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„In Belarus haben wir eine feministische Revolution“

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Frauenprotest in Belarus |
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Interview mit Olga Shparaga

Seit Monaten demonstrieren Hunderttausende in Belarus gegen das System von Lukaschenko. Die Philosophin Olga Shparaga ist Mitglied der Oppositionsbewegung, die von Frauen getragen wird. Sie spricht im Interview über häusliche Gewalt, politische Unterdrückung und eine engagierte Zivilgesellschaft. „Wenn Hunderttausende Widerstand leisten, sind sie mit ihren Lieferwagen für die Gefangenen machtlos.“

Olga Shparaga, Mitglied vom „Stab des Koordinationsrates“ für die Proteste und Hochschullehrerin am European College der Freien Künste in Minsk, hat sich an den Demonstrationen gegen Lukaschenko beteiligt. Sie kam für zwei Wochen ins Gefängnis und entschied sich nach ihrer Haft, Belarus zu verlassen. Das folgende Gespräch erschien zuerst in russischer Sprache auf Lady.TUT.BY. Wir veröffentlichen es in zwei Teilen, mit freundlicher Genehmigung von Olga Shparaga. Aus dem Russischen übersetzt von Antje Boijens.

Frage: Bei den Festnahmen in den ersten Tagen der Proteste trat der belarusische Staat mit bisher nie gekannter Härte auf und wendete sogar Gewalt gegen friedliche Demonstranten an. Woher kommt dieses Verhalten?

Shparaga: Menschen neigen gewöhnlich zu Empathie, aber wenn man Empathie institutionell „drosselt“ oder nicht entwickelt, kann die Fähigkeit zum gemeinsamen Überleben mit der Zeit fast verschwinden. Nicht umsonst schenkt man in demokratischen Ländern der Entwicklung der Anteilnahme am Schmerz anderer Menschen viel Aufmerksamkeit, z.B. durch Theater, Spiel und die Beziehung zur Kunst. Zusätzlich widmet man sich der Entwicklung von Empathie schon im Kindergarten. Wer aber nicht gelernt hat, sich in andere Menschen einzufühlen, für den ist der Einsatz von Gewalt akzeptabel.

Letzten Endes ist Gewalt als Form der Beziehung zu den Menschen nichts Neues für die belarusische Staatsmacht. So hat zum Beispiel Lukaschenko 2018 in Kriegsuniform, als er irgendwo auf einem Militärgelände stand, ein Gesetz kritisiert, in dem es um die Bekämpfung häuslicher Gewalt ging. Er sagte, dass es normal sei, Kinder zu schlagen. In diesem Moment zeigte Lukaschenko ganz offen die Verbindung von häuslicher Gewalt mit den üblichen Schikanen in der Armee und mit der Gewalt in der Gesellschaft im Allgemeinen.

Würde man einem Gesetz zur Bekämpfung häuslicher Gewalt zustimmen, würde man eines der zentralen Elemente entfernen, auf die sich das Gewaltsystem der Staatsmacht stützt. Würde man häusliche Gewalt ablehnen, könnte man auch die Unterwerfungsrituale in der Armee nicht als Norm akzeptieren. Ebenso unzulässig wäre Gewalt in Schulen, in Unternehmen oder Firmen. Das wäre dann ein Machtverlust.

Der Staat steckt hoffnungslos in den 1990er Jahren fest, während die Gesellschaft sich nach vorne weiterentwickelt hat.

Manchmal wird die Gewalt gegen Menschen in den Distriktgefängnissen (RUVD), in der Isolationshaft und in der Okrestina [berüchtigtes Gefängnis in Minsk, Anm. der Übersetzerin] verglichen mit Auschwitz. Wie korrekt ist dieser Vergleich?

Shparaga: Mit solchen Vergleichen soll man sehr vorsichtig sein. Hannah Arendt, die Philosophin und Holocaust-Forscherin, schrieb, dass die Nazi-Lager sinnlose Fabriken zur Vernichtung von Menschen waren. In Belarus gibt es ein Ziel für die Gewalt: Umerziehung, Angst einflößen, zeigen, dass der an der Spitze die Macht hat.

Olga Shparaga bei einer Demonstration in Minsk. Foto: Violetta Savchits

Das Wichtigste ist hier die Dehumanisierung und die Auslöschung der Persönlichkeit des Opfers. Aus diesem Grund wird die Vorstellung verbreitet, dass diejenigen, die protestieren, nur Marionetten in den Händen von denen seien, die die Fäden ziehen. Sie werden gleichgesetzt mit „Ratten“ und „Verbrechern“, die nicht eigenständig handeln können, sondern von anderen dazu angestiftet werden müssen.

Wenn man die Idee hat, dass ein Mensch aus eigenem Antrieb rausgeht, protestiert und die eigene Meinung sagt, ist das gleichzeitig das Bekenntnis, dass er eine Vormundschaft vonseiten der Staatsmacht nicht nötig hat.

