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Kinderspiel und Kampfkultur

Original Play, Steve Heitzer

Von der Kraft des Ursprünglichen Spiels nach O. Fred Donaldson

Der Pädagoge Steve Heitzer spielt seit zehn Jahren mit Kindern nach dem “Ursprünglichen Spiel” (Original Play) von O. Fred Donaldson. Spielen bietet hier einen neuen Zugang zum Leben – in Vertrauen und Verbundenheit, ohne Sieger und Verlierer. Das ist für Heitzer die beste Gewaltprävention.

 

Wir haben diesen Artikel am 2. Februar 2017 veröffentlicht. Am 30. Oktober 2019 hat die Fernsehsendung Kontraste einen kritischen Beitrag veröffentlicht: Original Play: Kindesmissbrauch in deutschen Kitas. Der Vorwurf lautet, Kinder hätten z.B. in Kitas, die mit Original Play arbeiten, Körperkontakt mit Fremden, dem Missbrauch werde Tür und Tor geöffnet. Die Staatsanwaltschaft hat gegen einige Kitas ermittelt, die Verfahren jedoch mangels Beweisen eingestellt. Die Vorwürfe einiger Eltern sind damit jedoch nicht ausgeräumt. Lesen Sie auch den Artikel auf Spiegel online dazu.

Autor Steve Heitzer hat zu den Vorwürfen in einem Interview auf Ethik heute vom 20. November 2019 Stellung genommen: “Original Play in der Kritik”

Jonathan spielt mit Kevin. Am Ende verpasst Kevin Jonathan eine satte Ohrfeige. Passiert in einem Kindergarten irgendwo in Österreich. Was ist daran besonders? Es wäre eigentlich kaum erwähnenswert, wenn nicht Jonathan 14 wäre und Kevin 5. Noch erstaunlicher aber ist die Reaktion von Jonathan. Als Kleiner war er dorf-bekannt. Seine Schullaufbahn ging nicht steil nach oben, sondern eher schräg nach außen. Aber jetzt hat er seine Balance gefunden. Nicht zuletzt, indem er (wieder) spielen lernte, so nämlich wie Fred Donaldson es als ursprünglich entdeckt hat.

Dieses Spielen sieht meist aus wie Raufen, Balgen, Herumtollen. Man misst ihm üblicherweise nicht viel Bedeutung bei. Selbst wenn wir es als Original Play-Lehrlinge in Einrichtungen wie Kindergärten und Schulen praktizieren und quasi professionell im Bereich Gewaltprävention, Integration und zur ganzheitlicher Stärkung der Kinder einsetzen, braucht es die Bereitschaft, näher hinzuschauen. Auch wenn es für manche so aussieht, geht es bei diesem Ursprünglichen Spiel nach Fred Donaldson nicht darum, mit Kindern ein bisschen Spaß zu haben.

Original Play kommt denkbar schlicht daher: Nur ein paar Turnmatten oder Teppiche und ich selbst mit leeren Händen. Und das sag ich den Kindern zu Beginn auch manchmal: Ich bin hier, um mit euch zu spielen. Wir haben keinen Ball, keine Schläger, kein Brettspiel und keine Karten. Auch keinen Computer, kein Spielzeug, keine Ausrüstung. Nur uns selbst, unseren Körper, unsere leeren Hände.

Und – ich deute auf das rote Herz auf meinem Original Play T-Shirt – unser Herz. Das brauchen wir auch zum Spielen. Und dann geht’s los. Sollte es eine anfängliche Irritation gegeben haben, ist sie schnell verflogen. Wenn ich die Kinder dann einzeln einlade, mit mir auf den Matten zu spielen, hat sich schnell jede Frage erübrigt, was sie denn hier tun sollen.

Auf jedem spirituellen Weg sind die leeren Hände hilfreich. Wer sich auf das ursprüngliche Spiel einlässt, lässt sich letztlich auf einen spirituellen Weg ein. Und dort zählt letztlich nur der nackte Mensch, der seinem nackten Gott (Richard Rohr) folgt. Jenseits von Methodenvielfalt, Bespaßung und Didaktik bieten wir uns mit Haut und Haar an: Beziehung, Begegnung, Kontakt. Nichts dazwischen, kein Werkzeug, kein Spielzeug.

„Es gibt keine Methode. Es gibt nur Achtsamkeit“, hat ein spiritueller Lehrer mal gesagt. Hier nehmen wir das wörtlich. Wir vertrauen dem Raum, der in dieser Begegnung entsteht, interagieren mit den Impulsen des Kindes, ohne Ziel, ohne Programm, ohne Methode. Unsere Achtsamkeit und Präsenz lässt ein Feld entstehen. Das genügt.

