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„Das Ringen um Wahrheit führt zusammen“

picture alliance / zb | Kirsten Nijhof
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Interview mit Gesine Schwan

Gesine Schwan, Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission, will Politik neu gestalten. “Wenn wir mehr Perspektiven einbeziehen, finden wir eher Lösungen” ist sie überzeugt. Sie will Bürger auf kommunaler Ebene stärker beteiligen. Im Interview spricht sie über Teilhabe und wie diese die Demokratie stärkt, über Konkurrenzgesellschaft und Nächstenliebe und warum Nichtstun für sie keine Option ist.

 

Das Gespräch führten Mike Kauschke und Birgit Stratmann

Frage: Sind Sie in Aufbruchstimmung, was den Regierungswechsel nach der Ära Merkel betrifft?

Schwan: Ich habe das Ende der Ära Merkel herbeigesehnt. Ich sehe ihre Regierungsführung und ihr Verständnis von Demokratie kritisch. Viele Probleme, allen voran das Misstrauen gegenüber Politik, hat mit ihrem Verhalten zu tun: Sie hat ihre Politik nie öffentlich begründet, zur Diskussion gestellt, Alternativen zugelassen oder gar offensiv erörtert.

Sie hat mit ihrer Person Politik gemacht, entlarvend war ein Satz in ihrem letzten Wahlkampf: „Ich muss mich nicht vorstellen, Sie kennen mich.“ Unglaublich, in ihrer Wahrnehmung ging es um das Vertrauen in sie, aber nicht in die Demokratie und das, was in der Demokratie erforderlich ist, zum Beispiel das Ringen um Lösungen.

Und was wird jetzt besser?

Schwan: Natürlich kann man von der neuen Regierung keine Wunder erwarten. Es gibt auch große Spannungen zwischen den drei Parteien. Ich habe genug politische Erfahrung, um zu wissen, dass Aufbrüche nicht so leicht sind und im Alltag das Neue schnell unter die Räder kommt.

Ich hoffe aber, dass wir einige alte Zöpfe abschneiden und neue Wege einschlagen können, etwa in der Europa-, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Mich bewegt auch die Frage der Migration.

Die anstehenden Aufgaben sind riesig – Stichwort Klimawandel, Umbau hin zu nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensformen. Glauben Sie, dass die repräsentative Demokratie diese Herausforderungen lösen kann? Die Parteien wirken wie aus der Zeit gefallen. Es geht viel um Machterhalt, Verwalten und weniger um Zukunftsgestaltung.

Schwan: Dahinter liegt ein tieferes Problem. Die Parteien sind sehr damit befasst, politische Macht zu erringen und zu wahren. Ihr Hauptfokus liegt nicht auf den Lösungen für die Herausforderungen. Priorität hat auch nicht, wie wir Politik angelehnt an unsere Werte machen können. Daher glaube ich, dass wir einen Neubeginn brauchen.

Wir müssen die Probleme diskursiv angehen und Lösungen miteinander aushandeln.

Wie könnte es anders laufen?

Schwan: Wir haben in unserer Gesellschaft viele Menschen, die gut gebildet sind, auch wenn das nicht heißt, dass sie auch ethisch oder gemeinwohlorientiert sind. Aber Bürgerinnen und Bürger können Dinge analytisch durchschauen und sich damit auseinandersetzen.

Die Frage ist: Haben die Gewählten genügend Vertrauen in die Bürgerinnen und Bürger, dass sie mit Argumenten für eine Politik werben, die sie für richtig halten, wie z. B. Willy Brandt dies mit seiner Ostpolitik getan hat. Also sich für etwas engagieren, ohne dafür gleich eine Mehrheit zu haben.

Merkel hat der Gesellschaft nie etwas zumuten wollen, ihr Augenmerk lag auf Machterhalt und Wiederwahl. Und deshalb hat sie kein einziges Problem gelöst, sondern ging von Krise zu Krise. Sie wollte befrieden, beruhigen, obwohl sich die Probleme zugespitzt haben. Das kann in einer Demokratie nicht gut gehen.

