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Eltern brauchen Kinder

Elena Nichizhenova/ shutterstock.com
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Ein Standpunkt von Steve Heitzer

Obwohl Steve Heitzer fürchten muss, als stockkonservativ zu gelten, ist er dagegen, Kleinkinder zu früh in die Kita zu geben. Er sieht auch eine flächendeckende Kita-Betreuung kritisch. Denn Kinder bieten uns die Chance, zur Besinnung zu kommen und innerlich zu wachsen.

Es gibt familiäre Situationen und prekäre Verhältnisse, die es erforderlich machen, dass Kinder früh in die Kita gehen. Die Eltern, ob gemeinsam oder alleinerziehend, sind beruflich und finanziell gezwungen, ihren Nachwuchs tagsüber unterzubringen. Doch Kinder ohne Not den ganzen Tag abzugeben, halte ich für besorgniserregend.

Glauben wir wirklich, dass Kinder unserer Karriere oder persönlichen Entwicklung im Wege stehen? Warum wollen wir Kinder, wenn wir sie nach einem oder zwei Jahren schon wieder loswerden wollen? Mein Herz sagt mir, dass wir damit nicht nur unseren Kindern keinen Dienst erweisen, sondern auch uns selbst nicht. Wie viele Menschen bereuen um die Lebensmitte oder im späteren Lebensalter, dass sie nicht genügend Zeit mit ihren Kindern verbracht haben?

Körperkontakt ist wichtig

Ich arbeite mit Krippenpädagoginnen zum großen Thema Körperlichkeit, körperliche Nähe, Berührung. Die Pädagogen erleben sich immer öfter wie in Konkurrenz zu den Eltern der Kleinen. Wenn die Einjährigen in der Kita die ersten Schritte machen, wagen sie nicht, es den Eltern zu erzählen. Es würde bei ihnen zu viel Schmerz auslösen, diese Momente nicht selbst zu erleben. Deswegen sagen sie oft eher so etwas wie: „Dein Kleiner ist kurz davor, die ersten Schritte zu machen!“

Ich staune über das Fingerspitzengefühl der Pädagogen. Und frage mich zugleich: Sind wir eigentlich noch bei Trost? Wie können wir sehenden Auges auf eine Situation zusteuern, die Eltern und Kinder immer früher auseinanderdividiert, zeitlich und emotional?

Auch in meiner Arbeit mit Kindern erlebe ich manchmal den Schmerz der Eltern, wenn ihre Kinder mir sehr schnell Vertrauen schenken. Sie reiten beim Ursprünglichen Spiel (nach Fred Donaldson) auf den Matten auf meinem Rücken, balgen mit mir oder sitzen auf meinem Schoß – nachdem sie mich vielleicht gerade eine halbe Stunde erlebt haben.

Und ich sehe manchmal, dass Kinder die Nähe zu ihren Eltern nicht auf diese Weise suchen oder dass Mutter und Vater sich auf dem Boden nicht recht wohl fühlen bzw. die körperliche Nähe nicht natürlich fließt. Sicher erlebe ich auch, dass die Eltern mit ihren Kindern, allein oder in der Gruppe, auf ganz natürliche Weise im Kontakt sind, auch im Körperkontakt.

Dürfen Erzieher keinen Trost mehr spenden?

Mittlerweile höre ich immer wieder von Kitas, die es den Pädagogen verbieten, die Kinder zu berühren – vor dem Hintergrund der Missbrauchsskandale. Stellen wir uns das einmal konkret vor: Ein junger Kindergärtner/eine Erzieherin traut sich kaum, ein Kind, das Trost sucht, zu berühren, aus lauter Angst vor den Eltern, die ihm das falsch auslegen könnten. Ist es nicht verrückt: Immer mehr Eltern verlieren buchstäblich den Kontakt zu ihren eigenen Kindern – sei es über frühe Fremd-Betreuung oder weil sie selbst die körperliche Nähe zu ihren Kindern nicht wirklich leben (können) oder als Kinder nicht erfahren haben.

Viele sind auch nur ständig abgelenkt von allen anderen „Wichtigtuern“ wie Smartphone, Facebook und Co., durch berufliche Geschäftigkeit, geforderte Verfügbarkeit.Und dann verbieten wir es auch noch den Pädagoginnen und Pädagogen, den Kindern diesen lebensnotwendigen Kontakt zu erlauben?

Grundsätzlich würde ich mich politisch eher ziemlich links ansiedeln – bei den Themen Soziales, soziale Gerechtigkeit, Sorge um die Benachteiligten und Marginalisierten, Bewahrung der Schöpfung, Abrüstung und der Sorge um den Frieden in der Welt. Gleichzeitig wünsche ich mir ein Ende des ideologischen Schubladen-Denkens, um besser für gemeinsame Werte zusammenarbeiten zu können. Wenn es um die Kinder und die heiß diskutierten Forderungen nach flächendeckender, ganztägiger Kinderbetreuung geht, muss ich in Kauf nehmen, als stock-konservativ abgestempelt zu werden.

