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„Ich will nicht neutral sein“

Foto: Yvonne Schalch
Foto: Yvonne Schalch

Der Fotojournalist Manuel Bauer im Portrait

An der Seite der Schwachen stehen, das ist die Devise des Schweizer Fotografen Manuel Bauer, der durch journalistische Fotoreportagen über den Dalai Lama und Tibet bekannt wurde. In seinem Beruf will er nicht neutral sein, sondern sich berühren lassen. Privat wird ihm im Leben mit seinem schwerbinderten Sohn viel Mitgefühl abverlangt.

Der Schweizer Fotograf Manuel Bauer hat die Kunst, sich unsichtbar zu machen. Er steht zum Beispiel direkt vor dem Dalai Lama, der viele Jahre sein Lieblingsmotiv war, und verschwindet wie durch Zauberhand. Zumindest nimmt man ihn kaum wahr, wie kann das sein?

Manuel Bauer hat lange darüber nachgedacht: „Als Fotograf beeinflusst du die Wirklichkeit allein durch deine Präsenz, gleichzeitig willst du ein authentisches Bild machen und kein künstliches.“ Das ist die Gratwanderung des journalistischen Fotografierens. Man dringt in die Privatsphäre eines fremden Menschen ein und stört ihn. Wäre man aber zu schüchtern und würde das nicht tun, dann gäbe es das Foto nicht.

„Ich versuche, so wenig wie möglich zu stören“, überlegt Bauer. „Aber manchmal musst du aggressiv sein – um der Sache willen, damit das Bild zustande kommt und seine Wirkung entfalten kann“. Zum Beispiel wenn es darum geht, Flüchtlinge zu fotografieren. Bilder zeigen ihre Gesichter und so wird ihr Schicksal lebendig.

Manuel Bauer kommt früh mit der Kunst in Kontakt. Sein Vater war frei schaffender Grafiker und Künstler. Das Besondere: Er hat immer ausgewählt, für welche Kunden er arbeitet und für wen er sich nicht verdingen wollte. Das hat Bauer, 1966 geboren, imponiert.

Bauer macht von 1983 bis 1987 eine Lehre in Werbefotografie. Hier lernt er gutes Handwerk, kommt aber mit seinen Idealen schnell an Grenzen. „Du musst Dinge in bestes Licht rücken, die du eigentlich ablehnst“, denkt sich der junge Mann. So verbringt er die Tage im Studio und verteilt abends Flügblätter für politische Kampagnen, denn er war seit seiner Jugend politisch interessiert.

Besonders gespürt hat er die Zerrissenheit beim World Economic Forum in Davos, wo er Anfang der 1990er Jahre als Fotograf anheuerte. Morgens den chinesischen Ministerpräsidenten Li Peng ablichten, abends gegen die Besetzung Tibets demonstrieren. Das passte irgendwann nicht mehr zusammen.

Der Fotograf wird zum Akteur

Bereits nach der Lehre orientiert sich Manuel Bauer neu, in Richtung Fotojournalismus. Er nimmt erste Aufträge für Auslandsreportagen an und berichtet zum Beispiel über die Tamilen in Sri Lanka. In Folge des blutigen Bürgerkriegs flüchten in den 1980er Jahren tamilische Familien nach Europa, und Journalisten wollen den Menschen ihre Kultur nahe bringen. Auch ökologische Themen nimmt er ins Visier wie Waldsterben und Verkehr.

Ab Ende der 1980er Jahre beschäftigt ihn intensiv die Tibet-Thematik. Bauer arbeitet an einer Ausstellung zur tibetischen Diaspora mit und fotografiert dafür unter anderem die Reportage „Ein Tag im Leben des Dalai Lama“.

Foto: Yvonne Schalch

Der Durchbruch als Foto-Journalist gelingt ihm mit der Geschichte „Flucht aus Tibet“, die 1995 im renommierten Schweizer Magazin „Du“ erscheint. Hier wird der Fotograf selbst zum Akteur. Bauer begleitet eine Familie auf ihrer Flucht von Lhasa ins nordindische Dharamsala und nimmt dabei selbst die Risiken und Strapazen auf sich.

Die Vorbereitung nimmt über ein Jahr in Anspruch: das Aufbauen von Kontakten, Interviews und Recherchen – all das illegal. Denn Tibet ist ein besetztes Land, und die chinesischen Behörden haben kein Interesse an derlei Berichterstattung.