Natürlich hinkt die Demokratie immer mit Lösungen hinterher. Und wir sind immer zu spät, seitdem ich bewusst politisch lebe, ist das so. Daher müssen wir die Probleme zur Sprache bringen, diskursiv angehen und in der Gesellschaft aushandeln. Wir brauchen wieder Mut.

Wie sieht politische Führung heute aus?

Schwan: Wir brauchen politische Führung, auch wenn das Wort Führung schwierig ist. Als ich die Universität Viadrina geleitet habe, fühlte ich mich verpflichtet zu führen. Ich habe darüber nachgedacht, wie unsere Universität in der Zukunft aussehen kann, was aussichtsreiche Möglichkeiten einer kleinen Universität am Rande Berlins sind. Ich habe Vorschläge gemacht und mit den universitären Gruppen durchdiskutiert.

Die Diskussion ist zentral in der Demokratie. Wir haben in unserer Zivilgesellschaft ein großes Potenzial. Solche Initiativen wie Ihre gab es vor 30 Jahren nicht – auf dem Niveau, unter Einbeziehung auch der Philosophie, um die Gedanken zu klären. Ich kenne kein besseres System als die repräsentative Demokratie, in dem das Potenzial der Menschen wirksam werden kann.

Wir brauchen mehr Mitbestimmung auf kommunaler Ebene.

Sie entwickeln in Ihrem Buch „Politik trotz Globalisierung“ eine Antwort auf die Herausforderungen: die Kommunen stärken, mehr Bürgerbeteiligung, es sollen mehr Perspektiven einbezogen werden. Warum ist das wichtig und wie kann das geschehen?

Schwan: Die Gremien in der repräsentativen Demokratie, die die Entscheider legitimieren, sollen bleiben. Aber sie reichen nicht aus, weil nicht genügend Bürger an den Entscheidungen mitwirken. Es werden zu wenig auf die Zukunft gerichtete Perspektiven einbezogen. Hier habe ich in meinem Buch Lösungen entwickelt:

Wir sollten die wichtigen Bereiche der Gesellschaft zusammenbringen – Politik, Unternehmen bzw. Wirtschaft, organisierte Zivilgesellschaft – um untereinander mit Begründungen zu beraten und Entscheidungen vorzubereiten. Das ist wichtig, damit im Sinne des Gemeinwohls entschieden wird und nicht partikulare Lobbyinteressen die Oberhand gewinnen.

Die Idee der Trialoge, die ich beschreibe, wird bereits im Rahmen des Global Compact bei den Vereinten Nationen oder in der Entwicklungszusammenarbeit praktiziert. Ich schlage dies für die kommunale Ebene vor.

Sie haben sich kommunale Entwicklungsbeiräte ausgedacht. Wie funktioniert das?

Schwan: Die Bürgermeister laden ein und bringen Repräsentanten der Abgeordneten und der Verwaltung mit Unternehmen und Bürgerinnen und Bürgern zusammen, um über langfristig wichtige Fragen der Kommunen zu beraten, etwa die Flüchtlingsthematik, Nachhaltigkeit, Klima.

Wir sehen, dass es schwierig ist, auf großen Konferenzen, z. B. den Klimagipfeln, wirklich etwas zu erreichen. Hier kommt man nur in kleinen Schritten voran, indem man z. B. bestimmte Ziele festlegt. Aber dann muss es auf der kommunalen Ebene umgesetzt werden. Hier brauchen wir viel mehr Mitbestimmung.

In der Lausitz z. B. gibt es Menschen, die im Kohlebergbau arbeiten und denen ein Kohle-Ausstieg 2030 bedrohlich erscheint. Gleichzeitig haben sich hier Initiativen gebildet, die ihr Augenmerk auf die Erderwärmung legen und andere Argumente ins Feld führen wie die Verschärfung extremer Wetterlagen.

