Kommentar: Ein modischer Trend in der Kritik
Achtsamkeit hält Einzug in Firmen, Organisationen, Banken und Unternehmen wie Google oder BMW. Doch wohin führt ein Trend, wenn er nur selbstbezogen und individualistisch ist und sich nicht am Gemeinwohl orientiert? Michaela Doepke befragte Pater David Steindl-Rast.
Achtsamkeit boomt: Das Time Magazin rief jüngst eine Achtsamkeitsrevolution aus. Selbst die Neurowissenschaften zeigen auf, dass Achtsamkeit wirksam gegen Stress, Burn-out und Depression eingesetzt werden kann. Der Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn hatte die Achtsamkeit in den siebziger Jahren von ihrem spirituellen Mantel entkleidet, um sie zur Genesung seiner Schmerzpatienten einzusetzen. Er entwickelte mit dem Programm “Stressbewältigung durch Achtsamkeit” (engl. MBSR) als Methode ein Erfolgsrezept, das heute unabhängig von Religion allen Menschen zugute kommt. Soweit, so gut.
Vergessen wird leider vielfach, dass Achtsamkeit ihren Ursprung in der spirituellen Tradition des Buddhismus hat und dass sie in einem ethischen Kontext steht. Folge der Reduzierung der reichen Achtsamkeitspraxis ist, dass sie in Firmen oder in teuren Coachingseminaren von selbsternannten Beratern oft nur zur Leistungssteigerung oder selbstbezogenen Persönlichkeitsoptimierung missbraucht wird. Doch sie ist kein Selbstzweck und Richtigstellung tut gut.
So unterscheidet David Steindl-Rast „Rechte Achtsamkeit“ in ihrer ursprünglichen Bedeutung von egobezogener Achtsamkeit: „Jeder von uns kennt Menschen, die von jedem Achtsamkeitsseminar mit einem noch aufgeblähteren Ego zurückkommen.“ Das dürfe künftig nicht mehr passieren, so der Benediktinermönch und promovierte Psychologe. „Rechte Achtsamkeit muss immer lebensbezogen sein.“ Sie schließt Selbsterkenntnis und Dankbarkeit mit ein. Bewusste Selbsterkenntnis führe dabei zur Verbundenheit und Dankbarkeit zur Zusammenarbeit und freudigem Teilen. Rechte Achtsamkeit sei in diesem Sinne immer „gemeinsame Achtsamkeit“.
Achtsamkeit mit dem Leben verbinden
Dabei unterscheidet Steindl-Rast zwischen einem Selbst im Bewusstsein, mit allen Menschen und einem größeren Ganzen verbunden zu sein, und einem Ich, das sich als Ego getrennt vom großen Ganzen erlebt. Die Folge dieser getrennten Sicht seien Angst und Furcht, die u. a. zu Egoismus oder Gewalttätigkeit führen können. In diesem Sinne sei es wichtig, sich auf den spirituellen Bezug einer Rechten Achtsamkeit immer wieder zurück zu besinnen, so Bruder David, der sich weltweit für das Netzwerk „Dankbares Leben“ und den christlich-buddhistischen Dialog einsetzt.
Als treffendes Bild nannte er ein Kind, das Seifenblasen in die Luft fliegen lässt. „Lauter Egos tanzen eine Weile wie Seifenblasen am Himmel. Wenn sie zerplatzen, bestehen sie wieder aus gemeinsamer Luft.“ In diesem Sinne sei es nur „Rechte Achtsamkeit“, wenn es sich um „gemeinsame Achtsamkeit“ handele und mit dem Leben verbinde.
Positiv äußerte er sich daher über das jüngste Bestreben S. H. des Dalai Lama, immer mehr Menschen zum Thema Ethik, unabhängig von einem Glaubenskontext anzusprechen und miteinander zu verbinden. Bereits 2012 hatte er mit dem Dalai Lama in Boston ein Gespräch über Ethik geführt (siehe Foto).
„Diesen überkonfessionellen Ansatz finde ich sehr hilfreich, weil er sich mit dem Leben verbindet“, so Steindl-Rast. Da Achtsamkeit heute häufig so egobezogen angewandt wird, stimmt er mit dem Dalai Lama darin überein, eine interaktive Achtsamkeit zu leben, die für ihn dankbares Leben beinhaltet. Das Leben, das er synonym mit Gott setzt, sei ein großes Geheimnis. „Das göttliche Geheimnis ist im Leben, nicht getrennt von uns.“ Daher gelte es, sich dem Leben zu öffnen, das Leben zu feiern und das, was uns als Gesellschaft in unserer Zeit im besten Sinne ausmacht.
Die Frage ist: Bemisst sich Rechte Achtsamkeit daran, ob sie lebensfreundlich oder lebensfeindlich praktiziert wird? Gesellschaftskritik heute könnte dort ansetzen, wenn Rechte Achtsamkeit nicht zum Wohl und Schutz der Gesellschaft praktiziert wird, nicht mit Werten wie Menschlichkeit, Fürsorge und Verantwortung für die Gemeinschaft einhergeht, sondern einer individualistischen selbstbezogenen Motivation entspringt.
Michaela Doepke
Weitere Infos: www.gratefulness.org/dankbarkeit.htm
Sehr gelungener Blog zum Thema, danke.
Ich selbst sehe Achtsamkeit schon immer als einen Zustand, der auch alles um mich herum mit einbezieht. Achtsamkeit kann nicht nur für sich allein egobezogen gelebt werden; dazu sind wir als Individuen viel zu sehr in den Kontext (Natur, Interaktionen mit anderen) eingebunden.
Schön, dass Achtsamkeit mittlerweile von spirituell zu gesellschaftstauglich gewechselt ist.