Online Magazin für Ethik und Achtsamkeit

Braucht Demokratie die Religion?

Cover Rosa, Demokratie braucht Religion

Über ein Buch von Hartmut Rosa

Die Demokratie braucht Verbundenheit und Resonanz, ist der Soziologe Hartmut Rosa überzeugt. In der Religion und den Kirchen sieht Rosa eine gesellschaftliche Kraft, um die Resonanzfähigkeit zu stärken. Doch sind die Kirchen wirklich zu Resonanz fähig? Eine Kritik von Mike Kauschke.

Welche Rolle sollte die Religion in einer Demokratie spielen? Ist es nur eine Privatangelegenheit, die jeder selbst entscheiden kann, um besser durch das Leben zu kommen? Oder hat die Religion auch eine wirksame Fähigkeit, die eine Demokratie braucht, um überhaupt lebensfähig zu sein?

In Krisenzeiten wie heute ist die Frage nach dem Sinn besonders dringlich. Die Situation, in der wir uns in den westlichen Industriestaaten befinden, bezeichnet der Soziologe Hartmut Rosa in seinem neuen Büchlein „Demokratie braucht Religion“ als „rasenden Stillstand“. Wir erleben eine nie dagewesene Beschleunigung aller gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozesse, aber wir treten trotzdem auf der Stelle.

Rosa sieht uns in einem ständigen Aggressionsverhältnis zur Welt, weil wir sie ausbeuten und nutzbar machen müssen, um Wachstum zu generieren. Diese Aggression richtet sich aber auch gegen uns selbst in einer konstanten Selbstoptimierung, die uns erschöpft.

Und die Aggression richtet sich auch gegen die anderen. Menschen mit anderen Ansichten werden nicht mehr als Gesprächspartner gesehen, um in einem wertschätzenden Austausch die Sichtweisen des anderen zu verstehen und die eigenen zu vertreten. Die Andersdenkenden sind „Idioten“ oder „Volksverräter“, die „ihr Maul halten sollen“, erklärt Rosa zugespitzt.

Für ihn ist aber die Grundlage der Demokratie, dass „sich Bürgerinnen und Bürger als solche begegnen, die einander etwas zu sagen haben, und das heißt eben nicht nur ‚Dem habe ich mal meine Meinung gesagt‘, … sondern ‚Du hast mir auch was zu sagen‘, ‚Ich will mich von dir erreichen lassen‘.“

Demokratie ohne Resonanzerfahrung muss scheitern

Ein solches Aggressionsverhältnis gegenüber der Welt, uns selbst und den anderen zerstört die Fähigkeit, Resonanzbeziehungen auszubilden. Nach Rosa beschreibt Resonanz eine Weltbeziehung, in der man in einem Verhältnis der Verbundenheit steht, in dem wir uns anrufen lassen und uns als selbstwirksam erleben. Hier schlägt er mit seinem neuen Buch den Bogen zur Demokratie. Denn, so Rosa, „die Gesellschaft, ja die Demokratie bedarf der Fähigkeit, sich anrufen zu lassen.“

Als eine gesellschaftliche Kraft, die unsere Resonanzfähigkeit bewahren und stärken kann, versteht Rosa die Religion und die Kirchen. Der Vortrag, auf dem dieses Büchlein basiert, hielt Rosa beim Würzburger Diözesanempfang 2022.

Der Linken-Politiker Gregor Gysi hat ein Vorwort geschrieben, in dem er als Nichtgläubiger die Bedeutung religiöser Institutionen (neben humanistischem, gutnachbarlichem, linkem oder konservativem solidarischem Engagement) betont, um „dafür zu sorgen, dass sich die Politik und die Gesellschaft so verändern, dass Entfremdung nicht weiter zu deren prägendem Wesenskern gehört“. Entfremdung als ein Zustand mangelnder Resonanz verknüpft sich so mit Rosas These, dass unsere Demokratie ohne Resonanzerfahrung zum Scheitern verurteilt ist.

Rosa bringt diese Ansicht so auf den Punkt: „Demokratie bedarf eines hörenden Herzens, sonst funktioniert sie nicht.“ Damit nimmt er Bezug auf die Jahreslosung der Diözese „Gib mir ein hörendes Herz“. Und er erklärt, warum er die Religion und hier insbesondere die Kirchen als eine Instanz sieht, die durch ihre Kirchenräume, ihre Rituale, Lieder, Gesten und Gebetspraktiken die Resonanzfähigkeit der Menschen ausbilden kann.