Es wäre am besten, wenn alle an einen Tisch kommen und ihre Argumente austauschen. Wenn wir mehr Perspektiven einbeziehen, finden wir eher Lösungen. Und das ist auch in Zeiten der Globalisierung möglich. In den Städten und Kommunen erfahren wir die Wirkung von Politik unmittelbar.

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Das Wettbewerbsdenken zerstört das Selbstwertgefühl der Menschen.

Die Ökonomisierung und Marktorientierung macht fantasielos und bremst das schöpferische Denken, auch der Politik – so als gäbe es keine Alternativen. Wie sehen Sie das?

Schwan: Das sehe ich auch so, und das ist ein Grund, warum ich Beratungen und öffentliche Diskurse als Erweiterung unseres politischen Systems so wichtig finde.

In meiner NGO, der Humboldt-Viadrina Governance Platform, habe ich über 50 Trialoge moderiert zu Energiewende, Wandel der Arbeit usw. Bei den Energie-Trialogen dachten die Vertreter von RWE zuerst, dass es nichts bringt, sich mit Greenpeace und anderen auseinanderzusetzen.

Im Laufe der Gespräche hat sich aber gezeigt, dass die Konzerne hier viel darüber erfahren können, wie die Märkte in fünf oder zehn Jahren aussehen. Unbequeme Gesprächspartner geben wichtige Impulse für die Zukunftsgestaltung. Dabei machen wir die Erfahrung: Das Ringen um Wahrheit führt zusammen.

Ein wesentlicher Punkt dabei ist: sich an die Stelle des anderen setzen – und auch: das große Ganze in den Blick nehmen, statt nur die Eigeninteressen. Diese Tugenden scheinen heute nicht so verbreitet zu sein in einer individualistischen Gesellschaft. Kann das erlernt werden?

Schwan: Historisch haben wir eine Phase des Neoliberalismus hinter uns, die unsere Kultur stark geprägt hat. Wir leben unter den Bedingungen des Wettbewerbs, sogar junge Menschen werden in Wettbewerb gegeneinander aufgehetzt. Ich habe das an der Universität stark gespürt, aber heute geht es ja schon in der Grundschule los.

Das Wettbewerbsdenken zerstört das Selbstverständnis und Selbstwertgefühl der Menschen. Es wird uns regelrecht abgewöhnt zu kooperieren und zusammenzuarbeiten, also sich an die Stelle des anderen zu setzen. Diese Hypothek haben wir seit Ende der 1970er Jahre, das müssen wir begreifen.

Auf der anderen Seite haben wir eine jahrhundertelange Tradition der Nächstenliebe und dass man nicht nur an sich denkt. Und wir machen auch Erfahrungen im Alltag, dass es gut ist, an die anderen zu denken und ihre Interessen einzubeziehen.

Die Kulturtechniken kommen nicht von allein, wir müssen sie stärken, grundieren, mobilisieren. Die ganz pragmatische Regel: Wie würdest du dich fühlen, wenn du der andere wärest – das ist doch einfach zu verstehen und nachzuvollziehen. Viele machen das spontan.

In unserer Familie war das eine Alltagspraxis. Gerade meine Mutter hat uns das stark vorgelebt. Sie war auch immer darauf bedacht, Menschen einzubeziehen, die am Rand stehen.

Es ist eine Frage des Trainings, da halte ich es mit Aristoteles: Wir gewöhnen uns an Tugenden. Die neoliberale Wettbewerbsmanie lässt sich überwinden. Letztlich ist die menschliche Natur stärker als die destruktiven Moden.

Nichtstun würde mich umbringen!

Wir hören tagtäglich von niederschmetternden Ereignissen, seien es Flüchtlingsdramen, Katastrophen, Hungersnöte. Was können wir tun gegen Gefühle von Ohnmacht und Resignation, die unweigerlich aufkommen?

