Wir sollten Kindern etwas zutrauen
Oft müssen Eltern Entscheidungen gegen den Willen ihrer Kinder treffen. Dabei sollten wir nicht in die „Heile-Welt-Falle“ tappen, so der Pädagoge Steve Heitzer. Denn Kinder können Krise, wenn wir ihnen das zutrauen und sie mit gesunder Distanz mitfühlend begleiten.
“Wir können unsere Kinder sicht nicht zu sehr lieben, aber wir können uns aus Liebe zu sehr sorgen”. Steve Heitzer
Nehmen wir eine der alltäglichsten frühen Krisen von Kindern: Das Kind soll in die Kita, Krippe, Kiga – und es will nicht. Wenn wir uns dazu entscheiden, unser Kind in eine Einrichtung zu geben, muss uns bewusst sein, dass für unser Kind damit eine oder mehrere Krisen einhergehen. Hier ist es gut, ein paar Dinge zu beachten:
Hellwach 1: Wer trifft die Entscheidung?
Wir Erwachsene treffen diese Entscheidung. Im Kindergarten habe ich immer wieder Eltern erlebt, die meinten, ihr Kind würde das entscheiden: schon die Wahl des Kindergartens oder wann, wie oft etc. das Kind hingeht.
Aber das funktioniert nicht. Und es ist auch nicht ehrlich. Ein Kind lebt im Augenblick und kann sagen, ob ihm in diesem Augenblick etwas gefällt oder nicht. Aber es kann nicht beurteilen, ob es für es selbst und v.a. für die Eltern gut oder wichtig ist, in den Kindergarten zu gehen.
Ob ein Kind in die Kinderkrippe oder den Kindergarten gehen soll, ist eine Entscheidung, die wir Erwachsene treffen müssen, weil sie für Kinder nicht adäquat sind. Sie überfordern manchmal schon uns Eltern, wie soll erst ein Kind sie treffen können? Natürlich kann unser Kind ein Gefühl dazu haben. Aber sich allein auf dieses Gefühl zu verlassen, wird der Sache nicht gerecht und überfordert alle.
Die Gefahr besteht, dass Eltern dann dazu tendieren, Kindern einzureden, sie zu überreden, ja zu manipulieren, damit diese die Entscheidung treffen, die eigentlich sie selbst treffen sollten.
Glauben Sie mir, in meiner Arbeit als Pädagoge habe ich das nicht nur einmal erlebt, wie subtil oder offen Eltern dann Druck ausüben auf ihre Kinder, anstatt einfach zu ihrer Entscheidung zu stehen.
Warum trauen sich Eltern oft nicht, etwas zu entscheiden? Weil sie nett sein wollen. Dabei brauchen wir in Pädagogik und Erziehung den Mut zum Buhmann (Buhfrau): Entscheidungen treffen, die Kinder nicht nett finden. Entscheidungen treffen, für die wir nicht geliebt werden.
Hellwach 2: Müssen wir nett sein?
Wenn wir nett sein wollen, halten wir es schlecht aus, wenn unsere Kinder ärgerlich auf uns sind.
Wenn Kinder aus dem vertrauten Nest ihres Zuhauses in eine andere und zunächst fremde Umgebung hineinwachsen sollen, dann übernehmen wir die Verantwortung für diese Entscheidung und tragen die Konsequenzen dafür.
Eine Konsequenz ist, dass unser Kind manchmal oder oft traurig ist, weil es einfach lieber bei uns bleiben würde oder weil es einfach für das Kind noch zu früh ist.
Aber unsere Lebensumstände, der gesellschaftliche Konsens oder andere Gründe haben zu dieser Entscheidung geführt, und wir sollten dazu stehen. Wir müssen damit leben, dass unser Kind hin und wieder traurig, bockig oder wütend ist. Wir dürfen entscheiden, und Kinder dürfen diese Gefühle von Wut oder Trauer erleben.
Besser hell wach als heile Welt
Wenn wir in die „Heile-Welt-Falle“ tappen, halten wir es nicht gut aus, dass unsere Kinder solche Gefühle haben. Und wir erleben dann selbst auch noch Gefühle von Trauer, Schuld, oder wir werden bockig, weil wir „das Theater“ nicht leiden können.
Wenn wir hier nicht hell wach sind, laden wir die Verantwortung für unsere Gefühle anderen auf, den Kindern. Wir sagen dann: „Jetzt mach nicht so ein Theater!“, oder wir suchen andere, die schuld sind. „Warum mag mein Kind bloß nicht in den Kindergarten gehen…. vielleicht wieder dieser Jakob?“…. Oder: „War die Erzieherin nicht nett mit dir?“
Besser hellwach statt heile Welt. Wenn wir hellwach sind, wissen wir, dass das Leben nicht immer nett ist. Nicht zu uns und nicht zu den Kindern. Und dass wir nicht immer nett sein können. Aber das muss kein Problem sein… wenn wir nicht eins daraus machen! Wenn wir hellwach sind, müssen wir keine Geschichten erfinden.