Original Play: Mit leeren Händen…

Zurück zu Jonathan, was war also seine Reaktion? Man würde annehmen, dass er sich die Ohrfeige nicht gefallen lässt. Zumindest als Reflex zurückschlägt oder sein Gegenüber anschreit. Erstaunlicherweise passierte nichts von alledem. Er wusste zwar nicht, was den Buben da geritten hatte, aber er empfand es nicht einmal als Aggression. Was nicht heißt, dass es ihm egal war oder dass er es aus irgendeinem moralischen Druck heraus oder aufgrund eines vorher besprochenen Verhaltenscodex nicht ernst nehmen oder bagatellisieren würde.

Nein, er konnte es so nehmen, wie es war, und sich damit über die automatischen Reaktionen, die unser altes Gehirn im Fall eines Angriffs gespeichert hat, hinwegsetzen: Kämpfen, Fliehen oder Erstarren/sich tot stellen. Ich will es nicht überhöhen, Jonathan war natürlich nicht gerade in Lebensgefahr. Es stand kein Säbelzahntiger vor ihm. Aber es ist auch nicht zu unterschätzen, welchen Wert diese Erfahrung für Jonathan haben kann. Er macht – natürlich im Kleinen, aber doch die Erfahrung, dass er nicht automatisch zurückschlagen muss – ohne zu wissen, warum. Nicht wie wir Pädagogen, Lehrerinnen, Psychologen und Therapeutinnen es gerne wissen oder herausfinden wollen.

Original Play, STeve HeitzerHier geht Original Play über den Spaßfaktor hinaus: Was wäre die übliche pädagogisch korrekte Reaktion auf diese Ohrfeige gewesen? Besprechen zumindest, Ermahnen mindestens, Tacheles reden, Moralpredigt: „Konsequenz“ oder Sanktion, bis hin zum Ausschluss aus dem gemeinsamen Spiel. Die übliche Form von „Grenzen setzen“. Hätte das was „genützt“? Hätte es was verändert? Bringt es uns hier weiter?

Schon viele Jahre bevor ich Fred Donaldson und das Ursprüngliche Spiel kennengelernt habe, haben wir mit unseren Kindern im Kindergarten gebalgt. Aber – wir wussten es nicht anders – wir mussten natürlich schnell Regeln aufstellen. Am Ende flogen immer die aus dem gemeinsamen Spiel hinaus, die es eigentlich am meisten gebraucht hätten. Brauchen im Sinne von: Sich selbst spüren, Körperlichkeit und Bewegung; aber auch liebevoll berührt werden. Und: Ein Modell erleben, wie Berührung adäquat ist, respektvoll, liebevoll eben. Brauchen also im Sinne der Chance, etwas zu verwandeln. Transformation statt Sanktion.

Meine eigene Erfahrung, die natürlich ein winziger Bruchteil der Erfahrung von Fred ist, hat mir schon gezeigt, was für einen Unterschied es macht, wenn wir einen solchen Raum und Rahmen schaffen, in dem dieses Wachsen, diese Transformation möglich ist. Sowohl für ein Kind, das aus welchem Grund auch immer haut, beißt, andere verletzt, als auch für mich selbst, wenn ich aus der Rolle eines Pädagogen heraustrete und lerne, nicht auf einen Kampf einzusteigen und im Spiel zu bleiben, auch wenn mein Gegenüber nicht mehr spielt.

Wir können in einem solchen Setting tatsächlich üben, zu einer Arglosigkeit zurückzukehren, keine Aggression persönlich zu nehmen und auch körperlich einzuüben, uns so zu bewegen, dass wir uns selbst und das Kind schützen – egal was es tut; Geist und Haltung in Präsenz, Achtsamkeit und Gewaltlosigkeit zu schulen. Nicht aus einem moralischen Anspruch heraus, schon gar nicht aus „Weichheit“ oder Schwäche. Sondern aus einer Stärke und Kraft heraus, die ich eben gern mit „Arglosigkeit“ bezeichne, letztlich aus der Erfahrung der ursprünglichen Verbundenheit heraus.

Aus Liebe, die keine Bedingungen setzt, wie z.B.: Nur wenn du dich so oder so verhältst, dann werde ich dich akzeptieren. Wir können hier im ganz ganz Kleinen lernen, was uns die großen spirituellen Meister von Buddha bis Jesus, von Martin Luther King bis Gandhi und Mutter Theresa gesagt und mit ihrem Leben gezeigt haben.

