Interview mit Gesine Schwan, Teil 2
Gesine Schwan, Politikwissenschaftlerin und SPD-Mitglied, kritisiert die EU-Flüchtlingspolitik als unmoralisch und unmenschlich. Sie schlägt vor, dass Kommunen entscheiden dürfen, ob und wie viele Menschen sie aufnehmen. Ein Interview über Chancen für Geflüchtete, Möglichkeiten für Kommunen und Ehrlichkeit in der Politik.
Im ersten Teil des Interviews “Das Ringen um Wahrheit führt zusammen” spricht Gesine Schwan über mehr Teilhabe und die Stärkung der Demokratie, über Konkurrenzgesellschaft und Nächstenliebe und warum Nichtstun für sie keine Option ist.
Das Gespräch führten Mike Kauschke und Birgit Stratmann
Frage: Sachens Ministerpräsidenten Kretschmer sagte neulich, wir müssten “die Bilder Notleidender aushalten”, etwa von Geflüchteten an der belarussisch-polnischen Grenze. Was entgegnen Sie?
Schwan: Es ist unmenschlich zu sagen: „Dann liegen da eben ein paar Leichen“. Wir stumpfen ab und berauben uns unserer Menschlichkeit. Zynischer geht es nicht!
Was läuft falsch im gegenwärtigen Umgang mit Geflüchteten in der EU?
Schwan: Die Geschehnisse an der polnisch-belarussischen Grenze sind eine Katastrophe. Da ist zum einen Lukaschenko, der unmenschlich handelt und Menschen für seine Machtpolitik instrumentalisiert. Das wird kaum jemand bestreiten.
Und dann ist da leider auch die polnische Regierung, die einen brutalen Kampf gegen die Geflüchteten an der Grenze führt. Sie kriminalisiert die Menschen, es gibt unsägliche Schmutzkampagnen gegen die Hilfesuchenden, zum Beispiel werden sie als „Terroristen“ bezeichnet. Menschen sterben, es gibt keine ärztliche Versorgung – das alles ist zutiefst unmenschlich.
Innenminister Horst Seehofer und die Europäische Union stehen hinter dem brutalen Vorgehen Polens. Nun müssen wir uns die Frage stellen: Wollen wir eigentlich unsere Werte aufgeben und nach dem Faustrecht leben, also dem Prinzip, dass der Stärkere sich durchsetzt?
Ob im Mittelmeer, auf der Balkanroute oder in Polen: Wir leben in einem Selbstwiderspruch, wir handeln gegen unsere europäischen Werte. Das wird sich irgendwann rächen, denn solche Widersprüche untergraben die Stabilität unserer Demokratie.
Das Geld, das die EU in Zäune steckt, sollte sie lieber den Kommunen geben, die gern Gelüchtete aufnehmen.
In Ihrem Buch „Europa versagt“ entwickeln sie Vorschläge, die Kommunen stärker einzubeziehen.
Schwan: Es gibt Kommunen, die ein großes Interesse haben, Bürgerinnen und Bürger dazuzugewinnen, zum Beispiel um Kitas und Schulen weiterbetreiben zu können, Infrastruktur auszubauen usw. In meinen Augen spricht nichts dagegen, auch einen Nutzen damit zu verbinden, wenn man Geflüchtete aufnimmt.
Die EU hat gerade einen Milliardenfonds zur Befestigung der Außengrenzen aufgelegt. Wenn man dieses Geld den Kommunen geben würde, die Flüchtlinge aufnehmen wollen, wäre das Geld erheblich besser angelegt. Im Übrigen ist es naiv zu glauben, Europa könne sich hermetisch gegen den Rest der Welt abriegeln. Unmoralisch ist es sowieso.
Mit den Geldern könnten die Kommunen nicht nur die Integration Geflüchteter vorantreiben, sondern auch ihre eigene Region weiterentwickeln. Nebenbei würde man rechten Hetzern den Wind aus den Segeln nehmen. Diese Möglichkeiten gibt es. Ich hoffe, dass mit der neuen Regierung hier etwas in Gang kommt und wir zu einer humanen Flüchtlings- und Migrationspolitik finden.
