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Gemeinsinn ist das Gegenteil von Egoismus

aufbau Verlag
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Buch von Ulrich Schnabel

Wie wir Individualismus und Gemeinsinn in Balance bringen können, ist eine Schlüsselfrage unserer Zeit. Denn ohne Kooperation sind die drängenden Probleme nicht zu lösen. Ein erhellendes Buch, das viele Aspekte des Themas Gemeinsinn beleuchtet. Lehrreich, klug und lebensnah.

Ulrich Schnabel hat ein großes Buch geschrieben zu einem der wichtigsten Themen unserer Zeit: wie wir mehr Gemeinssinn stiften können, um die gewaltigen Probleme zu lösen. Dabei trägt er erfrischend viele Blickwinkel zusammen, ohne die Schattenseiten auszublenden.

Wenn man im Westen von „Gemeinsinn“ spricht, schrillen bei einigen die Alarmglocken. Wir pochen auf unsere Individualität. Sie gilt zu Recht als eine der wichtigsten Errungenschaften seit der Aufklärung: dass der einzelne Mensch in seiner Würde geachtet wird und Freiheiten genießt.

Doch die letzten Jahrzehnte haben auch die Schattenseiten eines einseitigen Individualismus gezeigt: Bewohner vor allem der westlichen Hemisphäre zerstören die Lebensgrundlagen, weil sie zu sehr auf ihren persönlichen Komfort bedacht sind. Sie verbrauchen zu viele Ressourcen, produzieren zu viel Müll; ihr Lebensstil bringt das Klima ins Wanken.

Um die planetaren Herausforderungen zu meistern, brauchen wir dem Autor zufolge mehr Kooperation und Gemeinschaft, ohne individuelle Rechte zu beschneiden. „Es geht um eine neue Balance zwischen Gemein- und Eigensinn“, so Schnabel. Wir sollten Verbundenheit stärken, ohne die Individualität aufzugeben.

Demokratie basisert auf Zusammenhalt

Erstaunlich, wie zahlreiche Facetten des Themas Ulrich Schnabel recherchiert hat: Er schreibt über heilsame Effekte von Beziehungen auf die Gesundheit, die Rolle der Kooperation in der menschlichen Geschichte, die Bedeutung von Zusammenhalt in Krisenzeiten.

Ein spannendes Kapitel ist den „Netzwerken“ gewidmet und welche Kraft sie entfalten können. Schnabel erklärt, dass der Einzelne in komplexen Gesellschaften viel mehr Einfluss hat, als er glaubt. Um Veränderungen zu bewirken, brauche es keine Mehrheiten. Das gilt allerdings auch für Menschen und Gruppen, die es nicht so gut mit Demokratie und dem guten Leben für alle meinen.

Wichtig ist auch das Kapitel über Politik, die das Gemeinwohl fördern soll, denn nicht nur der Einzelne ist gefordert, für mehr Zusammenhalt zu sorgen, etwa in seiner Nachbarschaft. Der Staat muss für Gerechtigkeit, gerechte Entlohnung und Besteuerung sorgen, Rahmenbedingungen für bezahlbaren Wohnraum schaffen und eine Mobilität ohne Auto ermöglichen sowie, Bildungschancen verbessern.

Denn die Demokratie basiert auf Zusammenhalt. Und Zusammenhalt entsteht aus Vertrauen und dass Menschen für das, was sie tun, Anerkennung ideeller und materieller Art erhalten.

Gemeinsinn schließt Individualismus nicht aus

Besonders erhellend ist das Kapitel über Identität. Individualismus, so der Autor, entsteht überhaupt erst durch Gemeinschaft, denn kein Mensch ist so autonom, wie wir es uns gern ausmalen. Jeder braucht ein großes Beziehungsnetz, um aufzuwachsen und zu leben.

Aber auch die Schattenseiten des Gemeinssinns werden beleuchtet: Konformismus, Gruppendruck und Manipulation. In Deutschland hat der Begriff „Gemeinwohl“ unter der Nazi-Diktatur sein hässlichstes Gesicht gezeigt. Er wurde im Sinne der Gleichmacherei und des Totalitarismus benutzt, um individuelle Rechte auszulöschen.

Und auch heute benutzen Rechtsextremisten den Begriff, etwa um „Gemeinschaftsdörfer“ zu gründen. Gemeint sind allerdings Gemeinschaften von Gleichgesinnten, die Menschen aus anderen Kulturen ausschließen.

Um dem vorzubeugen müsse man Gemeinschaft neu denken, etwa so, dass das Verständnis über die eigene Gruppe hinausreicht, dass man sich nicht abgrenzt oder abschottet, sondern Andersenkende integriert. Gemeinsinn ist dann kein Gegensatz zum Individualismus, sondern zum Egoismus.

Die Ausgewogenheit, mit der Schnabel an das Thema Gemeinssin herangeht, ist überzeugend. Gut ist, dass er nicht moralisiert, sondern Kooperation als vernünftigen Weg aufzeigt, die drängenden Probleme zu lösen. Unbedingt empfehlenswert.

Birgit Stratmann

Ulrich Schnabel. Zusammen: Wie wir mit Gemeinsinn globale Krisen bewältigen. Aufbau Verlag 2022

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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