Über das Unbehagen der modernen Frau
Was moderne Frauen von matriarchalen Prinzipien lernen können, dazu äußert sich die Sozialanthropologin und Frauenforscherin Veronika Bennholdt-Thomsen im Interview. Die Autorin untersuchte matriarchale Strukturen in der südmexikanischen Kleinstadt Juchitán, in der die Frauen das Sagen haben.
Das Interview führte Michaela Doepke
Frage: Sie sind bekannt für Ihre Matriarchatsforschung. Existiert das Matriarchat (1) in Mexiko heute noch so, wie sie es in Ihrem Buch beschrieben haben?
Bennholdt-Thomsen: Ich bin eigentlich Anthropologin. Wirklich ausführlich hat sich Frau Heide Göttner-Abendroth mit der Matriarchatsforschung beschäftigt. Es war eher ein Zufall, dass ich durch besondere Erlebnisse, die ich in Juchitán als Sozialanthropologin hatte, auf diese Thematik gestoßen bin. Ich bin dort wirklich zufällig vorbeigekommen, kannte Mexiko bereits von der Forschung her gut und war sehr erstaunt über die besonderen Lebensformen, die ich dort vorgefunden habe.
Um sie benennen zu können, bin ich zu diesem Ausdruck Matriarchat gekommen. Insgesamt spreche ich lieber über Matriarchate im Plural. Denn es sind matriarchale Prinzipien, die sich auch nach wie vor in unseren patriarchalen Verhältnissen zeigen oder darin verborgen sein können. Insofern ist das, was ich mit meinem Team gemeinsam erforscht habe, nur eine Zeitaufnahme . (2)
Die Stärke der Frauen
Und wie haben sich diese matriarchalen Prinzipien geäußert?
Nun, dazu sagt die Anthropologie schon lange etwas. Das ist die sogenannte Matrilokalität als „Wohnsitz bei der Mutter“. Es ist das Haus der Mutter, in dem Töchter und Söhne leben und auch ihr Leben lang bleiben.
Die Mutter steht im Mittelpunkt des ganzen verwandtschaftlichen und gemeinschaftlichen Gefüges. Die Vererbung beispielsweise läuft über die mütterliche Linie. Dahinter steht eine besondere Weltanschauung, mit der die Gesamtgesellschaft auf die Verhältnisse blickt. Diese Weltsicht ist vor allem von Wertschätzung gegenüber dem Weiblichen geprägt.
Ein Prinzip ist die Nicht-Gewalt gegen Frauen. Gewalt ist nicht abwesend, aber deutlich weniger. Da gibt es die Stärke der Frauen, mit der sie sich gesellschaftlich und politisch sehr selbstbewusst als Frauen präsentieren. Und es gibt insgesamt die hohe Wertschätzung des Lebendigen, des Gebärens, des Geboren-worden-seins.
Wie wirkt sich das Matriarchat auf das Zusammenleben und auf die Wirtschaft aus?
Nun, im Zentrum steht die Subsistenzkultur (3) und damit das, was gut und notwendig ist für das Leben, sowie die Prinzipien der Fruchtbarkeit, des Geboren-Werdens und Vergehens und nicht, wie wir das heute global kennen, das Haben und das Anhäufen, das auf dem Töten und Abtöten basiert.
Handel in Händen der Frauen
Und diese matriarchal geprägte Wirtschaftsform wird vor allen Dingen durch den Handel bestimmt, oder?
In Juchitán ist der Handel in Händen der Frauen. Die Rohprodukte werden vor allen Dingen durch die Landwirtschaft, durch das bäuerliche Wirtschaften herbeigeschafft. Dies geschieht durch eine besondere Form von Arbeitsteilung, in der die Männer das Land bestellen und die Fischerei betreiben und die Frauen die Verarbeitung und die Verteilung übernehmen. Es gibt eine klare geschlechtliche Arbeitsteilung, auch in den Handwerken.
Also Handel ist dort etwas anderes, als wir uns darunter vorstellen, wo es hauptsächlich um mehr Geld geht. Dort geht es hauptsächlich um die Verteilung. Zum Beispiel sind Preise ganz variabel. Das hängt von den sozialen Beziehungen ab und wie bedürftig die Personen zum Beispiel sind.
