Goldene Regel, Teil 2
Martin Bauschke bezeichnet die Goldene Regel als „Weltkulturerbe“, da sie in den großen Kulturen zu finden ist. Sie ist beispielsweise die Quintessenz der Ethik von Konfuzius.
Schon bei den sog. „Sieben Weisen“ des vorsokratischen Griechenland finden wir die Einsicht: „Worüber du dich bei deinem Nachbarn [oder: Nächsten] ärgerst, das tue auch selbst nicht.“ So formuliert es Pittakos von Mytilene. Die Antwort des Thales von Milet, was die beste, gerechteste Lebensführung sei, lautet: „Indem wir niemals das tun, was wir an anderen verurteilen.“
Man findet dasselbe Wahrhaftigkeitsprinzip beim Buddha im Dhammapada: „Du selbst handle stets so, wie du die anderen belehrst.“ Und in China sagt im 4. Jahrhundert v. Chr. ein nichtkonfuzianischer Philosoph namens Shi-zi, die Goldene Regel (shu) ist: „die eigene Person zum Maß(stab) machen. Was man selbst nicht wünscht, das füge man anderen nicht zu; verabscheut man es an anderen, dann beseitige man es bei sich selbst; wünscht man es bei anderen, dann suche man es bei sich selbst…“ (Ulrich Unger, Grundbegriffe der altchinesischen Philosophie. Ein Wörterbuch für die Klassische Periode, Darmstadt 2000, S. 25).
Im selben Sinne formuliert überraschenderweise auch Kant die Goldene Regel: „Denn wir sind von Natur aus gesellig und was wir bei anderen missbilligen, können wir redlicherweise bei uns nicht billigen“ (zit. nach: Hinske, Goldene Regel und kategorischer Imperativ, in: Bellebaum/Niederschlag: Was Du nicht willst, daß man Dir tu’… Die Goldene Regel – ein Weg zu Glück?, Konstanz 1999, S. 51).
„Von Natur aus sind die Menschen einander ähnlich“
Die Goldene Regel ist die Quintessenz der Ethik von Konfuzius und seinen Schülern. Sie gilt bis heute in China als „die konfuzianische Vorschrift” schlechthin. Wer das Wörterbuch „Grundbegriffe der altchinesischen Philosophie“ von Ulrich Unger in die Hand nimmt, findet keinen längeren Artikel darin als den zur Goldenen Regel!
Konfuzius formuliert die Goldene Regel an anderer Stelle folgendermaßen: „Fähig zu sein, die Wünsche anderer nach den eigenen zu beurteilen und sie dann so zu behandeln, wie man sich selbst behandeln würde, mag als das Mittel gelten, vollkommende Tugend zu erwerben” (Lun-yu VI,30, zit. nach: Cheng, China. Das Werk des Konfuzius, aaO S. 104f). Das macht für Konfuzius nur deshalb Sinn, weil er davon ausgeht (Gespräche XVII,2): „Von Natur aus sind die Menschen einander ähnlich.“
Auch das Judentum hat seit jeher die Gleichheit der Menschen betont. In der Thora wird die Goldene Regel positiv als Nächsenliebe formuliert (Lev. 19,34): „Wie ein Einheimischer aus eurer Mitte gelte euch der Fremde, der bei euch zu Gast ist. Liebe ihn wie dich selbst. Denn auch ihr wart Fremde im Land Ägypten. ICH bin euer Gott.“
Dass man es nachempfinden, dass man sich überhaupt einfühlen kann in die Situation eines Migranten, ist nur möglich, wenn es sich für alle Menschen vergleichbar anfühlt, ein Fremder zu sein.
Das hebräische Wort kamocha könnte man Martin Buber und Franz Rosenzweig zufolge statt auf das Lieben („wie dich selbst“) auch auf den Nächsten beziehen, der „mir gleich“ ist: „Liebe ihn, er ist wie du!“ (Die fünf Bücher der Weisung, verdeutscht von M. Buber/F. Rosenzweig, Heidelberg 1981, S. 326 und S. 328.)
Jeder Mensch hat ein Anrecht auf unsere Barmherzigkeit
Viele zeitgenössische Rabbinen vertreten diese Auffassung von der Gleichheit der Menschen, etwa Leo Baeck (gest. 1956), der prominenteste Repräsentant des progressiven Judentums in Deutschland:
„‚Liebe deinen Nächsten, er ist wie du.’ In diesem ‚wie du’ liegt der ganze Gehalt des Satzes. Der Begriff Mitmensch ist darin gegeben: Er ist wie du, er ist im Eigentlichen dir gleich, du und er sind als Menschen eins. (…) Wer immer Menschenantlitz trägt, hat als unser Nächster ein Anrecht auf unseren Beistand, auf unsere Barmherzigkeit, das Anrecht darauf, dass er durch uns unser Menschenbruder wird. Nicht auf das Ungewisse unseres Wohlwollens, sondern auf das bestimmte Recht, das jeder Mensch kraft Gottes hat, gründet sich, was wir ihm schulden, was wir ihm leisten.“(Das Wesen des Judentums, Frankfurt/M. 3. Auflage 1923, S. 211 und S. 215 (Hervorhebungen i.O.).
Natürlich sind wir Menschen nicht in jeder Hinsicht gleich. Um nicht entweder in die Falle der Gleichmacherei oder in die Falle der moralischen Arroganz zu tappen, welche behauptet zu wissen, was für den Anderen das Beste sei, haben Juden wie auch Konfuzianer seit jeher die Verbotsregel, also die verneinende Form der Goldenen Regel, favorisiert. Sie respektiert, dass Menschen selbstredend verschiedene Geschmäcker, Vorlieben und Sitten haben.
Doch in Hinsicht darauf, was sie gleichermaßen fürchten oder vermeiden, was sie alle auf keinen Fall angetan haben wollen – etwa ermordet, gefoltert, vergewaltigt, belogen und betrogen zu werden – sind sich die Menschen doch ziemlich gleich.
Nicht zufällig ist die Goldene Regel als Sprichwort meistens verneinend formuliert, so etwa im Deutschen, Englischen oder Italienischen. Wenn ich von „moralischem Weltkulturerbe“ spreche, so meine ich primär die Goldene Regel als Verbotsregel: sie ist deutlich weiter verbreitet. Sie ist ein Ausdruck des Respekts vor der moralischen Autonomie des Anderen, indem sie deutlich macht, wie Menschen sich auf keinen Fall verhalten sollten.
Martin Bauschke
Texte über die Goldene Regel, 1. Teil
Dr. Martin Bauschke arbeitet im Büro Berlin der Stiftung Weltethos. Autor des Buches: Die Goldene Regel: Staunen – Verstehen – Handeln, Berlin 2010