Bericht von Ha Vinh Tho
Das Bruttonationalglück hält Einzug in die westliche Gesellschaft. Die Idee soll z.B. mehr Glück in Schweizer Kantonen bringen, in Schulen das Wohlbefinden fördern und in Unternehmen zu mehr Zufriedenheit am Arbeitsplatz beitragen. Ha Vinh Tho, ehemaliger Leiter des Zentrums für Bruttonationalglück in Bhutan, stellt den Ansatz vor.
Das Bruttonationalglück (BNG) wurde in Bhutan als Alternative zum Bruttoinlandsprodukt entwickelt. Statt Geld und Wirtschaftswachstum stehen das Wohlergehen der Bevölkerung und der Umwelt im Mittelpunkt. Neben einer gerechten und nachhaltigen Wirtschaft werden Ökologie, Kultur Bildung, Kunst, Wissenschaft, Spiritualität und gute Regierung integriert. In all diesen Bereichen sollten die Bedürfnisse der Menschen und des Planeten das höchste Ziel sein.
Die Idee ist in den 1970er Jahren in Bhutan entstanden. Mittlerweile geht sie um die Welt. Einige kleinere Länder richten sich am BNG aus, zum Beispiel Neuseeland, Island, Schottland und Wales. Nebenbei: Das sind alles Länder, die von Frauen regiert werden.
In Neuseeland wird es sehr konsequent verfolgt. Auf youtube (1) kann man Videos der Ministerpräsidentin dazu sehen. Mitgefühl und Wohlbefinden stehen im Zentrum ihres politischen Handelns. Die Länder nutzen das BNG als zusätzlichen Indikator, neben dem Bruttoinlandsprodukt. Auch die OECD hat einen Wellbeing-Indikator aufgebaut (2). Dies zeigt: Das BNG ist nichts Exotisches.
In der Schweiz haben wir in drei Kantonen, Thurgau Wallis und Genf, Anträge an die regionalen Regierungen gestellt, das „Bruttokantonalglück“, also einen Index für das Wohlbefinden auf Kantonalebene einzuführen. Wir wissen noch nicht, ob es durchkommt, aber es gibt Wohlwollen für die Initiative – und zwar über die Parteien hinweg.
Wir sind nicht in der klassischen Polarität von Rechts und Links. Und das ist gut, denn BNG kann sich nur verwirklichen, wenn man diese Polarität aufgibt. Sonst steckt man in dem Schema fest: Was von Rechts kommt, wird von den Linken bekämpft und umgekehrt. Und das Gemeinwohl kommt immer zu kurz.
Wir wollen eine Kommission für das Bruttokantonalglück bilden und alle Entscheidungen der Regierung nach den Kriterien von BNG überprüfen. Wir planen eine Umfrage in der Bevölkerung, um zu erfahren, was verbessert werden kann. Und wir wollen Glückskompetenzen mehr in der Bildung verankern.
Happy Schools statt Pisa-Stress
Wir wenden das BNG auch im Bildungssektor an. Wir haben in Bhutan und Vietnam mit unserem Programm „Happy Schools“ begonnen. Es lehnt sich an einen Bericht der UNESCO mit dem gleichnamigen Titel an (3). Darin kamen Länder z.B. in Südostasien, die bei der PISA-Studie gut abgeschnitten hatten wie Japan, Singapur, Südkorea, besonders schlecht weg, was das Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler betrifft. Es gibt Depression, Burnout und hohe Selbstmordraten.
PISA ist für die Bildung ungefähr das, was das Bruttoinlandsprodukt für die Politik ist. In beiden Fällen ist das Glück der Menschen kein Kriterium. D.h. die Schüler sind gut in Mathe, können gut lesen und schreiben, aber fühlen sich nicht wohl.
Daraufhin haben wir ein Programm aufgestellt, das darauf abzielt, das Wohlbefinden der jungen Menschen zu steigern. Wir beginnen mit den Lehrerinnen und Lehrern. Wenn sie überfordert und gestresst sind, so wirkt sich das unmittelbar auf die Klasse aus.
