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Schein der Normalität in Kriegszeiten

Universitätsgebäude in Czernowitz, Foto: Oleh Sharapov
Universitätsgebäude in Czernowitz, Foto: Oleh Sharapov

Besuch in der Ukraine

Die Stadt Czernowitz liegt am Rande der Ukraine, 40 Kilometer von Rumänien entfernt. Es gab noch keine russischen Angriffe, aber der Krieg ist allgegenwärtig. Reiner Scholz hat das Städtchen besucht und mit Menschen gesprochen.

Vor fünf Stunden sind wir in Cisinau, der Hauptstadt der Republik Moldau, losgefahren. Eine Reisegruppe aus Deutschland, 15 Personen. Jetzt rollen wir auf den Grenzübergang in die Ukraine zu. Die beiden moldauischen Fahrer wirken entspannt: Diese Tour machen sie wöchentlich.

Dies hier ist eine private Reise. Ein Freund, Julian, der in Moldau lebt, hatte herumgefragt, wer die Reise in die Ukraine nach Czernowitz (ukr.: Tschernivzi) mitmachen würde. Dort leben Menschen, die Julian und seine Freunde aus Deutschland mit Geld und Sachspenden unterstützten.

Und diese Menschen würde er jetzt gerne mit anderem zusammen besuchen. Es sind Binnen­flüchtlinge, die der Einmarsch der Russen oder die „vollumfängliche Invasion“, wie es hier heißt, aus ihrer Heimat vertrieben hatte.

Auf nach Czernowitz, was wir in zwei Stunden erreichen sollen. Eine Stadt mit einer großen kulturellen Vergangenheit. Sie gehörte lange zu Österreich-Ungarn, später zu Rumänien, mal zu Deutschland, dann zur Sowjetunion, nun zur Ukraine.

Hier wechselte die Herrschaft ständig. 1875 schenkte Kaiser Franz Josef I. der Stadt eine deutschsprachige Universität, deren Architektur bis heute das Prachtstück des Ortes und Weltkulturerbe ist.

Czernowitz brummte früher vor multikulturellen Einflüssen, es war ein Melting Pot mit deutsch-österreichischen, jüdischen, polnischen und ruthenischen (ukrainischen) Bevölkerungsteilen.

Ukrainische Stadt mit europäischen Wurzeln

Diese Stadt hat große Namen hervorgebracht wie Paul Celan, Rose Ausländer, Gregor von Rezzori oder den berühmten Tenor Josef Schmidt. Dieser begann als Kantor in Czernowitz, wurde ein Radiostar und komponierte „Ein Lied geht um die Welt“.

Heute ist Czernowitz eine eher verträumte Stadt am südwestlichen Rande der ukrainischen Welt, 40 Kilometer von Rumänien entfernt. Bisher hatte es, anders als in Lwiw (Lemberg) oder im fast benachbarten Iwano-Frankiwsk noch keine russischen Angriffe gegeben.

Gedenktafeln gefallener Soldaten mitten in der Stadt, Foto: Scholz

Das liege daran, so witzeln die Ukrainner*innen hier, dass die Russen nur alte Landkarten hätten, auf denen Czernowitz noch rumänisch sei. Wahrscheinlich sind es andere Gründe. Die Stadt hat keine Industrie und ist auch kein ökonomischer Knotenpunkt.

Dennoch ist der Krieg spürbar. Am Zentralen Platz gedenken die Bewohner*innen ihrer gefallenen Soldaten, die von farbigen Fotos, aufgereiht an einer langen Tafel, freundlich auf die Stadt und ihr Rathaus blicken.

Aus den benachbarten Straßen, insbesondere der Kobylianskoj, der früheren Herrengasse mit ihren Cafes und Restaurants, rattern an den Eingängen Notstromaggregate. Jeder Bürger, jede Bürgerin hat eine App, die rechtzeitig vor Angriffen warnt.

