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Europa beginnt im Orient

Foto: Anton Balazh/ Shutterstock
Foto: Anton Balazh/ Shutterstock

Ein Beitrag der Philosophin und Journalistin Ursula Baatz

Wo fängt Europa an, fragt die Journalistin Ursula Baatz. Sie nimmt uns mit auf Spurensuche zu den Ursprüngen der abendländischen Kultur: ins Zweistromland (heute Syrien und Irak), nach Israel, Palästina, Athen und Rom. Europa ist Vielfalt, so ihr Fazit.

Wenn ich in Wien in der U-Bahn Richtung Ottakring heimfahre, höre ich die verschiedensten Idiome – serbisch, tschechisch, slowakisch, slowenisch, türkisch, ungarisch, russisch, polnisch, arabisch in verschiedensten regionalen Varianten, Punjabi, Farsi, verschiedene afrikanische Sprachen, die ich nicht identifizieren kann, englisch und französisch, italienisch und spanisch, chinesisch nicht zu vergessen, manchmal auch koreanisch, japanisch oder brasilianisches Portugiesisch. Manche sind Touristen, andere kommen von der Arbeit, wieder andere sind Flüchtlinge in den verschiedensten Stadien des Asylprozesses.

Viele wohnen im 15. Wiener Bezirk, weil Wohnungen und Hotels hier gerade noch erschwinglich sind. Sie alle gehören zu den drei Prozent der Weltbevölkerung, die freiwillig oder unfreiwillig aus ihrer Heimat weggegangen sind und die es nach Europa verschlagen hat, konkret nach Wien. Doch Wien ist in dieser Hinsicht nicht anders als all die anderen europäischen Großstädte – Athen, Berlin, Lissabon, Stockholm, Warschau.

Was macht Europa aus? frage ich Freund M., mit dem ich in einem innerstädtischen Kaffeehaus sitze. M. verbringt seit Jahren aus Beruf und Neigung viel Zeit in Asien und schweigt nachdenklich. „Naja“, meint er, „die europäische Vielfalt, die vielen Sprachen und Länder in Europa“. Vielfalt kommt zu Vielfalt, erinnere ich mich an abendliche U-Bahn-Fahrten. Ob das alles ist?

Er denkt nach. „Dass es hier geordneter ist als anderswo. Und die medizinische Versorgung gut klappt. Und die Justiz relativ unabhängig ist. Ja, und die Sozialversicherung garantiert mindestens die Grundversorgung und oft auch mehr im Krankheitsfall.“ Er schweigt wieder. „Krankenhäuser haben einen hohen Standard, und es ist auch ziemlich sauber hier“, meint er. Ausnahmen wie Neapel bestätigten die Regel.

Was er nicht erwähnt hat: Alle Kinder gehen bis zum 15. Lebensjahr von Staats wegen in die Schule; Frauen sind in fast allen europäischen Staaten seit ca. 40 Jahren gleichberechtigt, sieht man von der Ungleichheit beim Einkommen und der Karriere ab. Die europäischen Länder haben die Erklärung der Menschenrechte unterschrieben. Dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg unterstehen außer dem Vatikanstaat und Weißrussland alle anerkannten europäischen Staaten, weiter die Russische Föderation, die Türkei, Armenien, Aserbeidschan und Georgien. Jeder Bürger, jede Bürgerin dieser Staaten kann eine Beschwerde beim EGMR einbringen, und die Bescheide des EGMR können in die Rechtsordnung der Staaten eingreifen. Das Europa, das der EGMR repräsentiert, ist größer als viele annehmen.

Fließende Grenzen

Europa endet nicht am Bosporus, am Kaukasus oder am Ural. Es endet auch nicht an den Nordküsten des Mittelmeeres. Die Demonstranten, die in Dresden und anderswo die „Bewahrung und Schutz unserer Identität und unserer christlich-jüdischen Abendlandkultur“ forderten, wissen das ganz offensichtlich nicht. Armenien und Georgien sind älteste christliche Kulturen, ebenso Äthiopien.

Der Heilige Nikolaus lebte in der heutigen Türkei, damals Kleinasien. Der Kirchenvater Augustinus war nach heutigen Grenzen Algerier und hätte daher Schwierigkeiten mit der Einreise nach Italien. Und dann natürlich Jesus, Israeli nach heutigen Grenzen – oder doch Palästinenser, da Bethlehem zum palästinensischen Autonomiegebiet gehört? Er sprach aramäisch wie viele christliche Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak, vielleicht auch griechisch. Als Jude konnte er hebräisch lesen und kannte Tanach und Propheten, also die Heilige Schrift nach jüdischer Ordnung.

Die hebräische Bibel und das Neue Testament liefern – neben dem Griechen Homer – die Geschichten, aus denen Europa erwuchs. Wer die Geschichten der Bibel nicht kennt, kann die Kultur des Abendlands nicht verstehen – weder gotische Kathedralen noch barocke Maler oder Moderne wie Nolde, oder Zeitgenossen wie den Ballettchoreographen John Neumeier, den Videokünstler Bruce Nauman. Von Shakespeare, Goethe, Hölderlin gar nicht zu reden. Wer von den Abendlandbewahrern liest die?