Im April 1995 ist es so weit: Ein Vater will mit seiner sechsjährigen Tochter die Flucht antreten und erlaubt die fotografische Dokumentation. Bauer rechnet mit dem Schlimmsten:

„Ich habe mich, als die Entscheidung gefallen war, innerlich von meinem Leben zu Hause losgesagt. Habe von Tibet aus meine Freundin angerufen und mich von ihr verabschiedet. Kinder hatte ich zu der Zeit noch nicht. Ich musste damit rechnen, nicht zurückzukommen“. Man spürt noch heute, wenn er erzählt, das Adrenalin in den Adern. „Ich war auf Gedeih und Verderb mit der kleinen Familie verbunden und teilte ihr Schicksal.“

„Wir Fotografen stehen an der Seite der Schwachen“

Was hat ihn bewogen, so eine waghalsige Geschichte zu machen, einen Vater und seine Tochter auf ihrem langen, gefährlichen Weg in eisiger Kälte durch die unwirtlichsten Gegenden dieser Welt zu begleiten?

Manuel Bauer hat herausgefunden, was Fotografie kann und nennt als Beispiel den Vietnamkrieg. Erst die erschütternden Bilder aus Vietnam hätten die amerikanische Öffentlichkeit wachgerüttelt, gegen den Krieg auf die Straße zu gehen.

Aber heute, wo wir in der Bilderflut untergehen? „Ich bin sicher, dass Fotografie etwas bewirken kann. Wir Fotografen können uns auf die Seite der Schwachen stellen. Ja, an einem Punkt habe ich meine journalistische Neutralität bewusst aufgegeben. Ich will nicht neutral sein, sondern mich berühren lassen. Ich will mich für Menschen einsetzen und meiner Betroffenheit Ausdruck geben.“

Die Fotos vom 20 Tage dauernden gefährlichen Weg über den Himalaya erscheinen unter dem Titel „Tibet. Der lange Weg“ im Juli-Heft 1995 der Zeitschrift „Du“. Bauer ist der einzige Fotograf, der so eine Flucht begleitet hat. Die Fotos machen ihn bekannt.

Beim Dalai Lama: „Manchmal fühlte ich mich fast wie sein Sohn“

Mit dem Thema Tibet und Himalaya bleibt Manuel Bauer verbunden. In den Jahren 2001 bis 2005 arbeitet er für einen großen Bildband als offizieller Fotograf des Dalai Lama. Er begleitet ihn bei seinen zahlreichen Auslandsreisen und besucht ihn viele Male zu Hause im indischen Dharamsala. Der Fotograf ist einer der wenigen, die den Dalai Lama bei seiner mehrstündigen Morgen-Meditation erleben.

Der Dalai Lama sagt ihm: „Du kannst 24 Stunden bei mir sein, wenn du möchtest“. Er teilt auch sein Frühstück mit ihm. Die Bilder geben tiefe Einblicke in das Leben des Friedensnobelpreisträgers, der für viele ein Vorbild ist.

Tenzin Choejor

Manuel Bauer (rechts) als Fotograf bei einer Zeremonie mit dem Dalai Lama in Indien Foto: Tenzin Choejor

 

Wie war diese Zeit für den Fotografen? „Dies waren beruflich die schwierigsten Jahre meines Lebens“, seufzt der 51-Jährige. Zum einen ist es der Druck, gute Bilder zu machen – von einem Menschen, dessen Tagesablauf durchgetaktet und oft von strengen Protokollen bestimmt ist. „Das ist knallharte Arbeit.“

Zum anderen müsse man tatsächlich die Fähigkeit entwickeln, sich unsichtbar zu machen, „denn als Fotograf will ich den Dalai Lama nicht stören. Als er um fünf Uhr morgens meditierte, hatte ich immer Angst, dass mir etwas herunterfällt.“

Doch die große Erschöpfung, die diese Jahre mit sich bringen, ist nur eine Seite. Auf der anderen Seite entsteht eine tiefe Verbundenheit mit dem Dalai Lama: „Ich habe viel Resonanz bekommen. Manchmal fühlte ich mich fast wie sein Sohn, als hätte er mich adoptiert“, lächelt Bauer.

„Allerdings hat es bei mir lange gedauert, diese Nähe zuzulassen. Ich war zu diskret, zu wenig sichtbar und natürlich auch oft mit Technik und Fotografieren beschäftigt. Wenn der Dalai Lama mich etwas fragte, verstummte ich oft. Das war schade, denn er ist so kommunikativ und offen. Und er liebt es, wenn man ihm etwas erzählt und andere Sichtweisen einbringt.“

Familiärer Ausnahmezustand

Der Dalai Lama erkundigt sich auch regelmäßig nach Bauers Privatleben. Und das ist ein permanenter Ausnahmezustand. Sein Sohn Yorick, 2002 geboren, leidet seit der Geburt an Störungen in seinen Hirnströmen.