Wie haben sich Vorstellungen von Gewalt in der Gesellschaft gewandelt und welche Vorstellung von Gewalt hat der Staat weiterhin?

Shparaga: Staat und Gesellschaft verstehen Gewalt unterschiedlich. Der Staat steckt hoffnungslos in den 1990er Jahren fest, während die Gesellschaft sich nach vorne weiterentwickelt hat. Bei mir läutete das Glöckchen zum ersten Mal durch die Initiative „Marschiere, Kindlein!“, die eine Videoserie über häusliche Gewalt unter den Bedingungen von COVID-19 gestartet hat.

Sie luden auch Männer zur Teilnahme ein und viele haben mitgemacht. Das zeigte eindeutig, dass häusliche Gewalt in der Bevölkerung nicht mehr als reines Frauenproblem gesehen wird. Das Bewusstsein der Männer kennzeichnet eine neue Stufe des Verständnisses.

Menschen in Belarus sind zudem in einen weltweiten Diskurs darüber eingetreten, was man unter angemessener und nicht angemessener Gewalt versteht. Hier geht es auch um ein Verständnis der universellen Menschenrechte, der Menschenwürde, des Kampfes für seine Rechte, der Diskriminierung sowie um die Sensibilisierung für die verschiedenen Erscheinungsformen der Gewalt.

Die „feministische Revolution“ entstand, weil Lukaschenko nicht anerkannte, dass Frauen aktive Subjekte sind.

Eine der Besonderheiten der belarusischen Proteste wurden die Aktionen der Frauen. Warum?

Shparaga: Man kann den belarusischen Protest emanzipatorisch nennen. Die Feministinnen haben viele Jahre darüber gesprochen, dass Frauen an ihre Kraft glauben müssen, dass sie lernen müssen, die existierende politische, ökonomische und psychologische Gewalt zu erkennen und abzulehnen. Die feministische Parole „Nein heißt Nein!“, die sich einer Kultur der Gewalt und dem Recht des Stärkeren widersetzt, scheint mir sehr wahrhaftig für unsere heutig Gesellschaft zu stehen.

Ich denke, die „Evolution“ oder wie sie Sergej Tschalyi, Analyst bei TUT.BY, nannte, die „feministische Revolution“, entstand, weil Lukaschenko nicht anerkannte, dass Frauen aktive Subjekte sind. Die Staatsmacht glaubte einfach nicht, dass eine Frau bzw. Frauen Führungspositionen übernehmen können, dass sie sich zusammenschließen und neue Kampfesstrategien entwickeln können.

Aber die Gesellschaft hat die Frauen aus dem Koordinationsstab anerkannt und den Frauenprotest unterstützt. Es entstand eine paradoxe Situation, die die Revolution weiter unterstützte: die Staatsmacht fand sich in den Fängen ihres eigenen Patriarchats wieder.

Das Bild „Eva“ von Chaim Sutin ist also nicht zufällig das Symbol des Protests?

Olga Shparaga trägt ein T-Shirt mit “Eva”, das zum Symbol des Protests wurde. Foto: Violetta Savchits

Shparaga: Nein gar nicht. In Kulturkreisen haben viele Kuratorinnen und Kulturmanagerinnen „Eva“ sofort als Symbol des Protests erkannt. Mir gefällt dieses Symbol, weil Eva so entschlossen ist. Das ist nicht das typische Abbild der Frau mit gesenktem Blick.

Sie hat die Hände wie eine Richterin verschränkt und schaut eindringlich auf die Betrachter. Heute ist Eva eine sanfte Kraft, die für die Dezentralisierung, die Priorität der Interessen der Gesellschaft vor den persönlichen Ambitionen, aber auch für Solidarität und Kreativität steht. So wurden die Frauen zum Ausdruck der Interessen und der Strategie des Widerstands.

Außerdem kann man erkennen, dass unsere Gesellschaft nicht so konservativ ist, wie sie auf den ersten Blick erscheint, da sie die Frau als Ausdruck des Protests anerkannt hat. Andererseits ist Sexismus in unserer Gesellschaft immer noch weit verbreitet und so benutzen die Massenmedien weiter eine Sprache, die die Frauen als das „schwache Geschlecht“ darstellt. Der Unterschied bei den Gehältern ist auch nirgendwo verschwunden. Das heißt, vor uns liegt noch viel Arbeit, damit sich die Lage der Frauen im Land verbessert und sie in Führungspositionen kommen.

Wir können alles machen, wenn wir uns zusammenschließen.

Welche Rolle hat dann Covid-19 bei den vergangenen Ereignissen gespielt?

