„Ich lerne viel von meinen Kindern“

Feike mit seinen Kindern auf einer Indienreise.
Feike mit seinen Kindern auf einer Indienreise.

Die Beziehung ist wichtiger als die Erziehung

Die Erziehung seiner Kinder ist die größte Herausforderung im Leben von Michael Feike. Der Autor beschreibt, was ihm wichtig ist und warum er auf Erziehungsratgeber getrost verzichten kann.

Mein Sohn kam diesen Sommer in die zweite Klasse und lernt lesen. Nein, er konnte noch nicht lesen, als er eingeschult wurde. Und nein, es beunruhigt mich nicht, dass er es nicht schon in der ersten Klasse gelernt hat, im Gegenteil, ich zahle monatlich sogar dafür, dass er eine Schule besuchen kann, in der Kinder erst in der zweiten Klasse lesen lernen.

Jetzt sitze ich täglich nach dem Mittagessen mit ihm am Tisch und übe Buchstaben zu Wörtern und Wörter zu Sätzen zusammenzuziehen. Und ich bin mir sicher, er wird bald lesen können – genauso gut wie jene Kinder, die es schon im Kindergarten lernten.

Ich habe keinen Plan für die Erziehung“

Überhaupt verbringe ich viel Zeit mit meinen Kindern. Sie leben drei bis vier Tage die Woche bei mir, die andere Hälfte der Zeit im Haushalt ihrer Mutter. Als mein Sohn ein Jahr alt wurde, ging ich für ein Jahr in Elternzeit und kümmerte mich um Haushalt und Erziehung, während seine Mutter ihre Ausbildung beendete.

Und es ist sonderbar: Ich lese viel und gerne und wenn mich etwas beschäftigt, dann nehme ich gewöhnlich auch mal ein Buch zur Hand, um die Sache besser zu verstehen. Nicht so in Sachen Erziehung! Die Erziehung meiner Kinder ist wohl bisher die größte Herausforderung in meinem Leben, es gibt eine schier unüberschaubare Literatur zum Thema, und ich habe nichts davon gelesen.

Ich habe keinen Plan, wie man Kinder erzieht, kein Ideal, keine große Idee. Vielleicht sind meine Kinder nicht besonders gut erzogen. Sie reden mit vollem Mund, schmatzen, unterbrechen mit Vorliebe meine Unterhaltungen und hören oft erst beim dritten Mal auf das, was ich sage. Sie räumen nicht gerne auf, streiten sich, und manchmal beschimpfen sie mich.

Aber sie sind offen, empathisch, kontaktfreudig und aufnahmefähig. Abend für Abend lege ich mich zu ihnen und lese ihnen Märchen oder andere Geschichten vor. Mein Sohn merkt sich das Meiste Wort für Wort. Seine Klassenlehrerin nennt ihn Dr. Märchen.

Liebe ist das Wichtigste

Wenn es einem anderen Kind schlecht geht, sind meine Kinder sofort zur Stelle und versuchen zu trösten und zu helfen. Sie haben keine Angst vor der Dunkelheit und sind gewandte, geschickte Kletterer. Sie quälen keine Tiere, lügen mich nicht an, kurz, es ist eine Freude mit ihnen zusammen zu leben, und ich bin stolz auf sie.

Gewiss ist es nicht mein Verdienst, dass sie sich so wunderbar entwickeln. Ich bin oft ungeduldig, schimpfe sie, auch rauche ich und spiele selten mit ihnen. Ich mache einen Fehler nach dem anderen, und sie verzeihen mir großmütig meine Unzulänglichkeiten, weil sie mich lieben und weil ich sie liebe.

Erziehung scheint einfach in unserem Verhältnis das falsche Wort zu sein. Beziehung trifft es besser. Ich stelle Regeln auf; manchmal halten sie sich daran, öfter wahrscheinlich nicht. Vielleicht lernen sie etwas von mir, vielleicht sogar gelegentlich etwas Gutes, das ihnen helfen wird auf ihrem Lebensweg. Ich lerne täglich sehr viel von ihnen.

Tagtäglich begegnen wir uns, so wie wir sind: mal fröhlich, mal traurig, sanft, ärgerlich. Mal ist unsere Beziehung eine leichte, spielerische, mal prallen wir mit großem Getöse aufeinander. Gemeinsam wachsen wir. Ich habe keinen Plan von Erziehung, aber ich übe mich jeden Tag aufs Neue in Beziehung. Ich mache mir keine Sorgen um die Zukunft meiner Kinder – sie sind absolut beziehungsfähig.

Und natürlich findet irgendwie Erziehung in unserer Beziehung statt – da kann ich mir sonst was zusammenreimen. Alles, was ich tue und nicht tue, jedes ausgesprochene und nicht ausgesprochene Wort prägt meine Kinder. Auf der Grundlage unserer gemeinsamen Liebe und gegenseitigen Fürsorge habe ich keine Angst, etwas falsch zu machen. Jeder von uns tut alles so gut er es im Moment kann, und gemeinsam entwickeln wir uns.

Michael Feike

Michael Feike, 33, Schriftsteller, lebt am Existenzmininum – aus Überzeugung: Muße und Zeit für seine Kinder zu haben ist ihm wichtiger als Geld und Karriere. Stöbern Sie in seinen Texten

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ich habe gerade das buch “we will die” gelesen und bin begeistert! selten so frisch, frech und pointiert ein buch über buddhismus gelesen! ich werde es meinem 16jährigen sohn zu weihnachten schenken! lg birgit aus salzburg

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