Wie deuten Sie das weltweite Wiedererstarken des Patriarchats (4), also dass Machthaber wie Donald Trump, Erdogan oder fundamental religiöse Gruppen im Islam an Einfluss gewinnen? Haben die Männer Angst, dass sie bald keine Macht mehr über moderne Frauen haben?
Ich würde das nicht Wiedererstarken des Patriarchats nennen. Denn die Männer hatten immer einen großen Einfluss, bis heute. Ich würde das lieber konkret benennen. Das sind Kriegstreiber. Es ist ein typisch patriarchales Prinzip, den Krieg, das Töten ins Zentrum der eigenen Macht und des politischen Handelns zu stellen.
Und zu Ihrer Frage, ob die Männer Angst haben, keine Macht mehr über moderne Frauen zu haben: Ich denke, die moderne Frau ist sehr patriarchal geprägt.
Obwohl ein Mann wie Donald Trump sich öffentlich sehr abwertend über Frauen geäußert hat, wurde er von vielen Frauen gewählt. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Die moderne Frau, so wie ich es verstehe, ist mit dem System konform. Frauen denken in Kategorien des Patriarchats, sie denken ans Mehr-Haben-Wollen und glauben beispielsweise, dass Trump ihnen das irgendwie verschaffen kann.
Was könnten westliche Frauen bzw. Gesellschaften vom Matriarchat lernen?
Wir sollten von matriarchalen Prinzipien sprechen. Das eine, idealtypische Matriarchat gibt es nicht und hat es nie gegeben. Vorrangig ist für mich, der eigenen Intuition zu vertrauen. Und das passiert auch zurzeit, dass wir mehr das Lebendige und das, was notwendig ist zum Leben ins Zentrum stellen und nicht dieses Haben-Wollen, den Konsumimus. Auch wäre es gut, sich zu informieren über das, wie solche Gesellschaften anders und vielleicht besser gelebt haben. Wir sollten uns inspirieren lassen und das Unbehagen, was Frau mit den gegebenen Bedingungen hat, auch äußern.
Moderne Frauen vermissen Ansehen und Wertschätzung
In Europa hört man in den Medien kaum mehr etwas von einer feministischen Bewegung. Frauen sind immer noch von der Ungleichheit im Job, bei der Rente betroffen, ebenso von der geringen Wertschätzung und nichtentlohnter Kindererziehung und Hausfrauentätigkeit. Aber sie wehren sich nicht, sie solidarisieren sich nicht, sie kämpfen nicht für Ihre Rechte. Warum nicht?
Ich finde, dass wir zurzeit ein wirkliches Erstarken des Unbehagens in der Moderne erleben, das die Frauen haben. Im Zentrum dieser ganzen Fragestellung steht ja – und das haben Sie genannt – die geringe Wertschätzung und das Ansehen der Frauen. Es ist die mangelnde Wertschätzung für diese besondere physische Fähigkeit, Kinder zu gebären.
Ich bin der Überzeugung, dass es jetzt einen Wandel in der Einstellung gibt. Und ich stelle auch fest, dass ich in letzter Zeit immer öfter zu diesen Themen angesprochen werde und das, was wir zu Beginn der feministischen Forschung, also in den 60-er und 80-er Jahren, erarbeitet haben, wieder stärker in den Blick gerät.
#MeToo-Debatte und sexuelle Gewalt
Die #MeToo-Debatte lässt neue Hoffnung aufkeimen, dass Frauen sich den Mund nicht mehr verbieten lassen und öffentlich anklagen, wenn sie von sexuellem Machtmissbrauch betroffen sind. Haben Sie die Hoffnung, dass bessere Zeiten für die Frauen anbrechen?
Ich denke, dass es einen Bewusstwerdungsprozess gibt, der sehr stark im Inneren der Frauen intuitiv verankert ist. Und das Wichtige daran ist: Sexuelle Gewalt ist ja der Kern der kriegerischen patriarchalen Gewalt. Die #MeeToo-Debatte sehe ich durchaus in diesem Kontext. Im Kontext der Sorge der europäischen und US-amerikanischen Gesellschaft vor der Kriegstreiberei und vor dem möglichen Ausbruch eines Krieges.