Shparaga: Die Staatsmacht hat gesagt: Belarusen, entscheidet selbst, es gibt kein Virus und wenn doch, ist es ungefährlich. Und die Menschen haben entschieden. So hat man sich in dieser schwierigen Situation auf sich selbst und die Unterstützung der anderen verlassen. Da ist ein Wille zum Handeln; die Belarusen haben die Fähigkeit, ihre eigenen Probleme zu lösen und sich zu solidarisieren.

Das war der Moment der Hinwendung zu sich selbst, zum Gefühl der eigenen Würde und zur Anerkennung von sich selbst als aktivem Subjekt, das keiner gewaltsamen Unterstützung bedarf. Und das umso mehr als der Staat als Gegenleistung ein nur schlecht arbeitendes medizinisches System anbietet und das Rechtssystem faktisch fehlt.

Das haben Viktor Babariko und Marija Kolesnikova, diese zentralen Figuren des Widerstands in Belarus gut herausgearbeitet: Alles liegt jetzt in den Händen der Belarusen selbst. Wir können alles selbst machen, wenn wir uns einig werden und uns zusammenschließen.

In den Gemeinschaften, in denen ich mich aufhalte (Forschung, Kunst-Community, Feministinnen und nun auch Post-Gefangene) findet diese Idee einen großen Widerhall. Das Wichtigste sind also nicht die Führungsfiguren, sondern wir, unsere Solidarität und unser Können im Umgang mit den technologischen Mitteln. Deswegen ist der belarusische Protest ein kluger Protest.

Die Menschen sind bereit, Verantwortung zu übernehmen und wollen sich nicht mit Führungsfiguren zusammentun, die sich über sie erheben und sagen: „Alle müssen auf uns hören!“

Es hat sich jetzt eine andere Vorstellung von Führung unter uns herausgebildet. Sie sind Beraterinnen und Berater, die Entscheidungen vorbereiten oder anleiten, aber ansonsten sind wir es selbst, die den Weg vorgeben. Möglicherweise ist diese Antwort nach langen Jahren der Unterdrückung und der Erniedrigung der Menschen zu Subjekten das Bedürfnis, sich wieder aktivem bürgerlichen Handeln zuzuwenden.

Die Gesellschaft entwickelt eigene Lösungen und Formen des Widerstands.

Welche Rolle spielen in den Protesten die NGOs und Bürgerinitiativen? Woher kommt bei der Staatsmacht die Idee, dass es immer jemanden geben muss, der die Proteste koordiniert?

Shparaga: In den letzten 10 bis 15 Jahren hat es große Veränderungen in der Zivilgesellschaft gegeben. Eine neue Generation von NGOs ist herangewachsen, die sich mit Ökologie, sozialem Verhalten und mit den Problemen der Frauen oder denen der Radfahrer beschäftigt. Das macht vielleicht den Eindruck, als seien sie eher unpolitisch.

Aber es gibt eine politische Dimension in ihrem Handeln, die sie eint, egal, ob Radfahrer für Fahrradwege kämpfen, Frauen sich gegen häusliche Gewalt erheben oder ob Menschen in die Politik gehen und sich mit Gesetzen beschäftigen, mit Staatsvertretern kooperieren und versuchen, die soziale Realität zu verändern.

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„Kupalinka“ ist ein melancholisches Volklied, das zum Ausdruck des Widerstands in Belarus wurde. Es geht um ein Mädchen in der Mitsommernacht, das vermisst wird. Sie findet sich dann im Garten, wo sie Rosen pflückt, sich an den Dornen sticht und aus den Blumen einen Kranz flicht. Mit Bezug auf die Liedzeile “Wo ist denn mein Töchterchen?“ gehen protestierende Frauen heute zu den belarussischen Gefängnissen und fragen nach ihren Angehörigen.“

Wir sollten verstehen, dass hier nicht bürgerliche Aktivisten Proteste anführen, sondern, dass die Gesellschaft eigene Lösungen und Formen des Widerstands entwickelt. In den vergangenen Monaten ist es uns gelungen, vieles zu klären und zu erreichen. Fast alle Basisinitiativen, die im Netz entstanden sind, fanden Resonanz und realisierten sich.

Menschen kamen als Zuschauer, trafen und treffen sich zu Hunderttausenden von Meetings und Märschen, denken sich eine Vielzahl von Aktionen aus, ziehen Abgeordnete zurück, entwickeln Aktivitäten in den Höfen der Häuser und vieles mehr. Ständig sieht man neue Strategien und Formen des Widerstands entstehen, es tauchen neue Ideen und Instrumente auf und der Prozess ist nicht mehr anzuhalten.

Man muss verstehen, dass ein totalitäres System die ständige Aktivität von Bürgern nicht erträgt, denn wenn Hunderttausende Widerstand leisten, dann sind sie mit ihren Lieferwagen für die Gefangenen machtlos.

Lesen Sie auch den 2. Teil des Gesprächs über die zweiwöchige Haft: “Unter dem Kopf Plastikflaschen mit warmem Wasser”

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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