Die Kirchen lassen Resonanzbeziehungen oft vermissen

Die Religion gibt den Menschen ein „vertikales Resonanzversprechen“, so Rosa. „Am Grund meiner Existenz liegt nicht das schweigende, kalte, feindliche oder gleichgültige Universum, sondern eine Antwortbeziehung. Für mich ist das der Kern religiösen Denkens in den monotheistischen Religionen, aber wahrscheinlich auch weit darüber hinaus, also ganz sicher im Hinduismus und auch im Buddhismus.“

Eine Antwortbeziehung ist auch der Kern der Demokratie, in der ich mich von anderen Menschen ansprechen lasse und in einen Prozess der Transformation eintrete, in dem sich meine Sicht auf die Welt auch immer wieder verändern kann.

Dieses Plädoyer für die Religion wirkt überzeugend, aber unvollständig. Dem Anlass entsprechend möchte er wohl der katholischen Kirche Mut zusprechen, ihre Rolle in der Gesellschaft wertzuschätzen.

Aber er versäumt damit auch, die Kirche daran zu erinnern, dass sie selbst häufig der Resonanzbeziehung im Wege steht. Die Kirchen haben durch Machtpolitik, Skandale um sexuellen Missbrauch und deren schwerfällige Aufarbeitung, die Diskriminierung von Frauen, Aussagen zu Abtreibung und Homosexualität oftmals selbst wenig Fähigkeit zur Resonanz eines hörenden Herzens gezeigt.

Hier wäre ein Aufruf an die Kirchen angemessen gewesen, sich selbst so zu reformieren, dass der Kern des Religiösen als Ermöglichung von Resonanz wieder stärker Raum gewinnt und nicht in Machtkämpfen und überkommenen Traditionen untergeht.

Kein Wort verliert Rosa über die gewaltsame koloniale Geschichte der Kirchen und der immer noch zögerlichen Anerkennung anderer Religionen als gleichberechtigte Resonanzvermittler. Selbst unter den beiden großen christlichen Konfessionen kann von Resonanz häufig nicht die Rede sein.

Wie kann Spiritualität die Demokratie bereichern?

Zudem versäumt es Rosa, die Bedeutung der Kirchen in die größere Strömung der Spiritualität einzuordnen, in der viele Menschen eher nach Resonanzerfahrungen suchen als in den Kirchen.

Er macht zwar eine Bemerkung, dass auch New-Age-Praktiken aus einer Resonanzsehnsucht solche Popularität haben, aber die Frage bleibt aus, warum die Menschen dort die Resonanz suchen und nicht in der Kirche. Gerade wenn die Kirchen zu einer resonanzstärkenden Kraft in der Gesellschaft werden sollen, muss Kirche grundlegend reformiert werden.

Nichtsdestotrotz, in seinem Büchlein gibt Hartmut Rosa viele wertvolle Anregungen zum Diskurs über die Relevanz der Religion und Spiritualität für die Demokratie. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Gespräch über das hörende Herz unserer Gesellschaft auf breiter Ebene geführt wird.

Mike Kauschke

Hartmut Rosa. Demokratie braucht Religion. Kösel Verlag 2022

Shutterstock

Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
4 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Ich finde es bemerkenswert, dass an Rosas Buch nur das kritisiert wird, was er NICHT schreibt.
Rosa behauptet ja lediglich, “dass Religion….im Kern darauf abzielt, solche (Resonanz-)Räume bereitzustellen.” Dies führt er relativ knapp aber deutlich aus – also das, was Religion im Grunde ermöglichen kann. Und dass dies in Institutionen von Religion und bei manchen ihrer Vertreter auch kräftig schief gegangen ist und immer noch geht, ist allseits traurig bekannt. Davon ausgenommen ist meines Wissens keine religiöse Strömung.
Über dieses Schiefgehen auch hier auf dieser Plattform in Verbindung mit einem kleinen Aufsatz über Resonanz, Religion und Demokratie zu lamentieren, halte ich für unangebracht, weil die Kritik an der grundlegenden Argumentation Rosas vorbei geht.