Der gemeinsame Urvater von Judentum, Christentum und Islam ist der biblische Abraham, der mit Familie und Herden aus Mesopotamien in Richtung Mittelmeer auswanderte. Als nomadisierender Viehzüchter würde er heute von Soldaten oder Rebellen umgebracht oder von Bürokraten eingesperrt. Ins Schengen-Europa käme einer wie Abraham ohnehin nie legal. Doch Abraham ist einer der Väter Europas – Juden, Christen und Muslime berufen sich auf ihn.

Die Seele Europas ist Vielfalt

Ein Bauzaun beschmiert mit mannshohen arabischen Buchstaben in unmittelbarer Nachbarschaft des Stephansdoms in der Wiener Innenstadt. Beim Näherkommen entdecke ich die Erklärung, die klein drunter steht. Die Schrift stammt vom Grabtuch des Habsburgers Rudolfs IV. des Stifters, gestorben 1365. Unter seiner Herrschaft begann der Ausbau des Stephansdoms, und er gründete die Universität Wien. Das Tuch jedoch stammt aus dem Iran und die Inschrift lobt den zeitgenössischen muslimischen Herrscher Sultan Abu Said. Die Inschrift hat Johanna Kandl auf den Bauzaun transferiert. Die vielseitige Künstlerin und Professorin an der Universität für Bildende Kunst will damit irritieren – wie kommt es, dass ein europäischer, ein Habsburger-Herrscher in ein Grabtuch aus dem Iran eingehüllt wurde?

Europa beginnt im Orient: die wirklich feinen Stoffe, die gut genug für ein Habsburger Begräbnis waren, kamen aus dem islamischen Raum; genauso wie die Grundlagen für das, was heute zur europäischen, „westlichen“ Wissenschaft zählt. Am Hofe der abbasidischen Kalifen in Bagdad (8.-13.Jhdt.) übersetzte man die Schriften der Griechen zu Philosophie, Medizin, Mathematik, Geometrie, Chemie, Geographie, entwickelte dieses Wissen kreativ weiter und brachte sie nach Europa.

„Es tut uns leid, dass wir Algebra, Gravitation, Bankschecks, Impfung, Chemie, Kameras usw. erfunden haben; dass wir die Europäer aus dem dunklen Zeitalter herausgebracht haben, sie bei uns studieren und auf unsere Universitäten gehen ließen“, so twitterten europäische muslimische Intellektuelle im Herbst, als ironische Retourkutsche, weil viele in Europa und USA die islamischen Kulturen mit dem IS-Terror gleichsetzten.

Die Kultur des „Abendlandes“ kommt aus dem Orient, aus Mesopotamien, von dort, wo heute die Terrorbrüder des Islamischen Staates Massenmorde verüben und alles zerstören, was nach Kultur aussieht. Der Orient ist eine der Wiegen Europas. Eine andere ist das Römische Reich, das vor allem das Verständnis von Recht und Institutionen in Europas bestimmt hat. Aus dem Stadtstaat Athen kam die Idee der Demokratie, und ohne die alten Griechen, Dichter, Philosophen und Künstler, die ihre wesentlichen Inspirationen auch aus dem Orient und Nordafrika bezogen, gäbe es diese europäische Kultur nicht.

Europa den Europäern? Die europäische Welt gibt es nicht ohne die Vielfalt der Kulturen der„ Anderen“. Die „Seele Europas“ ist genauso wenig klar umrissen wie die geographischen Grenzen. Wer aus Europa eine Festung macht, zerstört die Seele Europas. Denn Seele, das ist „In-Beziehung-sein“, und das geht nur mit „Anderen“.

Gefährlich sind nicht die „Anderen“, sondern jene, die ein System der Gewalt durch „Wirtschaftlichkeit“ errichten. Wenn nicht Menschen, sondern Banken geschützt werden, und sich alles nur um Wirtschaft und Wachstum dreht, dann ist da kein Platz für Beziehungen, Menschenrechte, Bildung. Dann hat Europa seine Seele verloren.

 

Der Beitrag ist zuerst erschienen in der Zeitschrift “Brennstoff” (Heft 39 in 2015), herausgegeben von der Firma GEA. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung.

Ursula Baatz ist Philosophin, Publizistin und Achtsamkeitslehrerin. Von 1974-2011 arbeitete sie beim ORF. Heute ist sie Mitherausgeberin von polylog, der Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren. Hier geht es zu ihrer Website.

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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Sehr geehrte Frau Baatz,
Ihren wunderbaren Artikel habe ich mit großer Freude gelesen. Vielen Dank dafür! Ich werde versuchen ihn unter Pegida, Legida und andere sog. Bewahrer des Abendlandes zu bringen und hoffe, dass dadruch ein wenig Einsicht einkehrt.
Herzliche Grüße, Axel Brintzinger

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