Was ist Ihre Zukunftsvision für die Frauen in aller Welt?
Dieses Globaldenken, das auf Expansion und Habenwollen setzt, ist mir nicht sympathisch. Ich denke vielmehr, dass die Vielfalt und die individuellen Besonderheiten eine große Rolle spielen sollten, z. B. das intuitive Anknüpfen an das physisch-biologische und auch spirituelle Wissen des Fraulichen, des Mütterlichen.
Und auch das kann in der Welt sehr unterschiedliche Formen annehmen, so wie auch die Umgebung, in der wir leben, die Natur sehr unterschiedlich ist. Es gibt einen deutlichen Bezug zwischen dieser Art von Intuition in uns und der Naturumgebung. Insofern sollten wir uns dieser Vielfalt und dieser besonderen Verbindung auch bewusst werden.
Ist es nicht genau das, was die Welt aktuell am dringendsten braucht: die mütterliche Kultur und die Werte des Bewahrens, Beschützens, der Fürsorge für die Erde und für alle Schwachen in der Gesellschaft?
Natürlich.
Und engagieren Sie sich auch politisch für die Frauenrechte?
Das ist immer die Frage, was unter Politik verstanden wird. Ich halte nicht viel davon, mich für die formalen Gleichberechtigungsrechte der Frauen zu engagieren, denn ich komme von der Sozialanthropologie und von der Philosophie her. Ich setze mich in diesen Bereichen jedoch sehr stark und permanent für ein frauengerechtes Leben ein, das im politischen Alltag gerade von uns heutigen Frauen und Müttern durch ein Wiederanknüpfen an ein Wissen, das intuitiv in uns steckt, umgesetzt werden kann.
Frau Bennholdt-Thomsen, herzlichen Dank für dieses Gespräch!
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Anmerkungen:
(1) Als Matriarchat wird ein Gesellschaftstyp bezeichnet, in dem alle sozialen und rechtlichen Beziehungen über die Abstammung der mütterlichen Linie organisiert sind. Im populären Sprachgebrauch der Gegenwart wird unter Matriarchat eine Gesellschaftsordnung verstanden, in der Frauen Macht über Männer ausüben, quasi eine spiegelbildliche Umkehrung des Patriarchats. Tatsächlich aber sind matriarchal geprägte Gesellschaften egalitär, d.h. nicht hierarchisch. Die empirisch erforschten Kriterien stammen aus den völkerkundlichen Wissenschaften.
(2) Das Buch über Juchitán wurde 1994 erstmals veröffentlicht.
(3) Subsistenz ist ein Begriff für das Prinzip der Selbsterhaltung und bezeichnet die Sicherung des Lebensunterhaltes zur unmittelbaren Befriedigung der Grundbedürfnisse durch Eigenarbeit. Er umfasst alles, was materiell und sozial zum alltäglichen Überleben benötigt wird.
(4) Patriarchat (wörtlich „Väterherrschaft“) bezeichnet laut Wikipedia ein System von sozialen Beziehungen, Werten und Verhaltensmustern, das von Vätern und Männern geprägt, kontrolliert und repräsentiert wird.
Veronika Bennholdt-Thomsen, Sozialanthropologin, engagiert in der Frauenbewegung und der deutschen Frauenforschung. Sie hat zahlreiche Bücher und Artikel zu folgenden Themen verfasst: Soziale Bewegungen von Bauern und Frauen, feministische Gesellschaftstheorie, alternative Wirtschaftstheorie, Matriarchatsforschung. Sie war an verschiedenen Universitäten als Hochschullehrerin tätig und bis zu seiner Auflösung in 2016 Leiterin des privaten Instituts für Theorie und Praxis der Subsistenz e.V. in Bielefeld. Seit 20 Jahren vertritt sie das Fach Subsistenzkultur als Honorarprofessorin an der Universität für Bodenkultur in Wien. Autorin folgender Bücher: Juchitán – Stadt der Frauen, Rowohlt Verlag 1994. Geld oder Leben. Was uns wirklich reich macht, oekom Verlag.