Als am ersten Abend im Restaurant plötzlich der Strom ausfiel, hatte die Bedienung sofort fünfarmige Kandelaber zur Hand. Man ist hier auf alles vorbereitet. Allein die Knappheit an Wasser und Energie ist ein großes Problem, sogar im Sommer.

Es gibt rund 80.000 Binnenflüchtlinge in Czernowitz

Welchen Eindruck macht die Stadt auf den flüchtigen Besucher? Sieht man in ihr weniger Männer im wehrfähigen Alter ? Es scheint so. Und wenn, dann sind sie eher in Uniform. Auch Soldatinnen sind zu sehen. In der ukrainischen Armee ist der Frauenanteil recht hoch.

Läden verkaufen Militärzubehör, Foto: Scholz

Auf großen Reklametafeln werben einzelne Bataillone dafür, sich ihnen anzuschließen. Bestimmte Fotos sprechen gezielt Frauen an. Es gibt auch Geschäfte mit Militärzubehör. Die ausgestellte und voll ausstaffierte Werbe-Figur, die vor der Tür steht, ist weiblich.

Ansonsten wirkt alles eher normal: Die Sonne scheint, die Cafes sind besetzt, Menschen flanieren durch die Straßen. Ein Nebeneinander von Krieg und Frieden. Czernowitz soll derzeit etwa 250.000 Einwohner haben. Genau ist das aber nicht zu sagen. Dazu kommen, geschätzt, etwa 80.000 Binnenflüchtlinge, die aus Charkiv, Kyiv, Kramatorsk, Mariupol und anderen Städten flüchten mussten.

Ausländer trauen sich kaum, nach Czernowitz zu kommen

Auf unserer Reise haben wir uns mit einigen von ihnen getroffen. An der Universität im Kultur- und Wissenschaftszentrum der NGO „Gedankendach“ sitzt inmitten vieler Bücher der Sportlehrer Vitali.

Er ist ein melancholischer Mann mit breiter Brust, auf seinem schwarzen T-Shirt steht: „Lieber Gott, wenn du mich schon nicht schlank machen kannst, dann mache wenigstens meine Freunde fett“. Der Humor, so scheint es, muss auch in diesen Zeiten nicht unbedingt pausieren.

Dabei gibt es wenig zu lachen. Er erzählt, dass er 2014 von der Krim fliehen musste und es 2023 nur knapp aus den von russischen Truppen besetzten Gebiet schaffte. Er habe acht Kinder, sagt er lächelnd. Drei eigene und für fünf weitere müsse er sorgen, teilweise, weil die Eltern gestorben sind.

Er müsse mit 500 Dollar im Monat auskommen. Doch mangelndes Geld sei nicht das einzige Problem. Einmal hatten sie vier Tage kein Wasser. Sie waren auch schon mal acht Stunden ohne Strom. Er bedankt sich sehr bei der Gruppe, aus deren Mitte ihm jeden Monat 100 Euro gespendet werden.

Nach ihm spricht Juri. Er lebte mit Frau und Familie in der Nähe des Staudamms von Saporischa. Als dieser, wie er sagt, von den Russen gesprengt wurde, stiegen die Wassermassen im Nu. Unter größten Mühen gelang es ihm, seine Familie und andere mit einem Boot zu retten. Er zeigt Dias von den Fluten.

Die universitäre Einrichtung Gedankendach hilft auch ganz praktisch. Oxana und einige Helferinnen verteilen Lebensmittel, die aus Deutschland geliefert wurden, an Bedürftige.

Bis nach Czernowitz fahren in der Regel die deutschen Transporter. Den Weitertransport in den Osten übernehmen ukrainische Fahrzeuge. Das ist eine der wenigen West-Ost-Brücken, die noch verlässlich funktionieren.

„Früher hatten wir sehr viel persönlichen Austausch mit deutschen Universitäten und richtig interessanten Personen“, sagt die Literaturwissenschaftlerin Oxana. „Das fehlt total, weil sich niemand traut zu kommen“.

