Online Magazin für Ethik und Achtsamkeit

Suche
Close this search box.

Achtsamkeit: nur ein Modetrend?

Renate Alf
Renate Alf

Günter Hudasch, Chef MBSR-Verband im Interview

Sind wir eine süchtige Spaßgesellschaft, die es verlernt hat, sich zu konzentrieren? MBSR-MBCT Verbandschef Günter Hudasch äußert sich zum Achtsamkeitsboom und der ethischen Dimension der Achtsamkeit. Lesen Sie die Kurzfassung.

Das Interview führte Michaela Doepke
Frage: Wir erleben im Moment einen regelrechten Achtsamkeitsboom. Wie beurteilen Sie als Vorsitzender des MBSR-MBCT-Verbandes den momentanen Hype in Deutschland? Ist er nur ein Modetrend?
Hudasch: Ja, wir erleben im Moment einen regelrechten Hype. Das ist richtig. Sicherlich springen viele Menschen auf diesen Zug, die vorher nicht viel mit Achtsamkeit zu tun hatten. Aber es zeigt sich auch ein wirklich großes Bedürfnis in der Gesellschaft nach Ruhe und Stille, nach Einkehr, Rückkehr zu sich selbst.
Und das andere: Es gibt einen Zugang zu Achtsamkeit über die Wissenschaft. Dieser macht es manchen Menschen möglich, in diese Stille einzukehren, ohne einen religiösen Kontext. Das ist, glaube ich, eine große Hilfe für viele Menschen in unserer säkularisierten Welt.
In Amerika spricht man sogar von einer Achtsamkeitsrevolution. Leiden wir alle unter einem Aufmerksamkeitsdefizit?
Hudasch: Stressreduktion durch Achtsamkeit (MBSR) ist nicht in erster Linie ein Aufmerksamkeitstraining. Wir leiden aus meiner Sicht nicht unter einem Aufmerksamkeitsdefizit. Wir leiden unter einem Defizit, einfach mit dem zu sein, was gerade im Moment da ist.
Wir leiden darunter, dass wir uns nicht wirklich auf das einlassen können, was passiert. Wenn Momente kommen, in denen es keine Arbeit und keine Unterhaltung gibt, dann wollen wir uns ablenken. Wir müssen Entertainment haben. Wir greifen nach einer Droge, die unser Hirn fordert, statt einfach bei dem zu sein, was gerade ist, indem wir einmal nichts tun und uns einfach nur spüren.

Den zerstreuten und süchtigen Geist trainieren

Zahlreiche Studien konnten die positiven Wirkungen des klassischen 8-Wochen-MBSR-Trainings heute als wirksame Burn-out- und Gesundheits-Prophylaxe wissenschaftlich belegen. Ist das positive Image von MBSR im Wesentlichen der neurowissenschaftlichen Forschung zu verdanken?
Hudasch: Man muss immer ein wenig aufpassen, wenn man die wissenschaftlichen Ergebnisse anschaut. Ja, da gibt es positive Wirkungen. Es gibt für einige Phänomene wie zum Beispiel dem Gedankenkreisen, einem Vorläufer der Depression, sogar sehr gute Ergebnisse. Aber nicht für alles gibt es einfach ein Acht-Wochen-Training, und dann habe ich keine Probleme mehr. Das wäre eine überhöhte Erwartung. Und wir sind auch eher kritisch.
Achtsamkeit ist keine leichte Übung. Man muss wirklich trainieren, und unser zerstreuter, süchtiger Geist ist nicht so einfach an die Leine zu nehmen. Es braucht eine richtige Selbstverpflichtung. Dann gibt es auch ein positives Erlebnis für die meisten Leute und eine große Unterstützung für sehr viele.
Aber ich glaube, die Neurowissenschaften sind selber interessiert und begeistert, wie es funktioniert. Sie sind eine Hilfe bei der Erklärung, aber sie haben auch noch nicht wirklich den Schlüssel zur Erklärung, warum Achtsamkeitstraining hilft. Es gibt eine gute Begleitung durch die Neurowissenschaften und auch durch die psychologischen Wissenschaften. Aber es ist die positive Erfahrung selbst, die die Menschen dazu motiviert, weiter zu machen.
Das vollständige Interview gibt es im Audioformat. Sie können es sich aus unserer Audiothek herunterladen. Diese gehört zum Premium-Bereich dieser Website. Wenn Sie Mitglied im Freundeskreis Ethik heute werden (für 60 Euro im Jahr), erhalten Sie Zugang. Mehr Infos hier
Darin äußert sich Hudasch zu ethischen Leitlinien für Achtsamkeitslehrende, den Vorwurf der Leistungssteigerung in Unternehmen durch Achtsamkeit und seine Zukunftsvision, wie Achtsamkeit langfristig in die Gesellschaft integriert werden könnte.
Foto-Günter HudaschGünter Hudasch ist Vorsitzender des Berufsverbandes der MBSR und MBCT Lehrer in Deutschland. Seit 2004 MBSR-Lehrer und Achtsamkeitstrainer, Die MBSR-Lehrerausbildung erhielt er bei Linda Lehrhaupt, Jon Kabat-Zinn und Saki Santorelli. Seit 2003 ist er Organisationsberater und Coach in der Julia Augustin Managementberatung Berlin.
www.mbsr-verband.de; www.achtsamkeitstraining.com