Abschottung und Abschreckung sind primitive Reaktionen, die uns selbst ins Elend führen. Der Chef der Arbeitsagentur hat es auf den Punkt gebracht: Deutschland braucht jedes Jahr 400.000 zusätzliche Arbeitskräfte.
Was braucht es in der Einstellung der Menschen und in den Strukturen z. B. der EU, damit so ein Vorschlag umgesetzt werden kann?
Schwan: Rechtlich entscheiden im Moment die Nationalstaaten, welche Bürger einwandern dürfen und welche nicht. Die Frage ist, welches Recht haben oder erhalten Kommunen, um mitzubestimmen und Perspektiven für sich zu entwickeln.
Wir brauchen eine Initiative, ausgehend von Deutschland, dass eine Reihe von Staaten sich zusammenfinden. Wenn es elf Staaten sind, könnten diese eine „verstärkte Zusammenarbeit“ (Enhanced Cooperation) beschließen und Zugang zu europäischen Geldern bekommen.
Diese Kooperation der Willigen müsste eine Regelung auf den Weg bringen, dass Flüchtlinge freiwillig von Kommunen aufgenommen werden können. Der Knackpunkt ist, dass wir in der EU seit 2015 keinen Weg gefunden haben, freiwillig Menschen aufzunehmen.
Ich hätte nie gedacht, dass wir diese furchtbaren Zustände an den Außengrenzen so viele Jahre dulden, ohne naheliegende Lösungen zu finden: einen Fonds bilden, Kommunen überlegen sich, ob sie mitmachen, Flüchtlinge schauen während ihres Anerkennungsverfahrens, welche Kommunen und Städte sie aufnehmen würden. Das wäre eine Win-Win-Situation für uns alle und würde die kulturelle Vielfalt stärken.
Ich verstehe, dass Menschen sauer reagieren, wenn ihnen etwas aufgestülpt wird. Aber wenn sie mitbestimmen können, die Menschen aus Somalia und Eritrea kennenlernen, dann ist das alles nicht mehr so abstrakt.
Manchmal arbeiten Kommissionen, auch die Grundwertekommission, für den Papierkorb.
Wie ist es möglich, dass wir immer wieder die Bilder von Menschen sehen, die im Mittelmeer ertrinken und die Politik nicht reagiert. Sie sind Vorsitzende der Grundwertekommission in der SPD. Welche Werte werden denn hier diskutiert?
Schwan: Die Werte der SPD – das war die Idee von Willy Brandt, der die Grundwertekommission gegründet hat – sind Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, in Anlehnung an die Französische Revolution. Diese müssen immer wieder neu an die jeweiligen Situationen angepasst werden.
Unter diesem Gesichtspunkt haben wir früher mal ein Papier zur Migration verfasst. Das war zu einer Zeit, als die Parteivorstände (Gabriel, dann Nahles) sich wenig für unsere Arbeit in der Grundwertekommission interessiert haben.
Sie sagen, die Grundwertekommission hat gearbeitet, fand aber keine Beachtung in der Partei?
Schwan: Das Problem von Kommissionen ist, manchmal arbeiten sie für den Papierkorb, manchmal wird das Ergebnis weiterverwendet. Hier war es ein Kampf, denn wir wollten die Themen in die Parteibasis hineintragen und zu einer größeren Diskussion anregen.
Mit einer Partei, die eine leere Hülle ist, kann man nichts anfangen, weil sie keine politische Kraft ist. Die Parteien müssen sich grundlegende Fragen stellen: Wohin geht die Gesellschaft, was sind unsere Werte, wie wollen wir in Zukunft leben?
Mittlerweile hat es sich verändert, und wir haben mehr Gehör. Auch der Vorstand sieht, dass wir auf substanzielle Fragen Antworten brauchen, wenn die Sozialdemokraten ernst genommen werden wollen in der Gesellschaft.
Die Ehrlichkeit hat sich in meinem Leben bewährt.