Ich möchte den letzten Satz von Mike Kauschke gerne aufnehmen und fragen, wo denn dieses Gespräch über das hörende Herz in unserer Gesellschaft auf breiter Ebene geführt werden könnte. Oder noch konkreter gefragt: Wo sind denn Resonanzräume für hörende Herzen in (der Breite) unserer Gesellschaft und nicht nur Gesprächsmöglichkeiten ÜBER das hörende Herz?

Danke für das Artikel, es waren genau meine Gedanken als ich den Text gelesen habe. Es gibt die Kirche einen Zumut der der Kirche schlecht verdient hat. Wir brauchen Resonanz, aber nicht sprechen als früher mit Religion war uns besser.
Und ist ein Problem der Demokratie oder von Kapitalismus dass er spricht?

Ich kann die These von Hartmut Rosa nur unterstreichen, dass unsere Gesellschaft – oder auch die ganze Menschheit – Religion im eigentlichen Sinne braucht. Ich glaube nur auch, dass die Kirche die in unserer jetzigen Evolutionsstufe erforderliche Art von Spiritualität nicht -oder nur sehr unzureichend – verfügbar macht. Ich glaube auch, dass der Austritt so vieler Menschen derzeit nicht so sehr damit zu tun hat, dass sie kein Bedürfnis nach echter Spiritualität haben, sondern dass sie es in den religiösen Formaten unserer Amtskirchen nicht finden.
Ken Wilber beschreibt in seinem Buch “Im Auge des Hurrikans bist du sicher” zwei – wie er schreibt – sehr wichtige, aber unterschiedliche Funktionen der Religion: zum einen eine sinnstiftende Funktion, die er als eine horizontale Bewegung beschreibt, während er die zweite Funktion als eine das Selbst transzendierende, eine Form vertikaler Bewegung beschreibt. Die erste Form nennt er Translation, die zweite Transformation.
Er schreibt dann, und ich zitiere: “Die horizontale Translation, die bei weitem verbreitetste Funktion der Religion, bewirkt vor allen Dingen, dass das Selbst zumindest vorübergehend glücklich ist mit dem, was es begreift, zufrieden ist in seiner Versklavung, selbstgefällig bleibt im Angesicht des schieren Grauens, das doch seine innerste Verfassung ist. Bei der Translation taumelt das Selbst schläfrig in die Welt, stolpert benommen und kurzsichtig in den Albtraum des Samsara, bekommt es eine mit Morphium überzogende Landkarte, mit der es sich in der Welt zurechtzufiinden versucht. Genau dies ist der Allgemeinzustand einer religionszugewandten Menschheit, und genau diesen Zustand heben diejenigen auf, die den Weg einer radikalen und transformierenden spirituellen Auffassung gehen.” Zitat Ende.
Könnte es nicht sein, dass immer mehr Menschen zumindest in der als erste Form beschriebenen Religiosität nicht mehr das finden, was sie wirklich suchen, und dass immer mehr den Zugang zur zweiten Form suchen, der jedoch in den Amtskirchen kaum zu finden ist?
Und hat nicht auch Jesus selbst die damalige Amtskirchengläubigkeit transformiert und zur Transformation des alten Ich eingeladen, die eine persönliche vertikale Verbindung braucht?
Ich glaube, wir stehen an einer Zeitenwende, wo diese Bewegung zunehmend Bedeutung gewinnt, und vielleicht erfordert dies die ganz persönliche Entwicklung einer Resonanzfähigkeit in vertikaler Richtung. Ken Wilber nennt das Instrument dazu: die Kontemplation (auch: die Meditation) in unterschiedlichen Formen. Und ich habe den Eindruck, dass viele Menschen das in der Amtskirche nicht wirklich im echten Sinne finden, und deshalb anderweitig unterwegs sind.
Das würde bestätigen, dass “Religion” in diesem Sinne verstanden eine unabdingbar wichtige Dimension darstellt. Wenn jedoch die Kirchen dazu beitragen wollten, müssten sie aus meiner Wahrnehmung eine wirkliche Transformation ihrer Grundstrukturen leisten. Dazu sehe ich derzeit keine Anzeichen.

Kategorien