Bleiben wir beim Naheliegenden und beschreiben einfach, was gerade ist, um in Kontakt zu kommen mit dem, was ist, was geschieht. Das ist eine Form der Achtsamkeit: Wahrnehmen, was passiert, ohne zu urteilen. „Du bist traurig/ärgerlich/wütend, weil du jetzt nicht so gern ohne mich hier bleiben möchtest, stimmt‘s?“ „Ich finde es auch schade, dass ich nicht hier bleiben kann, oder wir zuhause bleiben können.“
Hellwach 3: Den Kindern etwas zutrauen
Das Leben ist weder immer nett noch easy. Aber trauen wir den Kindern auch zu, was wir ihnen zumuten! Wenn wir uns entschieden haben, unser Kind in eine Einrichtung zu geben, muten wir ihm vermutlich Krisen zu: Aus dem Kreis des vertrauten Zuhause hinausgehen, den Radius vergrößern und sich in einer – vorerst – fremden Umgebung einfinden.
Das ist kein Klacks, und das muss uns auch bewusst sein. Es wird nicht ohne Schwierigkeiten abgehen, da können sich alle, die dort arbeiten, noch so abmühen. Hier braucht es Verständnis, Empathie und Mitgefühl. „Hellwach“ zu sein – hilft uns dabei. Die Illusion der „heilen Welt“ ist nicht hilfreich.
Empathie und Mitgefühl haben viele Eltern. Was ihnen eher fehlt ist das, was ich „gesunde Distanz“ nenne. Wir können unsere Kinder sicher nicht zu sehr lieben. Aber wir können uns zu sehr sorgen. Zu viel Sorge schwächt unsere Kinder. Sie signalisiert ihnen ständig: „Du bist schwach, ich muss mir Sorgen machen, du brauchst Hilfe, du schaffst das nicht!“
Es geht nicht darum, sie mit Krisen allein zu lassen, sondern die rechte Balance zu finden, also nicht zu bagatellisieren und zugleich nicht zu dramatisieren. Wahrnehmen, was ist. Es zum Ausdruck bringen, einfach beschreiben – eine der wichtigsten Künste, die wir Eltern und Pädagoginnen und Pädagogen entwickeln sollten. So fühlen sich die Kinder gesehen oder „gefühlt“ (Daniel Siegel). Ohne dass wir Geschichten erfinden, interpretieren, urteilen und dramatisieren.
Kinder sind Anpassungskünstler
Nicht dramatisieren ist eines der wichtigsten Mantras für Eltern, wie Naomi Aldort sagt. Kinder sind Anpassungskünstler und Kinder können unglaublich viel Resilienz entwickeln, wenn wir sie adäquat unterstützen, um an ihren Herausforderungen und Krisen zu wachsen. Unsere Schwierigkeiten bergen so viel Potenzial. Ich hätte das selber nie geglaubt. Aber gerade meine Erfahrungen mit Kindern haben mir gezeigt: Störungen haben Vorrang!
Konflikte und Krisen sind das Stroh, das wir in Gold verwandeln können,
-
wenn wir uns darauf einlassen können,
-
wenn wir uns Zeit geben und einander unterstützen, ohne mit schnellen Lösungen Krisen „weg-zumachen“
-
Und wenn wir dem Menschen etwas zutrauen, auch schon den kleinen
Ich habe selbst aus den Konflikten mit Kindern und in der Begleitung ihrer Konflikte untereinander und ihrer Krisen für meine pädagogische Arbeit wie für mein Leben am meisten gelernt!
Was können wir für unser Leben daraus lernen?
Krisen sind kein Zeichen dafür, dass wir etwas falsch machen. Krisen gehören zum Leben dazu. Und sie bergen ein großes Potenzial. Frieden und Glück bestehen nicht darin, dass wir ein nettes Leben haben, sondern dass wir Frieden finden, gerade wenn es nicht nett ist.
Ein Zitat aus Brené Browns (aus ihrem Buch Daring Greatly. How the Courage to be Vulnarable Transforms the Way We Live, Love, Parent and Lead):
“Kinder zu erziehen, die hoffnungsvoll sind und den Mut haben, verletzlich zu sein, bedeutet, einen Schritt zurückzutreten und ihnen die Chance zu geben, Enttäuschungen zu erleben, mit Konflikten umzugehen, zu lernen, sich durchzusetzen und zu scheitern. Wenn wir unseren Kindern immer in die Arena folgen, die Kritiker zum Schweigen bringen und ihnen den Sieg versichern, werden sie nie lernen, dass sie die Fähigkeit haben, aus eigener Kraft Großes zu wagen.”
Steve Heitzer arbeitet seit zwanzig Jahren mit Eltern und Kindern. 2016 erschien sein Buch „Kinder sind nichts für Feiglinge. Ein Übungsweg der Achtsamkeit.“ im Arbor-Verlag. Sein nächstes Buch ist gerade in Vorbereitung.