Kinder bieten Erwachsenen ein großes Übungsfeld

Wem dient es, wenn die Kinder möglichst früh in der Fremd-Betreuung landen? Es gibt glücklicherweise viele engagierte Elementar-Pädagogen. Und es gibt ebenso wunderbare Ansätze, die Kinder dort möglichst respektvoll zu begleiten, etwa die Arbeit von Emmi Pikler. Rebeca Wild (1939-2015), eine wunderbare Pädagogin, die viele innovative Kindergärten und Schulen inspiriert hat, wies darauf hin, dass Kinder nicht zufällig in diese Phase unseres Erwachsenenlebens treten. Es ist unsere eigene Chance, uns weiter zu entwickeln.

„Mit Kindern wachsen“ ist ein Verein mit einer Zeitschrift, dessen Name auf den Punkt bringt, worin unsere Chance als Eltern liegt. Ist es nicht schade, dass wir mehr und mehr den Eindruck erwecken, die Kinder wären uns im Weg? Auch der renommierte dänische Familientherapeut Jesper Juul, vielleicht eine der bekanntesten Stimmen einer respektvollen und wie er es nennt „gleichwürdigen“ Beziehung zu unseren Kindern, sagt: „Kinder brauchen Erwachsene, die mit ihnen wachsen wollen.“

Wie viele Menschen geben Unsummen für Fortbildungen, Persönlichkeitsentwicklung und Selbsterfahrung aus? Wie viele suchen auf allen möglichen spirituellen Wegen nach Verbundenheit, Einheit und innerem Frieden? Wie viele praktizieren heute Achtsamkeit und Meditation? Ich kenne sogar Menschen, die auf den Altären vermeintlicher Spiritualität die Verantwortung für ihre Kinder opfern. Sie lassen sie noch ganz klein Zuhause, oder sie lassen sie schreien, um mit anderen zu meditieren. Formale Praxis hat ihre Zeit, aber unsere Verantwortung als Eltern geht vor.

Ich habe selbst lange gebraucht, um das Gefühl loszuwerden, mein Kind würde meiner spirituellen Praxis im Weg stehen. Das legte sich erst, als ich erkannte, welch wunderbare Chance und riesiges Übungsfeld der Alltag mit Kindern uns bietet. Sie helfen uns, uns selbst zu beobachten, neu und tiefer zu sehen, unsere Sinne und unser Herz zu öffnen, uns weiter zu entwickeln und mit ihnen zu wachsen.

Zur Besinnung kommen

Was könnte uns Eltern in dieser komplexen, beschleunigten Welt besser zur Besinnung bringen als unsere Kinder? Auch und gerade dann, wenn sie uns herausfordern, scheinbar „stören“ und lästig sind, ganz konkret im Alltag. Vielleicht wollen sie nicht nur unsere Aufmerksamkeit für sich. Vielleicht sind sie darüber hinaus geschickt, uns aufzuwecken – zum gegenwärtigen Moment, zum Leben hier und jetzt!?

Vielleicht sollen sie uns aus dem Schlaf reißen, aus der „Trance unserer Gedanken,“ wie Eckhart Tolle es beschreibt, aus unseren Gedanken, Problemen, Hamsterrädern und all den Dingen, die immer wichtiger zu sein scheinen als die trivialen, alltäglichen Situationen in der Familie.

Glauben wir wirklich, wir könnten eine gelungene äußere Entwicklung nehmen, ohne eine innere Öffnung und Entfaltung unserer Herzen? Was anderes könnte uns zur Besinnung bringen als die Kinder, ihre Nähe und ihre Liebe, ihre Geschenke und ihre Zuneigung? Vielleicht sollten wir darüber nachdenken oder besser: uns berühren lassen.

 

Steve Heitzer mit seiner Tochter Anna.

Steve Heitzer ist Achtsamkeitslehrer und Pädagoge. Er arbeitet seit knapp 20 Jahren mit Kindern in dem von ihm gegründeten Kindergarten bei Innsbruck sowie anderen Einrichtungen. Seit vielen Jahren arbeitet er auch mit Eltern, Familien und Pädagogen. Langjähriger Schüler von O. Fred Donaldson. Im „ursprünglichen Spiel“ (original play) fand er einen Königsweg in der Arbeit mit Kindern. Im Arbor-Verlag erschien sein Buch Kinder sind nichts für Feiglinge. Ein Übungsweg der Achtsamkeit. Mehr unter: www.cordat.org

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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