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Darf man zusammen mit Rechtsextremen demonstrieren?

Jaz_Online/ shutterstock.com
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Ethische Alltagsfragen

In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield eine Frage zum Thema Demonstrationen in Zeiten von Corona auf : “Haben Demonstrierende nicht die Pflicht, sich von radikalen Kräften zu distanzieren? Ist es angemessen, zusammen mit denen zu demonstrieren, die gegen die Demokratie ankämpfen?

Frage: In Deutschland werden die Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen zunehmend von Rechtsradikalen und Nazis infiltriert. Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit sind zentrale demokratische Werte und es ist gut, dass die Menschen ihre Meinung äußern können. Aber haben die Demonstrierenden nicht auch die Pflicht, sich von radikalen Kräften zu distanzieren und die Demokratie zu verteidigen – und das nicht nur in verbalen Statements, wenn sie es überhaupt tun? Ist es angemessen, zusammen mit denen zu demonstrieren, die gegen die Demokratie ankämpfen?

Jay Garfield: Diese Frage ist heute dringlich, nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Demokratien weltweit, wo sich die radikale Rechte an Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen beteiligt. Solche Proteste beobachten wir auch in den USA, in England und Indien.

Dieses Phänomen erinnert uns an die paradoxe Verbindung zwischen liberalen Ideen von individueller Freiheit, dem extremen Liberalismus, welcher der Regierung jede signifikante Rolle in der Regulierung des individuellen Verhaltens abspricht, sowie einem faschistischen Denken, das sich irreführend als logische Folge dieses Liberalismus versteht, der Ablehnung der sozialen Regulierung zur Unterdrückung von Gewalt und einem antisozialen Verhalten. Die Gründe für diese problematische Verflechtung und die Motivationen, die Menschen vom Liberalismus zum Faschismus übergehen lassen, können hier nicht vertieft werden.

Es zeigen sich zwei unterschiedliche, aber miteinander verbundene Fragen: Erstens, haben wir das Recht, gegen solche Einschränkungen zu demonstrieren, auch wenn sie rechtlich verbindlich sind? Und zweitens, wie sollte man mit Allianzen mit offensichtlich gewaltbereiten und gefährlichen Gruppen im öffentlichen Raum umgehen? Beide Fragen wiederum fordern uns auf, uns über das Wesen des öffentlichen Raums, seiner Grenzen und dem angemessenen Verhalten in dieser Öffentlichkeit klarzuwerden.

Der öffentliche Raum muss geschützt werden

Ein lebendiger, offener und freier öffentlicher Raum ist entscheidend für jede funktionsfähige Demokratie. Dazu gehören eine freie und diverse Medienlandschaft und die Möglichkeit, friedlich zu demonstrieren. Nur so können die Bürgerinnen und Bürger in der Öffentlichkeit und in der politischen Debatte ihre Sichtweisen und Meinungen sichtbar und hörbar machen.

Dabei verbietet es sich und es ist zudem unklug, das Spektrum der zum Ausdruck gebrachten Sichtweisen einschränken zu wollen. Nichtsdestotrotz gibt es Grenzen, die der Redefreiheit auferlegt werden müssen, um den Bestand und die Wirksamkeit des öffentlichen Diskurses zu schützen. Beispielsweise müssen Bedrohungen oder Aufrufe zur Gewalt verboten werden, um die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten und anderen überhaupt die Möglichkeit zu geben, am öffentlichen Dialog teilzunehmen.

Schon John Stuart Mill beschrieb den Unterschied zwischen der Behauptung, dass Kornhändler ausbeuterisch handeln, und der Tat, sich vor eine aufgebrachte Menge zu stellen, die das Haus eines Kornhändlers umzingelt, und zu rufen: Alle Kornhändler sind Diebe! Dieses Beispiel verdeutlicht die Unterscheidung zwischen Redefreiheit und Gewaltandrohung.

Dabei müssen wir beachten, dass Bedrohungen und Gewaltaufrufe sowohl implizit, also verborgen und unausgesprochen, als auch explizit, also offen ausgesprochen geäußert werden können. Implizite Gewaltandrohungen sind genauso gefährlich wie explizite Bedrohungen und bedürfen der Kontrolle.

Die Fahnen, Uniformen, Insignien gewaltbereiter oder unterdrückender Organisationen wie einer rechtsradikalen Gruppierung, des Ku Klux Klan oder der Roten Brigaden zu zeigen oder das Marschieren mit Waffen sind Beispiele für solche impliziten, verborgenen und unausgesprochenen Gewaltandrohungen. Sie fallen nicht unter die Redefreiheit und sind auch kein angemessenenes Verhalten im öffentlichen Raum, einfach deshalb, weil sie die Teilnahme anderer am Diskurs unterdrücken, indem sie eine Atmosphäre der Bedrohung schaffen. Das können wir aus der Geschichte der Nutzung dieser Symbole ableiten.

