Lesbos und das Versagen Europas
Europa schaut weg und schweigt. Die menschenunwürdige Abschottungspolitik auf den griechischen Inseln wird fortgesetzt. Kinderpsychologinnen von „Ärzte ohne Grenzen“ schlagen Alarm. Die Suizidversuche von Kindern in den Flüchtlingslagern auf Lesbos in Griechenland mehren sich.
Ärzte ohne Grenzen ist massiv besorgt über die psychische Gesundheit von jungen Geflüchteten in den EU-Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln. „Sie sagen uns immer wieder, dass sie aufgegeben haben und dass sie nur noch wollen, dass die Qual ein Ende hat“, sagt Katrin Glatz-Brubakk, Kinderpsychologin der internationalen Hilfsorganisation. Sie arbeitet derzeit in einer Kinderklinik auf Lesbos.
Allein im ersten Monat des Jahres 2021 hat es auf der Insel Lesbos drei Suizidversuche von Kindern und Jugendlichen gegeben. „Die Lager machen diese Kinder krank. Sie müssen sofort in Sicherheit gebracht werden“, fordert Glatz-Brubakk.
Nach dem Großbrand im EU-Hotspot Moria Ende letzten Jahres forderte die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, alle 12.000 obdachlosen Asylsuchenden von der Insel Lesbos in Sicherheit zu bringen. Nichts passierte. Die Flüchtlinge wurden lediglich in neue Lager auf der Insel Lesbos verteilt, in denen sich die Situation durch den Corona-Lockdown und die Pandemiebeschränkungen zum Teil sogar noch verschlimmerten. “Die Zustände in dem neuen Lager erinnern uns stark an Moria. Unsere Patienten erzählen uns, dass ihre Situation dort sogar noch schlechter ist“, sagt Marco Sandrone, ehemaliger Einsatzleiter auf Lesbos.
Seit Jahren sitzen Tausende unter menschenunwürdigen Bedingungen in den Lagern auf den griechischen Inseln fest. Berichte in den Medien kursierten, nach denen Menschen, etwa auf Samos, von Ratten und Skorpionen gebissen wurden, Frauen in Windeln schlafen, weil sie sich nachts aus Angst vor Vergewaltigungen und Übergriffen nicht auf die Toiletten trauen. Wenige Ärzte versorgen über zehntausend Menschen.
Petition an die Europäische Kommission
Marie von Manteuffel, Expertin für Flüchtlingspolitik bei Ärzte ohne Grenzen, nach dem Brand von Moria im letzten Jahr: „Es reicht. Als Ärzte ohne Grenzen fordern wir die griechischen Behörden auf, unverzüglich einen Notfallplan zu entwickeln und alle diese Menschen an einen sicheren Ort auf dem Festland oder in andere europäische Länder zu bringen. Die Bundesregierung, die aktuell die EU-Ratspräsidentschaft innehat, muss dafür sorgen, dass die lebensgefährdenden Zustände in EU-Hotspots ein für alle Mal beendet werden.“
Ärzte ohne Grenzen hatte daher auf deren Website eine Petition an die Europäische Kommission formuliert. Seit 2016 protestiert die Hilfsorganisation gegen den EU-Türkei-Deal, der für das Festhalten von Asylsuchenden in den überfüllten Lagern verantwortlich ist, die nicht einmal humanitäre Mindeststandards erfüllen. Gefordert wird auch, dass auch andere europäische Staaten die Schutzsuchenden aufnehmen müssen, um die Situation auf den griechischen Inseln zu entlasten.
Dramatische Situation der Kinder auf Lesbos
Auch Monate nach dem Großbrand im Geflüchtetenlager Moria müssen weiterhin mehr als 15.000 Frauen, Männer und Kinder bei kühlen Temperaturen auf den griechischen Inseln unter unerträglichen und unmenschlichen Bedingungen ausharren. Hinter ihnen liegt ein außergewöhnlich harter Winter.
Auf Lesbos leben mehr als 7.000 Asylsuchende, darunter 2.500 Kinder, weiterhin in Zelten, die regelmäßig unter Wasser stehen, da sie der Witterung ungeschützt ausgesetzt sind. Der jüngste Vorfall in dem Lager, bei dem ein drei Jahre altes Mädchen im Lager vergewaltigt wurde, zeigt erneut, wie mangelhaft die Schutzmaßnahmen sind.
Thanasis Chirvatidis, Kinderpsychologe auf Lesbos:
“Wir sehen weiterhin Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Symptome von Depressivität und einige extreme Fälle von reaktiver Psychose, Selbstverletzungen und Suizidgedanken. Die schwersten Fälle von Kindern, die wir sehen, sind diejenigen, die isoliert sein wollen oder den Wunsch zum Ausdruck bringen, ihr Leben zu beenden. Sie wollen die ganze Zeit im Zelt sein, sie wollen keine Kontakte knüpfen. Sie wollen tatsächlich sterben, um den Schmerz zu stoppen. Sie wollen einfach aufhören, sich so zu fühlen.“
Michaela Doepke
Interview mit der Psychologin Konstantina Psachoulia, die Kinder und Jugendliche auf Lesbos betreut.