Alle wollen zurück in die Heimat

Wir essen zu Mittag in einer Kantine, die mitten in der Stadt von vertriebenen Menschen aus Charkiv in Eigenregie betrieben wird und sich größter Beliebtheit erfreut. Wir besuchen eine Notunterkunft, eigentlich ein Studentenwohnheim, in dem Geflüchtete auf engsten Raum schon seit zwei Jahren ausharren.

Mancherorts werden die größeren Wohneinheiten durch lange Stoffbahnen provisorisch räumlich getrennt. Geleitet wird das Haus derzeit von einer ukrainischen Lehrerin, die auch aus den besetzten Gebieten kommt. Unter den russischen Besatzern war sie im Gefängnis. Sie hätten bei ihr ein Foto mit der Inschrift: „Ukraine über alles gefunden“ gefunden und sie dann verhaftet.

Als sie frei kam, hat sie sich nach Czernowitz durchgeschlagen. Sie habe immer noch Schüler, unterrichte online, sogar im Ausland. In die Häuser und Wohnungen, die die Geflüchteten in der Ostukraine zurück ließen, haben sich mittlerweile Russ*innen einquartiert.

Deren erste Reaktion sei Überraschung gewesen: „Wie konntet ihr hier so schön leben“. „Ja, es ging uns gut“, erzählt sie. Man fühle sich auch in Czernowitz sehr wohl, es sei eine schöne Stadt, aber: „Alle hier wollen zurück in ihre Heimat“.

Der Höhepunkt der viertägigen Fahrt war ein Ausflug mit allen Menschen, für die die regelmäßigen Spenden aus Deutschland überlebenswichtig sind. Auf der Hinfahrt saß Tanya neben uns, eine Krankenschwester. Sie habe drei Kinder, erzählt sie, ihre Tochter sei von russischen Soldaten vergewaltigt worden.

Hilfe für verletzte Soldaten in den Krankenhäusern

In dem Ausflugslokal nach einem gemeinsamen Foto nehmen wir, noch etwas schüchtern, an einer großen Tafel Platz. In jeder Sekunde spüren wir Herzlichkeit. Die Menschen bedanken sich immer wieder, dass wir gekommen sind und sie in diesem grauenvollen Krieg nicht vergessen sind.

Kleine Herzchen in blau und gelb, die wir bekommen, sind mehr als Symbolik. Hier, wie auch an anderen Tagen, fließen viele Tränen: Tränen der Rührung und der Dankbarkeit. Etwas beschämt mussten wir daran denken, wie materiell gut es den meisten von uns geht und wie mit einer vergleichsweise kleinen Summe den Menschen hier geholfen werden kann.

Es hat sich mittlerweile in der Ukraine neben der immer knappen staatlichen Hilfe ein Netzwerk an Selbstorganisationen herausgebildet. Am nächsten Tag besuchen wir die NGO „Recht auf Schutz“, die es nicht nur in Czernowitz gibt.

Die Helfenden hier, erkennbar an den blauen Westen des UNHCR, leisten juristische Hilfe beim Umsiedeln. Sie besorgen oder beglaubigen Papiere, beschäftigen sich mit den juristischen Fragen um zerstörte Häuser, Eigentumsfragen, Versicherungen, all das.

Am Nachmittag erzählen zwei Frauen, dass sie regelmäßig für die Soldaten kochen würden, die verletzt in den Czernowitzer Krankenhäusern liegen. Immer Sonntags. Sie würden dann die Speisen persönlich vorbeibringen.

„Die Soldaten essen tüchtig“, sagt die Frau, die aus der Ostukraine fliehen musste. Und die ihre Arbeit vielleicht ein bisschen darüber hinwegtröstet, dass sie in diesem Krieg bereits ihren Bruder verloren hat.

Neben den Speisen sei die persönliche Anteilnahme mindestens genau so wichtig. „Mal jemanden in den Arm nehmen“, denn die oft noch jungen Soldaten mit teilweise schweren Verletzungen hätten hier oft keine Verwandten.

Es gibt so viel Gesprächsbedarf, dass die Helferinnen nie gehen sollen. Wenn aber die Zeit um ist und die Frauen aufbrechen müssen, nehmen die Soldaten immer die Hände der Helferinnen und fragen: „Wann kommt ihr wieder“.