Deshalb müssen wir beachten, dass ein mangelnder Schutz von angemessenem Verhalten und Offenheit im öffentlichen Raums sowie des öffentlichen Diskurses die Demokratie bedroht.

Das Demonstrationsrecht ist der Kern der Demokratie

Haben Bürgerinnen und Bürger nun das Recht, gegen die Beschränkungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie zu demonstrieren, obwohl diese rechtlich verbindlich sind? Das Recht zu einer friedlichen öffentlichen Opposition, zu Demonstrationen und zu abweichenden Argumenten ist der Kern der Demokratie. Deshalb sollten wir Proteste gegen die Regelungen tolerieren.

Mill hob auch hervor, dass die angemessene Antwort auf Sichtweisen, mit denen wir nicht übereinstimmen, das Gegenargument ist und nicht die Gegendemonstration. Für diesen offenen Austausch der Argumente gibt es den öffentlichen Raum. Auch wenn ich also davon überzeugt bin, dass die Menschen, die die Corona-Maßnahmen ablehnen, einer falschen Sichtweise anhängen, unterstützte ich doch ihr Recht, ihre Meinung zu äußern, solange sie es friedlich tun.

Aber das führt uns zur zweiten Frage, die zum Kern des Problems vordringt: Was tun wir, wenn bei solchen Proteste auch gewaltbereite Gruppen mitwirken, deren Verhalten und Symbole aus den soeben angeführten Gründen keinen Platz im öffentlichen Raum haben? Diese Gruppen sind gegenwärtig bei solchen Protesten in vielen demokratischen Ländern aktiv, weil sie immer nach sozialen und politischen Bruchlinien suchen, die sie ausnutzen können.

Achte darauf, mit wem du dich verbündest!

Wir sollten uns bewusst sein, dass wir beim Demonstrieren oder Sprechen in der Öffentlichkeit eine Handlung vollführen, in der wir unsere politische Identität zeigen. Ob wir es wollen oder nicht, eine öffentliche Zusammenarbeit zeigt Solidarität und Kollegialität mit denjenigen, mit denen wir uns in der Öffentlichkeit verbünden.

Wenn wir unter solchen Umständen eine Koalition eingehen, zeigen wir zumindest eine gewisse Sympathie und Übereinstimmung mit denjenigen, mit denen wir uns zusammentun. Wenn ich in einem Kirchchor singe, zeige ich meine Solidarität mit den Menschen, die solche Lieder singen und an solchen Gottesdiensten teilnehmen. Wenn ich in der Öffentlichkeit neben einem Nazi oder einem Ku-Kux-Klan-Anhänger stehe, dann bekunde ich meine Sympathie mit ihnen. Das ist unvermeidlich, denn so funktioniert die öffentliche Meinungsäußerung.

Das bedeutet, wenn ich mich mit gewaltbereiten, anti-demokratischen Gruppen verbinde – Gruppen, die zumindest Gewalt androhen, auch wenn sie nicht direkte Gewalt ausüben, und deren Ideologie und Handlungen die Freiheit gefährden, – dann mache ich unvermeidlich eine öffentliche Aussage.

Ich äußere zum einen, dass ich mit ihren Ansichten sympathisiere, zumindest genug Sympathie empfinde, um mit ihnen gemeinsame politische Ziele zu verfolgen. Implizit und unausgesprochen unterstütze ich zudem die Gewalt, die sie ausüben oder mit der sie andere bedrohen. Darin werde ich zum Komplizen in ihrem Angriff auf Freiheit, Demokratie und den öffentlichen Diskurs.

Das ist der Fall, auch wenn ich selbst in meiner Rhetorik die individuelle Freiheit verteidigen will. Denn wie ich schon aufgezeigt habe, in diesem Fall verteidigt man nicht die Freiheit, sondern will einen Freibrief; man beteiligt sich nicht am öffentlichen Diskurs, sondern schädigt ihn; man nimmt nicht am demokratischen Prozess teil, sondern vereitelt ihn. Und man tut es, indem man die Freiheiten, welche die Demokratie ermöglicht, ausnutzt.

Egal, für welche Sichtweise wir demonstrieren, aus diesem Grund ist es so wichtig, sich verbal und ganz konkret von diesen radikalen, gewaltbereiten Gruppen zu distanzieren, ungeachtet dessen, ob sie mit der eigenen Position übereinstimmen oder nicht. Wenn wir dies nicht tun, dann handeln wir aus destruktiver Absicht.

Aus dem Englischen übersetzt von Mike Kauschke. Wenn Sie eine Frage haben, eine ethische Zwickmühle, schreiben Sie uns: redaktion@ethik-heute.org

Jay Garfield ist Professor für Philosophie am Smith College, Northhampten, USA, und Dozent für westliche Philosophie an der tibetischen Universität in Sarnath, Indien. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit ist die interkulturelle Philosophie. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Alle Beiträge von Jay Garfield in der Rubrik „Ethische Alltagsfragen“ im Überblick

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