Das Problem sind nicht die anderen

Der nächste Schritt für Jonathan wäre, was ich bei Freds großen Schülerin Jola Graczykowska gesehen habe, als sie eine Ohrfeige mit einer wunderbaren Geste beantwortete und zugleich damit bei dem behinderten Kind für den Moment das Muster verändern konnte:

Sobald die Hand des Mädchens in Jolas Gesicht landete, legte sie ihre eigene Hand zärtlich auf die des schlagenden Mädchens, so dass beide Hände ihre Wange hielten. Mit sanftem Druck zeigte sie ihr adäquate Berührung. Kein Wort, keine Ermahnung, keine Drohung. Bedingungslos annehmend bleiben, körperlich antworten und Veränderung von innen heraus ermöglichen – das war ihr Weg, mit der scheinbaren Aggression umzugehen.

Original Play, Steve HeitzerSo lange es uns gut geht, ist es relativ leicht, liebevolle Güte zu praktizieren und uns unserer Gedanken und Impulse bewusst zu werden. Viel schwieriger wird es, wenn wir in Schwierigkeiten sind, wenn wir uns bedroht fühlen oder in Ungewissheit leben. Dabei kann uns das Leben gerade dann zum Experiment werden, zur Gelegenheit, unsere alten Gewohnheiten und Muster zu erkennen und zu erkunden. Als wären wir in einem Forschungsprojekt involviert.

Dann erleben wir ein Innehalten, eine Unterbrechung unserer automatischen Reaktionen, ein innerer Raum tut sich auf. Dort ist die Chance für Transformation und Heilung. Für einen Jonathan wie für einen Kevin. Für „Feinde“ wie für „Opfer“. Fred Donaldson betont immer wieder, wie wir im ursprünglichen Spiel aus Kategorien heraustreten und unsere Handlungsoptionen erweitern.

Original Play ist wie die Achtsamkeitspraxis ein Übungsweg, unsere alten Reaktionsmuster wahrzunehmen und zu transformieren. Ganz praktisch und wohl dosiert haben wir die Möglichkeit, mit Situationen umzugehen, die uns herausfordern, alte Muster zu überwinden. Ein beißendes Kind, eine Ohrfeige, oder wie es mir zuletzt ging: im Schwitzkasten eines Viertklässlers zu stecken, der zweimal so schwer scheint wie ich selbst. Da hab ich kurz meiner Angst ins Auge gesehen, um im nächsten Moment zu erleben, wie „heilig“ dieser Raum ist.

Steig ich auf seinen Kampf ein, könnte es mir gehen wie Fred Donaldson es von seiner Begegnung mit einem Löwen erzählte: Dieser nahm Freds gesamten Kopf in sein riesiges Maul. Überlasse ich mich der Angst und beginne zu kämpfen, schnappt der Viertklässler vielleicht ebenso zu wie es der Löwe getan hätte. Fast automatisch. Wenn Kampf, dann Kampf – mag sich der Löwe wie der Viertklässler denken. Es lag an mir, mich der Freundlichkeit, der Liebe und dem Vertrauen zu überlassen und die Angst loszulassen.

Das Problem sind letztlich nie die „anderen“. Der Schlüssel für den Frieden – im Kleinen wie im Großen – liegt in unserer eigenen Reaktion und Interaktion mit den anderen. Jeder wahrhaft spirituelle Weg lässt ohnehin die Erfahrung ursprünglicher Verbundenheit, ja des Einsseins aufblitzen, wie ein Kind es einmal Fred gegenüber für das Ursprünglich Spiel formulierte: Spiel ist, wenn wir nicht wissen, dass wir verschieden sind.

 

Steve Heitzer mit Anna
Steve Heitzer mit seiner Tochter Anna.

Mag. Steve Heitzer ist Achtsamkeitslehrer und Pädagoge. Er arbeitet seit vielen Jahren mit Kindern, im von ihm gegründeten Kindergarten bei Innsbruck und in anderen Kindergärten und Schulen. Er ist langjähriger Schüler von O. Fred Donaldson. Im „ursprünglichen Spiel“ (original play) fand er den Königsweg in der Arbeit mit Kindern. Im Arbor-Verlag erschien kürzlich sein Buch “Kinder sind nichts für Feiglinge. Ein Übungsweg der Achtsamkeit.” Er bietet Original Play-Spieleinheiten auch für Kindergärten, Schulen und sonderpädagogische Einrichtungen an sowie Achtsamkeit und Herzensbildung für Erwachsene und Familien. Mehr unter www.cordat.org

www.originalplay.eu

 

 

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