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Aktuelle Termine

Online Abende

rund um spannende ethische Themen
mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen
Ca. 1 Mal pro Monat, kostenlos

Auch interessant

Getty Images/ Unsplash

Selbstregulation als Kompetenz stärken

Für eine neue Leitperspektive in der Bildung Selbstregulation soll ein neuer Schwerpunkt in der Bildung sein, so sehen es Wissenschaftler der Leopoldina. In ihrem 2024 veröffentlichten Papier raten sie dazu, entsprechende Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen zu stärken. Selbstregulation unterstütze das körperliche und geistige Wohlbefinden. Das Ziel ist, Verantwortung für die eigenen inneren Zustände zu übernehmen.

Newsletter abonnieren

Sie erhalten Anregungen für die innere Entwicklung und gesellschaftliches Engagement. Wir informieren Sie auch über Veranstaltungen des Netzwerkes Ethik heute. Ca. 1 bis 2 Mal pro Monat.

Neueste Artikel

Foto: Leire Cavia I Unsplash

Mehr Akzeptanz für kulturelle Diversität

„Hybride Identität“ in einer multikulturelle Gesellschaft In der globalen Gesellschaft gibt es immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund. Sie fühlen sich in zwei oder mehreren Kulturen gleichermaßen zuhause. Dies wird auch „hybride Identität“ genannt. Menschen, denen der Spagat gelingt, sind Vorbilder für Toleranz und Vielfalt. Wie kann man multikulturelle Identitäten und religiösen Pluralismus fördern, auch um Rassismus und Ausgrenzung entgegenzuwirken?
Getty Images/ Unsplash

Ist Lügen harmlos?

Ethische Alltagsfragen In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield eine Frage zum Lügen auf: “Es wird ständig gelogen, nicht nur in der Politik, auch in der Familie, in Freundschaften und am Arbeitsplatz. Wie viel Unwahrheit vertragen gute Beziehungen?”
Getty Images/ Unsplash

Tabuthema Macht

Warum wir unsere Macht bewusst anerkennen sollten Das Thema Macht ist negativ besetzt. Dabei ist Macht zuallererst Gestaltungskraft. Eva Stützel, die gemeinschaftliche Initiativen begleitet, ruft zu mehr Bewusstheit im Umgang mit Macht auf, auch um Machtmissbrauch zu verhindern. Denn es gibt nicht nur Macht über andere und Dominanz bishin zu Gewalt, sondern auch Macht in Verbundenheit mit anderen.
Engin Akyurt/ Unsplash

Mit Journalismus gegen die Desinformation

Ein Standpunkt von Ines Eckermann Seriöser Journalismus ist eine Säule der Demokratie. Denn nur auf der Basis von Fakten kann eine Gesellschaft begründete politische Entscheidungen treffen. Doch die Rechtspopulisten lassen Fakten nicht gelten und nennen das Checken von Fakten „Zensur“. Damit greifen sie die Demokratie an. Ines Eckermann plädiert für eine Stärkung des Journalismus.
Renate Alf

Kategorien