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Handeln in komplexer Welt

Shxdyl/ hutterstock
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Erstaunliche Zusammenhänge entdecken

Die Folgen unserer Handlungen scheinen grenzenlos zu sein. Es gilt, offen zu bleiben für das, was um und mit uns geschieht.

Wir können die Folgen unseres Handelns nicht absehen, sie scheinen grenzenlos zu sein. Ich rief gestern eine Freundin an, der es schlecht ging. Mein Anruf kam unerwartet. Sie hat sich gefreut, und das Gespräch hat ihr geholfen. Sie befand sich in einem Zustand der Verzweiflung.
Sie stellte gerade ihr gesamtes Leben in Frage, ihre Beziehung, ihren Job, ihr Bemühen, etwas aus ihrem Leben zu machen. Sie hatte das Gefühl, dass dunkle Wolken über ihr hochziehen. Da klingelte das Telefon. Wie aus heiterem Himmel meldete ich mich, nach über zwei Jahren.
Ich ließ mir nichts anmerken, erkundigte mich nach Ihren Befinden, erzählte auch etwas aus meinem Leben, alberte ein bisschen herum – und wusste selbst nicht, wohin dieses Gespräch führen sollte. Aber wir hatten auch Momente der Ruhe, der Nähe, und als ich auflegte, hatte zumindest ich das Gefühl, dass der Anruf nicht sinnlos gewesen ist.
Aber für sie – das hat sie mir ein paar Stunden später noch per Mail bestätigt – war dieser arglose Anruf fast überlebenswichtig. Die dunklen Wolken hatten sich verzogen, als sie mit einem Schmunzeln den Hörer wieder auflegte. Ihre private Misere stellte sich plötzlich wieder in einem anderen Lichte da.
Ich habe einfach nur angerufen – teils aus schlechtem Gewissen heraus -, und jedenfalls nicht mit der Absicht, irgend ein anderes Leben in Ordnung zu bringen. Solchen missionarischen Eifer lege ich nicht an den Tag. Allein der Umstand, dass ich angerufen und mich erkundigt habe, hat in diesem Moment ausgereicht, in ihrem Leben einen kleinen Wandel herbei zu führen.
Die Zusammenhänge waren und sind für uns beide nicht durchschaubar. Ich hatte auch keine Ahnung, dass etwas mit ihr los sein könnte und ich deswegen anrufen müsste. Nein. Oder war es doch eine Ahnung? Nun, das ist reine Spekulation.

Wir sind miteinander verbunden

Die Folgen unseres Handelns können wir in den meisten Fällen nicht abschätzen. Das Leben ist einfach zu komplex. Die Zusammenhänge zwischen unseren unterschiedlichen Leben sind zu komplex. Die Einflüsse, denen jeder von uns täglich ausgesetzt ist, sind zu komplex. Wir können uns das eine oder andere vorstellen. Und wir haben auch Ahnungen – Ahnungen, was gerade andernorts vor sich gehen könnte. Aber solche Ahnungen können sich auch als Täuschungen, als Einbildungen erweisen. Wer kann sich schon sicher sein? Ein Schamane? Ein Zen-Meister?
Wenn ich eine Entscheidung treffe, zum Beispiel einen Menschen anzurufen, dem es nicht so gut geht – dann kann ich diese Entscheidung bewusst nur treffen auf Grund von Tatsachen, die mir bekannt sind. Wenn ich nicht weiß, wie es dem anderen gerade geht, aber ein plötzliches Gefühl beschleicht mich, eine Eingebung, ein innerer Ruck, und ich rufe an, und es stellt sich heraus, dass ich vielleicht genau im richtigen Moment angerufen habe – was ist das?
Für mich ist es ein Beleg dafür, dass wir doch alle eng miteinander vernetzt sind. Und ich meine nicht die technische Vernetzung, die Menschen gleichzeitig miteinander verbindet und voneinander trennt. Ich spreche hier eine Verbindung – oder besser eine Verbundenheit an, die allein darauf beruht, dass wir alle gemeinsam in dieser Welt leben.
Wir kennen das Gesetz von Ursache und Wirkung – wir wissen, dass die Vorgänge um uns herum und in uns selbst diesem Prinzip folgen. Doch obwohl wir von diesem umfassenden Kausalnexus ausgehen, haben wir keine Ahnung, wie weit sich dieses Prinzip wirklich erstreckt. Wir sehen nur die Oberfläche – und selbst oder gerade da verstehen wir viele Dinge nicht.
Ich möchte sogar behaupten, dass wir das meiste nicht verstehen. Wir verstehen nicht, warum gewisse Menschen sich gerade so verhalten, wie sie es offensichtlich tun. Aber wenn wir nur etwas unter diese Oberfläche schauen würden – zum Beispiel Gespräche führen, Fragen stellen oder einfach nur zuhören – dann würden wir feststellen, dass dieses Kausalgeflecht noch viel weitreichender ist, als wir uns das je vorgestellt haben.
Wir glauben, unser Leben so einigermaßen zu kennen. Wir sind sozial sensibilisiert und leben weitgehend umweltbewusst. Zumindest trifft das für viele Menschen in den westlichen Gesellschaften zu. Aber wissen wir denn, welche Folgen selbst unser bewusst engagiertes Leben für die Umwelt – also die Welt um uns herum, die Kulisse für unser Ego-Leben – eigentlich hat? Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass ich es nicht weiß. Und ich bin immer wieder erstaunt, wenn ich neue Zusammenhänge entdecke.
Und was folgt daraus? Zunächst einmal nichts weiter, als dass wir offen sein und bleiben müssen – für das, was um uns herum und in uns passiert. Und es passiert jeden Augenblick unsagbar viel. Die täglichen Nachrichten aus der Welt der Politik vermitteln eine Ahnung davon, wie komplex, wie verworren, wie unberechenbar unsere Welt eigentlich ist. Und genau diese Ahnung scheint mir äußerst kostbar zu sein. Für unser tägliches Handeln.
Sven Precht

Sven Precht war viele Jahre als Kulturjournalist tätig und arbeitet heute in der IT-Branche. Er unterrichtet auch an der Volkshochschule zu philosophischen Themen.

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Alle Kommentare

Lieber Sven Precht,
vielen Dank für Ihren Artikel!
Offen zu sein und zu bleiben ist sicherlich eine wichtige Voraussetzung und in einer komplexen Welt handeln zu können. Ich denke, dass wir es dabei aber nicht belassen, sondern im Anschluss daran beginnen sollten achtsam zu agieren, so wie Sie das anhand Ihres Telefonats beschrieben haben.
Richtlinien für unser Handeln geben uns ethische Regeln, seien sie nun religiös oder säkular. Einige wie die Goldene Regel wurden hier schon genannt https://ethik-heute.org/die-goldene-regel/
Auch wenn wir das meiste nicht wissen, so können wir mit guter Motivation versuchen für die Welt in der wir leben das bestmöglichste zu tun. Das kann freilich auch mal schiefgeben, denn wo gehobelt wird fallen Späne. Unsere Erfahrungen werden uns aber reicher und weiser machen und so letztlich zu einer immer verantwortungsvolleren Lebensweise führen. Das ist zumindest meine Hoffnung.
Herzliche Grüße, Axel

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