Sie sind unglaublich ehrlich und weichen in Ihren Meinungen auch öfter mal von der SPD-Linie ab. Welche Erfahrungen machen Sie damit, in Ihrer Partei und darüber hinaus?
Schwan: Die Ehrlichkeit, also mich an das zu binden, was ich denke und dies dann auch zu sagen, ist die Bedingung meines Lebens. Ich könnte nicht anders. Das ist kein ethisches Prinzip, ich würde verrückt werden, wenn es hier eine Diskrepanz gäbe. Aus diesem Grund wollte ich auch nie Berufspolitikerin werden.
Das ist auch eine Schwäche. Denn die Kunst, in der praktischen Politik gewählt und wiedergewählt zu werden, besteht darin, nicht nur nichts Falsches zu sagen, sondern Dinge auch verschweigen zu können. Es hilft aber, wenn es in einer Partei Menschen gibt, die sich dieser Strategie nicht unterwerfen und ehrlich sind, Probleme benennen und Antworten geben.
Die Ehrlichkeit hat sich in meinem Leben langfristig bewährt. In den 1970er Jahren schlug mich Jochen Vogel für die Grundwertekommission vor. Hier wurde ich dann wieder hinauskomplementiert, weil ich die Einspurigkeit der Entspannungspolitik von Willy Brandt und anderen öffentlich kritisierte.
Man konnte mich nicht herausschmeißen, aber sie wählten mich nicht wieder, erst später war das wieder möglich. Und heute leite ich die Grundwertekommission. Ich finde es wichtig, dass es ein paar überzeuge Sozialdemokraten gibt, die Kurs halten. Das sehe ich als meine Aufgabe an.
Im Übrigen: Was hätte mir schon passieren sollen? Ich war mein Berufsleben lang Professorin und damit Beamtin auf Lebenszeit. Selbst wenn man angefeindet wird, muss einen das nicht tangieren, wenn man für sich selbst genug reflektiert und mit anderen über die eigenen Positionen diskutiert hat.
Habe ich Sie richtig verstanden, dass Berufspolitik und Ehrlichkeit nicht gut zusammenpassen?
Schwan: Ich wollte nicht implizieren, dass Politiker, die ein Amt bekleiden und es geschafft haben, prinzipiell unehrlich sind. Viele bemühen sich um Werte. Aber es ist schwer und keine persönliche Schuld von Berufspolitikern, es steckt im System.
Es geht damit los, wenn Sie gewählt werden wollen, muss die Partei Sie aufstellen. Haben Sie eine hohe Reputation oder einen Wahlkreis ein oder zwei Mal direkt gewonnen, werden Sie langsam unabhängiger.
Kommen Sie aber über die Liste rein, sieht es schon anders aus. Hier gibt es Kämpfe in den Kreisverbänden. Und Sie überlegen sich, ob Sie Kritik an Genossinnen und Genossen üben, ob Sie es sich leisten können, angefeindet zu werden.
Wenn Sie sich sicher fühlen, einen Beruf im Hintergrund haben, ergeben sich mehr Spielräume. Ich fühle mich frei. Deshalb kann ich auch heikle Themen wie die Migrationspolitik in die Debatte bringen, wo andere sich vielleicht fragen würden, ob das den Wahlerfolg der SPD stören könnte.
Prof. Dr. Gesine Schwan ist Präsidentin und Mitbegründerin der Humbolt-Viadrina Governance Platform. Die SPD-Politikerin und Politikwissenschaftlerin ist zudem Vorsitzende der Grundwertekommission ihrer Partei. Sie ist Trägerin des Bundesverdienstkreuzes. Von 1999 bis 2008 war sie Präsidentin der Europa-Universität Viadrin in Frankfurt (Oder), von 2005 bis 2009 Koordiatorin der Bundesregierung für die deutsch-polnischen Beziehungen. Neueste Buchveröffentlichungen: Politik trotz Globalisierung, wgbTheiss 2021, und Europa versagt. Eine menschliche Flüchtlingspolitik ist möglich”, S. Fischer 2021.
Lesen Sie auch Teil 1 unseres Interviews mit Gesine Schwan “Das Ringen um Wahrheit führt zusammen”