Kritischer Blick auf einen Trend

im Wintersemester 2016/17 an der Universität Hamburg

Credit: brize99/ shutterstock.com

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Achtsamkeit ist zu einem Trend geworden, insbesondere durch die Verbreitung des Programms „Stressbewältigung durch Achtsamkeit“ (MBSR). Zahlreiche wissenschaftliche Studien haben die Wirksamkeit untersucht. Mediziner, Therapeuten, Pädagogen und mittlerweile auch Firmen interessieren sich dafür.

Damit scheint eine kritische Reflexion überfällig zu sein, zum Beispiel aus gesellschaftspolitischer Sicht: Blendet Achtsamkeit gesellschaftliche Kontexte aus und fördert den Rückzug ins Private? Wie ist es ethisch zu bewerten, wenn Firmen Achtsamkeit strategisch einsetzen und in den Dienst von Effizienz und Leistung stellen? Ist es möglich, Achtsamkeit in Schulen zu bringen, und wie könnte dazu ein kritischer Bildungsdiskurs aussehen?

Buddhisten kritisieren, dass die gegenwärtig geläufigen Achtsamkeits-Übungen auf halbem Wege stecken blieben und die Verbindung sowohl zur Ethik als auch zur Weisheit gekappt hätten. Welche tieferen Bedeutungen hat die Achtsamkeit?

Ein weiteres Feld ist die Qualität der Studien, mit denen Wirksamkeit von Achtsamkeit belegt werden soll. Wie aussagekräftig sind ihre Ergebnisse? Ist Achtsamkeit tatsächlich ein Allheilmittel für die Krankheiten unserer Zeit?

Organisatorisches

Veranstalter: Numata-Zentrum für Buddhismuskunde der Universität Hamburg und Netzwerk Ethik heute

Ort: Edmund-Siemers-Allee 1, ESA Ost, Raum 221
Anmeldung: nicht erforderlich, die Veranstaltungen sind kostenlos

 

Achtsamkeit im Buddhismus: Ursprünge der MBSR-Praxis

PD Dr. Jowita Kramer
26. Januar 2017, 18:15 Uhr

Der Vortrag gibt einen Überblick über buddhistische Ursprünge von MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) und zeigt auf, welche buddhistischen Lehren und spirituellen Techniken sich in diesen therapeutischen Methoden widerspiegeln. Weiter werden buddhistische Definitionen von verschiedenen mentalen Zuständen vorgestellt, die mit Konzepten wie “Achtsamkeit”, “Aufmerksamkeit” und “Konzentration” zusammenhängen. Schließlich geht Kramer der Frage nach, welche Ziele Buddhisten mit der Achtsamkeitspraxis verfolgten und inwiefern diese mit dem MBSR-Ansatz vergleichbar sind.

Jowita KramerJowita Kramer forscht schwerpunktmäßig zur buddhistischen Philosophie Indiens und Tibets, besonders zur Nur-Geist-Tradition (Yogacara). Nach Anstellungen an den Universitäten von Oxford, Heidelberg und Göttingen ist sie derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Ludwig-Maximilian-Unversität in München tätig.

 

 

 

 

Achtsamkeit und Selbstbezogenheit – Eine Kritik aus gesellschaftspolitischer Sicht

Professor Dr. Hartmut Rosa
27. Oktober 2016 – hier geht es zur Video- und Audioaufzeichnung dieses Vortrags

 

Die moderne Gesellschaft steuert auf ein kollektives Burn-out zu. Die Beschleunigung unseres Lebens bringt keinen Zeitgewinn, sondern weitere Zeitnot. Menschen halten nach immer neuen Konsumgütern und Optionen Ausschau, haben aber keine Erfahrung von Resonanz und Lebendigkeit mehr.

Hartmut Rosa

juergen-bauer.com

Meist ziehen diese oder ähnliche Feststellungen es nach sich, dass als nächstes die Achtsamkeit als Möglichkeit der Entschleunigung ins Spiel gebracht wird. Der Vortrag untersucht daher in einem ersten Teil, inwiefern Achtsamkeit überhaupt geeignet sein kann, das Beschleunigungsproblem zu lösen — vor allem aber, wo die Grenzen ihrer Möglichkeiten liegen. Denn wenn die Verantwortlichkeit für gelingende Weltbeziehungen allein beim achtsamen Individuum liegt, findet sich der gesellschaftliche Kontext völlig ausgeblendet.