Die Behinderung ist so schwer, dass der heute 15-Jährige sich nicht normal bewegen, gehen oder essen kann. Auch Sprechen ist ihm nicht möglich.

Manuel BauerIn den frühen Jahren hatte der Kleine mehrmals pro Stunde epileptische Anfälle, was die ganze Familie in Dauer-Stress versetzte. Heute geht er tagsüber in eine spezielle Schule, wird aber zu Hause nach dem Nestprinzip versorgt. Bauer und seine Ex-Frau Andrea kommen abwechselnd in die Wohnung, um mit Yorick und seiner Schwester Marika zu leben.

2017 hat Manuel Bauer über das strapaziöse Leben ein Buch geschrieben „Brief an meinen Sohn“. Es beschreibt den Alltag – vom morgendlichen Aufstehen bis zum Schlafengehen. Am Morgen dauert die Betreuung eine Stunde, am Abend drei Stunden.

„Wenn ich Yorik morgens fertig gemacht habe und um 9 Uhr das Auto kommt, das ihn zur Einrichtung bringt, bin ich fix und fertig. Doch dann geht für mich der Arbeitstag erst los,“ erzählt Bauer, der manchmal nicht weiß, wie er all den Anforderungen in Beruf und Familie gerecht werden kann.

Lieben ohne wenn und aber

Wenn der Sohn dann auch noch eine schwere Rücken-Operation hat, wie vor einem Jahr, ist an berufliche Arbeit kaum mehr zu denken. Dann müssen Bauer und seine Exfrau permanent zur Stelle sein, um ihren Schützling zu betreuen und die Nachwirkungen des Eingriffs abzufedern. Und es kann vorkommen, dass der Fotograf ein halbes Jahr keinen Auftrag annehmen kann, weil einfach keine Zeit für berufliche Arbeit ist.

Schon bei der Lektüre des Buches fragte ich mich, wie er mit dem Wechselbad der Gefühle umgeht: die Sorge um den Sohn, die Strapazen der Pflege, die Geduld, Liebe und Trauer? „Ich stelle mich der Aufgabe und will lernen“, sagt er entschlossen. Diese Neugier, die Fähigkeit, extreme Herausforderungen anzunehmen, durchzieht sein Leben, ob beruflich oder privat.

Seine größte innere Ressource ist die radikale Akzeptanz. Ob es ein „guter“ oder ein „schlechter“ Tag ist, darüber ist er längst hinweg und zitiert ein Sprichwort: „Es gibt für mich kein gutes und kein schlechtes Wetter, nur Sonne und Regen.“

Im Leben mit seinem Sohn kann er nichts erwarten. Dass es irgendwann besser würde, dass Yorick etwas lernen und sich aus seiner Hilflosigkeit befreien könnte. „Die Hoffnung habe ich abgelegt, sie hat mich zu oft enttäuscht und in die Irre geführt. Allenfalls einen sanften Tod wünsche ich ihm, wenn die Zeit gekommen ist,“ sagt er mit gebrochener Stimme.

Seinen Sohn als Lehrer zu sehen und in jeder Situation alles zu geben, das ist sein Weg. Die Lektionen, die Yorick ihm aufgibt, gehen an die Grenzen dessen, was Menschen ertragen können. Die Eltern sind im Grenzland zwischen Leben und Tod unterwegs. Von Anfang an hatten die Ärzte Yorick keine lange Lebenserwartung prognostiziert.

Während andere Krankheit und Tod verdrängen, gehören sie bei Manuel Bauer zum Alltag. „Wenn du diese maximale Unsicherheit annehmen kannst, kannst du innerlich wachsen.“ Den Egoismus überwinden, Empathie und Mitgefühl stärken – da ist er sich mit dem Dalai Lama einig –, darum geht es. Dies sind die einzig wahren Werte.

„Wenn Yorick mir in die Augen schaut, strömt eine große Liebe zwischen uns, eine Liebe ohne wenn und aber“, sagt Bauer sichtlich gerührt. „Mein Sohn kann nichts, er ist so begrenzt. Aber wenn seine Augen leuchten, dann weiß ich, wofür es sich zu leben lohnt.“

Birgit Stratmann

Zur Website von Manuel Bauer

Projekt Dalai Lama

Projekt Mustang – ein Dorf zieht um

Lesen Sie auch einen Auszug aus seinem Buch „Brief an meinen Sohn“

 

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