Was darf man in Kriegszeiten sagen?

Der Krieg stellt viele vor neue Herausforderungen, auch Journalist*nnen, wie wir bei dem Besuch einer Ausbildungsakademie erfahren. „Wir müssen lernen, uns an der Front zurecht zu finden“, sagt die Leiterin der Einrichtung. Natürlich würde ihnen nicht alles gesagt werden. „Manche Gesprächspartner wollen gerne Sachen zurückhalten“.

Jeden Tag müsse abgewogen werden, was man im Krieg sagen dürfe und was vielleicht besser nicht. „Die am meisten diskutierte Frage ist, wie scharf wir die Regierung kritisieren dürfen“, unterstreicht sie. Eine Diskussion darüber, den Krieg sofort zu beenden und zu verhandeln, gäbe es momentan im Lande nicht oder kaum.

Im Moment scheint es viele Themen zu geben, die angesichts des brutalen Angriffskrieges hintangestellt werden, etwa die Korruption im Land oder die Gerechtigkeitsfrage. Haben es die, die ins Ausland geflogen sind, eigentlich besser als die, die hier ausharren? Ist das gerecht?

Im Lande müssen Politik und Gesellschaft angesichts knapper Ressourcen immer wieder schmerzhafte Entscheidungen fällen. Wie etwa sollen die Einnahmen aufgeteilt werden? Immer alles an die Front? Oder soll auch ein bisschen etwas aufgewendet werden, damit Städte wie Czernowitz lebenswert bleiben?

Die Menschen freuen sich über Besuch aus dem Ausland

Obwohl Czernowitz bislang von Kriegszerstörungen verschont blieb, ist die Stadt nicht mehr dieselbe wie früher. Gleich nach dem Angriff Russlands kamen zuerst die reichen Flüchtlinge aus der Hauptstadt Kyiv und anderen Metropolen, sagt uns ein Kommunalpolitiker. Mit ihren großen Autos, den Hunden und vor allem Geld.

Aber diese Leute verschwanden wieder, als klar war, dass Russland sein Ziel nicht erreichen würde. Danach kamen die armen Flüchtlinge aus der Ostukraine. „Die hatten nichts. Sie waren viele, aber nicht sichtbar. Sie brachten nur wenig mit. Sie flanierten nicht in der Stadt herum“.

Es sei nicht leicht gewesen, für diese Menschen Arbeit und Schulplätze für die Kinder zu finden. „Aber“, darauf sei man ein bisschen stolz, „Czernowitz war die erste Stadt, die eigens Häuser für Binnenflüchtlinge gebaut hat“.

Mitglieder der Reisegruppe spenden regelmäßig für die Ukraine, Foto: Scholz

Nach vier Tagen geht es zurück an die Grenze. Einige Kilometer vorher schon eine Polizeisperre mit Kontrolle. Ukrainische Männer zwischen 18 und 60 Jahre sind wehrpflichtig; niemand soll sich dem entziehen. Nur für uns ist die Ausreise unkompliziert.

Nun geht es noch einige Stunden auf der Landstraße, gesäumt von Ziehbrunnen und Walnussbäumen zurück nach Cisinau. Wir sind alle mit unseren eigenen Gedanken beschäftigt. Die Gruppe beschließt, die Spenden, die eigentlich terminiert waren, weiter zu leisten. Und womöglich finden sich noch weitere Geldgeber*nnen.

Ist eine Reise in die Ukraine möglich? Ja, in bestimmte Gebiete schon. Ist sie nützlich? Wenn sie gut durchdacht und geplant ist, durchaus. Die Menschen freuen sich, wenn andere kommen. Sie haben nur dieses eine Leben. Und das soll schließlich immer weiter gehen. Irgendwie.

Reiner Scholz war Rundfunkjournalist in Hamburg. Er ist unter anderem auch aktiv bei Umdenken, der Heinrich-Böll-Stiftung in Hamburg.

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