Die Herauslösung aus den sozialen Verhältnissen meint aber gleichzeitig die Nichtbeachtung der gesamtgesellschaftlichen Krisen von Wirtschaft, Demokratie und Ökologie. Erschwerend hinzu kommt die ökonomische Verwertung des Achtsamkeitskonzeptes: Rund um Achtsamkeitspraxtiken wie MBSR haben sich mittlerweile ganze Industriezweige angesiedelt, welche — allen Lippenbekenntnissen ihrer Vertreter zum Trotz — die Zwanghaftigkeit und Destruktivität des Beschleunigungssystems nur noch weiter stützen. Achtsamkeit trägt, so ließe es sich zugespitzt formulieren, zur allgemeinen Entfremdung des Subjekts nicht nur von sich selbst, sondern von der Gesellschaft insgesamt bei.

Doch was könnten Alternativen sein? Wie lässt sich Entfremdung überwinden? Mit Blick auf diese sozialphilosophische Zeitdiagnose versucht der zweite Teil des Vortrags, das Resonanzkonzept als eine mögliche Grundlage und einen Kompass für ein besseres Leben anzubieten und dafür die Sphären der Arbeit, der Liebe, der Kunst und der Natur, aber auch der Religion und der Demokratie auf ihre Resonanzqualitäten hin zu überprüfen.

Hartmut Rosa ist seit 2005 Professor für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und seit 2013 Direktor des Max-Weber-Kollegs an der Universität Erfurt. Wichtigste Veröffentlichungen: Beschleunigung. Die Veränderungen der Zeitstrukturen in der Moderne (Frankfurt/M. 2005); Soziologische Theorien (mit David Strecker und Andrea Kottmann, Konstanz 2007); Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung (Berlin 2016)

 

Ist Achtsamkeit für jeden gut? Neue Forschungsergebnisse

Dr. Ulrich Ott
17. November 2016 – hier geht es zur Video- und Audioaufzeichnung dieses Vortrags

Meditation hat vielfältige Wirkungen. Die meisten davon sind positiv, aber keineswegs alle. Der Vortrag gibt einen Überblick über das ganze Spektrum. Der Schwerpunkt liegt auf den Risiken und negativen Wirkungen, weil diese oft nicht bedacht werden. Ist Achtsamkeit für jeden gut? Macht auch hier die Dosis das Gift? Diese und andere Fragen, die Gegenstand eines laufenden Forschungsprojekts am Bender Institut of Neuroimaging sind, werden im Vortrag kritisch beleuchtet und anhand von Fallbeispielen illustriert.

Ulrich-Ott (c) annavoelske.com

annavoelske.com

Dr. Ulrich Ott ist Diplom-Psychologe und erforscht seit über 15 Jahren an der Universität Gießen veränderte Bewusstseinszustände. Sein Forschungsschwerpunkt sind Effekte von Meditation auf die Funktion und Struktur des Gehirns, die er am Bender Institute of Neuroimaging mittels Magnetresonanztomographie untersucht.

 

 

 

 

 

Achtsamkeit – eine elementare Kulturtechnik? Für einen Bildungsdiskurs über die Achtsamkeit

Dr. Irina Spiegel
15. Dezember 2016, 18:15 Uhr – die Video- und Audioaufnahme wird in Kürze verfügbar sein

An deutschen Schulen ist der Achtsamkeitstrend bisher vorbei gegangen. So besteht die Chance, diese Praktiken erst dann in der Schulbildung zu implementieren, wenn ein differenzierter, normativer und kritischer Diskurs stattgefunden hat.

Wie ist überhaupt ein solcher Diskurs möglich, wo es viele verschiedene Achtsamkeitstraditionen gibt, die sich obendrein dem kritischen Projekt der Aufklärung zu widersetzen scheinen? Kritik als Methode scheint dem wesentlichen Aspekt der Achtsamkeit, nämlich nicht zu bewerten und zu urteilen, zu widersprechen.

Der Vortrag geht auf die Möglichkeit, die Notwendigkeit und die Kriterien eines Bildungsdiskurses über die Achtsamkeit ein. Dabei ist die Überlegung wichtig, ob Achtsamkeit nicht als eine „elementare Kulturtechnik“ begriffen werden könnte. Zudem soll gezeigt werden, welche Möglichkeiten es gibt, Achtsamkeit in der Schulbildung zu implementieren. Dazu wird ein Projekt vorgestellt, an dem gegenwärtig an der Ludwig-Maximilians-Universität München gearbeitet wird.

Dr. Irina Spiegel ist Philosophin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Philosophie von Professor Dr. Nida-Rümelin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die interdisziplinäre Philosophie, Grundfragen der Bildung und Zivilgesellschaft sowie die Bewusstseins-, Empathie- und Kooperationsthematik.

 

 

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