Schwan: Teilhabe! Es ist notwendig, besonders auch im Osten Deutschlands. Die Bürgerinnen und Bürger sollen ihre Ideen einbringen können. Dabei machen sie auch die Erfahrung, dass ihre Vorstellungen nicht die einzigen auf der Welt sind. Andere Menschen haben andere Ideen.

Damit müssen wir uns auseinandersetzen und dann Prioritäten festlegen. Durch politische Praxis lernen wir Demokratie. Wenn wir dann etwas erreichen, erfahren wir uns als wirkmächtig. Das ist auf der kommunalen Ebene viel eher möglich als auf höheren Ebenen der Politik.

Könnten Dialoge auch dem Misstrauen entgegenwirken?

Schwan: Ich habe mich intensiv mit dem wachsenden Misstrauen gegen Politik beschäftigt. Wir Menschen brauchen Vertrauen. Aus empirischen Erhebungen wissen wir, dass beispielsweise viele Impfgegner ein tiefes Misstrauen gegen alle Institutionen haben. Wir können keine Politik mehr machen, wenn Menschen sich derart verweigern.

Es ist ja gut, dass wir Dinge hinterfragen und nach Begründungen suchen. Ich zweifle auch viel. Mein Doktorvater sprach von „radikalem Fragen“, und das hat mich in meiner Entwicklung weitergebracht.

Trotzdem müssen wir eigene Erfahrungen machen, indem wir uns den Diskussionen stellen und lernen, mit anderen zu kooperieren. Wer seine Meinung immer als die einzig richtige hinstellt, unterliegt einem großen Irrtum.

Sie würden jetzt auch Impfgegner, Politiker und Wissenschaftler an einen Tisch bringen?

Schwan: Ja, das würde ich versuchen – allerdings gilt es, die Motive der Impfgegner zu prüfen. Wenn sie von Rechtsradikalen unterwandert sind, die die Impfung instrumentalisieren, dann kann es keinen Dialog geben.

Wir müssen aber mit Menschen sprechen, die Ängste, Zweifel und Sorgen wegen der Impfung haben. Wir müssen sie mit den Entscheidungsträgern an einen Tisch bringen und miteinander diskutieren.

Woher nehmen Sie Ihren Elan, mit 78 Jahren so engagiert in der Politik zu sein? Denken Sie manchmal an Rente und Nichtstun?

Schwan: Rente habe ich ja schon, ich arbeite nur noch pro Bono. Ich habe in meinem Leben viel geschenkt bekommen und möchte etwas zurückgeben. Mir geht es persönlich sehr gut. Mein Mann und ich verstehen uns gut, wir haben gemeinsame Interessen und gute Freunde. Ich bin einigermaßen gesund und kann viel machen.

Außerdem macht es mir Spaß, aktiv zu sein und mit anderen Menschen zu sprechen, gerade wenn Diskussionen kontrovers sind. Hinzu kommt, dass unsere Probleme riesig sind, nehmen Sie nur die Flüchtlingskrise. Nichtstun würde mich umbringen! Ich halte das nur aus, wenn in all dem konstruktiv etwas entgegensetze.

Lesen Sie auch den 2. Teil des Interviews: “Ich hoffe, wir finden zu einer humanen Flüchtlingspolitik”

Prof. Dr. Gesine Schwan ist Präsidentin und Mitbegründerin der Humbolt-Viadrina Governance Platform. Die SPD-Politikerin und Politikwissenschaftlerin ist zudem Vorsitzende der Grundwertekommission ihrer Partei. Sie ist Trägerin des Bundesverdienstkreuzes. Von 1999 bis 2008 war sie Präsidentin der Europa-Universität Viadrin in Frankfurt (Oder), von 2005 bis 2009 Koordiatorin der Bundesregierung für die deutsch-polnischen Beziehungen. Neueste Buchveröffentlichung: Politik trotz Globalisierung, wgbTheiss 2021

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