Das Programm beruht auf drei Säulen: Erstens in Harmonie mit sich selbst leben. Hier geht es um Selbstfürsorge, Achtsamkeit, Emotionsregulation und das Kultivieren positiver Emotionen. Zweitens Fürsorge für andere. Hier werden die Themen Kommunikation, Zuhören, Empathie vertieft. Wie baut man gute Beziehungen auf, gerade in einem Alter, wo man Freundschaft und Liebe entdeckt.
Drittens Fürsorge für den Planeten und die Umwelt. Der Schwerpunkt liegt auf der Tiefenökologie, so dass die jungen Menschen eine Beziehung knüpfen zu ihrer natürlichen Umwelt. Aber auch konkrete Dinge wie Schulgarten, Ökolandbau usw. werden vermittelt.
Diese Projekte laufen seit drei Jahren und stoßen auf großes Interesse der Medien und Öffentlichkeit. Im Herbst 2020 wollen wir ein Pilotprojekt in Lausanne starten. In Kiel gibt es die Club of Rome-Schule, die auch Interesse an unserem Konzept hat.
Kulturwandel in Unternehmen
Auch in Unternehmen kann man das BNG anwenden. Unseren ersten Versuch damit haben wir in Thailand gemacht, beim Energiekonzern namens B.Grimm mit einem Umsatz von mehreren Milliarden Dollar. Der damalige Leiter des Unternehmens, ein Thai deutscher Abstammung, fand unser ganzheitliches Konzept gut. Wir haben über drei Jahre zusammen gearbeitet. B.Grimm ist heute der größte Produzent von Erneuerbaren Energien in Asien.
Angefangen haben wir mit den Visionen. Wir haben die Grundideen von BNG in die Leitlinien des Unternehmens eingearbeitet. Im nächsten Schritt ging es darum, die Werte in die Managementkultur einzubringen, so dass sich die Qualität der Beziehungen verbessert. Es nützt ja nichts, große Ideale zu haben, die dann im Zwischenmenschlichen gar nicht zum Tragen kommen.
Wir haben ein Management-Handbuch erstellt „Resonant Manager“ und einen Managementstil entwickelt, der auf emotionaler Intelligenz aufgebaut ist. Auch haben wir BNG-Botschafterinnen und Botschafter im Unternehmen ausgebildet. Sie kommen aus den verschiedenen Bereichen und bilden Kolleginnen und Kollegen aus. Es ist wichtig, dass wir nicht nur Top-Down arbeiten, sondern auch Bottom-Up, wenn wir einen Kulturwandel erreichen wollen.
Danach haben wir mit weiteren Firmen kooperiert. Zurzeit gibt es eine Kooperation mit einem Unternehmen in Vietnam: Bitis, die größte Schuhfabrik des Landes mit rund 9.000 Angestellten. Hier haben wir zunächst Umfragen zu den neun Elementen des BNG gemacht, um zu erfahren, wo die Mitarbeiterinnen Probleme haben. Bei Bitis sind mehrheitlich junge Frauen beschäftigt und für viele ist es der erste Job. Sie kommen vom Land und sind gerade in die Stadt gezogen.
Sie haben zum Beispiel Schwierigkeiten, mit dem Geld zu haushalten. Sie haben zum ersten Mal ein festes Gehalt, das am Monatsende ausgezahlt wird. Dann geben sie zu viel aus und müssen Schulden machen, weil das Geld nicht reicht. Die Zinsen liegen in Vietnam bei 9 bis 11 Prozent, es droht die Schuldenfalle. Wir haben ihnen dann geholfen, Familienbudgets zu erstellen und dazu Kurse angeboten.
Ein anderes Problem ist, dass die Familien mehr verdienen als zu Hause auf dem Land. Und dann kaufen sie zum Beispiel Junk Food, die Kindern bekommen mit drei Jahren schon ein Tablett. Wir haben Kurse gegeben, um ihnen pädagogisches Wissen zu vermitteln. Das wird alles von der Firma bezahlt und läuft während der Arbeitszeit.
