundsätzlich unfallversichert sind in Deutschland. Aber auch, dass, wenn ich etwas sehe und nichts mache, das als unterlassene Hilfeleistung geahndet werden kann.

Zum Ende hin wird der „Ernstfall“ geprobt. Wir sitzen oder stehen alle in einem improvisierten S-Bahn-Wagen. Zwei junge Männer, offensichtlich auf Randale aus, steigen zu. Sie begehren den Platz von zwei harmlosen Passagieren, fordern sie auf, die Sitze zu räumen. Die weigern sich. Die Stimmen schaukeln sich hoch. Adrenalin liegt in der Luft. Alles in meinem Rücken, ich leide Höllenqualen, drehe mich um.

Ein junger Mann springt auf, mischt sich ein. Ich stehe ebenfalls auf, drehe mich um. Das Stimmengewirr wird ohrenbetäubend. „Stopp“, brülle ich, so laut ich kann. „Holen Sie bitte die Polizei“, bittet mich ein Mitfahrer. „Das geht zu lange“, denke ich. Aber da gibt es doch die Notrufknöpfe in der S-Bahn, oder? So schießt es mir durch den Kopf. Den entschließe ich mich zu drücken und teile dies lautstark mit: „Polizei kommt“. Unsere zwei Trainer retten uns schließlich aus der Situation und loben uns kräftig. Mein Herz klopft bis zum Hals, aber es fühlt sich gut an, etwas getan zu haben.

Ja, Mut kann man lernen – ein bisschen zumindest. „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen, keine Sekunde, kein Millimeter“, schärfen uns die beiden noch ein. Ich hoffe, ich lebe das künftig mutiger als bisher.

Kirsten Baumbusch

Lesen Sie auch das Interview mit Günther Bubenitschek Handeln, wenn Unrecht geschieht

Tipps für Zeugen und Helfer:

  1. Hilf, aber bring Dich nicht in Gefahr
  2. Ruf die Polizei unter 110
  3. Bitte andere um Mithilfe
  4. Präg Dir Tätermerkmale ein
  5. Kümmer Dich um Opfer
  6. Sag als Zeuge aus

Mehr Informationen unter:

www.aktion-tu-was.de

www.zivile-helden.de

www.praevention-rhein-neckar.de

www.sicherheid.de/

Shutterstock

Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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