Wir haben auch das Fabrikgelände begrünt und freundlicher gestaltet. Es gab Kurse in traditioneller Medizin. Und die Mitarbeiterinnen erhalten Massage oder Akupunktur. Wenn man konkret hilft, dann spüren die Menschen: Wohlbefinden ist kein abstrakter Begriff, sondern die Firma interessiert sich für mich und meine Bedürfnisse. Mein Alltag wird besser.
In der Schweiz arbeitet die Firma SIG, Services Industriels Geneve4, nach dem BNG. Wir haben für Führungskräfte an der Genfer Management School einen berufsbegleitenden Kurs für BNG etabliert5. Den gleichen Kurs gibt es übrigens auch in Osnabrück an der Fachhochschule „Gestaltungskraft des Glücks“. Die Führungskräfte machen Projekte in ihren Firmen und werden bei der Umsetzung von uns begleitet.
Aus einem anderen Bewusstsein heraus handeln
Wer das BNG gern in seinem Institut, seiner Firma oder Schule anwenden möchte, kann auf verschiedene Weisen vorgehen. Die eine Möglichkeit ist, dass das Unternehmen als Ganzes das Konzept umsetzen will; in dem Fall müssen die Führungskräfte den ersten Schritt tun.
Meistens aber sind es Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Interesse haben. Sie können erste Maßnahmen in ihrem Team umsetzen. Wenn dies gut gelingt, setzen sie ein Zeichen für das ganze Unternehmen: Die Stimmung ist besser, die Leute haben mehr Freude an ihrer Arbeit.
Dann kann es auf andere Abteilungen überschwappen, weil man die Veränderung spürt. Oft sind schwierige menschliche Beziehungen am Arbeitsplatz die Ursache für Frustration. Das ist oft viel belastender als zu viel Arbeit. Wenn wir es schaffen, das Arbeitsklima zu verbessern, legt sich der Stress. Die Zusammenarbeit wird gestärkt und die Leute arbeiten miteinander, statt gegeneinander.
Das BNG in Firmen anzuwenden, bringt viele Vorteile: Die Menschen sind zufriedener mit ihrer Arbeit, es gibt weniger Fluktuation. Und man kann leichter junge Talente anwerben, weil der Arbeitsplatz attraktiver ist. Guten Leuten reicht es nicht, nur Geld zu verdienen. Sie wollen auch Entwicklungsmöglichkeiten, gute Teams, kreative Freiräume usw.
Es ändert sich wirklich viel, wenn wir nach den Ideen des BNG arbeiten und leben. Denn wir richten unsere Aufmerksamkeit neu aus. Was man zählt, das zählt. Wenn ich also den Profit, das Wachstum oder die Lernleistungen als höchste Ziele setze, dann werde ich mein Handeln hauptsächlich daran ausrichten.
Wenn wir aber neue Kriterien entwickeln und anders messen, etwa das Glück der Menschen und das Gemeinwohl ins Zentrum rücken, so ist dies eine Bewusstwerdung. Aus diesem anderen Bewusstsein heraus werden wir andere Entscheidungen treffen und anders handeln.
Lesen Sie auch das Interview mit Ha Vinh Tho “Es kommt selten vor, dass mich der Mut verlässt”
Infos zum Artikel
1 https://www.youtube.com/watch?v=GqzlFffL0W4
2 https://www.oecd.org/statistics/better-life-initiative.htm
3 https://bangkok.unesco.org/theme/happy-schools
4 https://ww2.sig-ge.ch/particuliers
5 https://www.hesge.ch/heg/formation-continue/cas/bo/bonheur-les-organisations
Infos zum Bruttonattionalglück in Unternehmen:
Interview mit der CEO von BITIS, Vietnam in FORBES
Berufsbegleitender Kurs zur Anwendung des Bruttonationalglücks in Osnabrück