„Ethik ist eine Überlebensfrage“

Manuel Bauer
Dalai Lama am 15. Mai im Dialog mit Jugendlichen in der Frankfurter Paulskirche. |
Manuel Bauer

Dem Dalai Lama liegt die Jugend am Herzen

Der Dalai Lama sprach bei seinem Deutschlandbesuch vom 13. bis 16. Mai mit Schülern aus Frankfurt: „Wir sollten alles dafür tun, dass Kinder früh ein moralisches Rückgrat entwickeln.“
Am 15. Mai 2014 versammelten sich auf Einladung des Tibethauses Deutschland rund 700 Schülerinnen und Schüler aus Frankfurt und Umgebung in der Paulskirche, um den Friedensnobelpreisträger zu hören.
In seiner kurzen Ansprache zum Thema „Ethik in unserer gemeinsamen Welt“ sagte er eindringlich: „Ihr jungen Menschen habt die Möglichkeit, eine neue, bessere Welt zu schaffen, die friedvoller und harmonischer ist.“
Das 20. Jahrhundert sei von Krieg und Gewalt bestimmt gewesen. Verantwortung dafür trage die ältere Generation, die nicht in der Lage gewesen sei, Konflikte friedlich zu lösen. Die Vergangenheit könne man nicht ungeschehen machen, man müsse daraus lernen und alles daran setzen, das 21. Jahrhundert zu einem Jahrhundert des Friedens und des Dialogs zu machen. Dabei spiele die säkulare Ethik, also eine Ethik, unabhängig von Religion, eine wesentliche Rolle.
„Das Glück der Menschheit muss und kann nur vom Individuum ausgehen“, so der 79-Jährige. Denn die meisten Probleme heute wie Krieg, Gewalt, Armut und Umweltzerstörung seien von Menschen verursacht, die sich unethisch verhielten. Daher könnten diese auch nur von Menschen gelöst werden, die sich an ethische Prinzipien hielten, wie andere nicht zu verletzen.
Äußerer Friede sei nur möglich, wenn die Menschen Frieden in ihrem Inneren entwickelten und inneren Werten größere Aufmerksamkeit schenkten: „Innere Werte zu entwickeln wie Fürsorge für andere, Respekt und Toleranz, ist eine Überlebensfrage“, so der Dalai Lama. Das sei für ihn die Bedeutung von Ethik.

Der jungen Generation kommt eine Schlüsselrolle zu

„Es ist an der Zeit, die Interessen des Individuums zurückzustellen und die gemeinsamen Interessen der sieben Milliarden Weltbürger in den Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns zu stellen“, so der Dalai Lama. Der jungen Generation komme dabei eine Schlüsselrolle zu.
Nach seiner Rede beantwortete der Dalai Lama rund eine Stunde lang Fragen von Schülerinnen und Schülern aus der 9. bis 12. Klasse: Wie können wir in unserer Schule friedlicher zusammenleben? Wie kann man im Alltag mehr Mitgefühl üben? Warum ist es wichtig, Geduld zu haben? Wie gehen wir mit unserer Wut um? Wie kann eine Ethik Kraft gewinnen, die ohne göttliches Wesen und verbindliche Vorgaben auskommt? Kann der Dalai Lama auch als Christ oder Moslem wiedergeboren werden?
Auf einen Punkt kam der Friedensnobelpreisträger immer wieder zu sprechen: Negative Emotionen wie Wut, Ärger und Angst torpedierten unser Bemühungen, ethisch zu handeln und andere nicht zu verletzen. Sie seien darüber hinaus schädlich für das Immunsystem. Ein friedfertiger Geist dagegen wirke sich positiv auf den ganzen Körper aus. Daher müssten wir Mittel erlernen, den Geist zu beruhigen und innerlich stark zu werden.
„Mitgefühl bringt innere Stärke“, so der Dalai Lama. Wer nicht seine eigenen Interessen in den Vordergrund rücke, sondern die Bedürfnisse anderer Menschen, wer anderen Wohlwollen und Fürsorge entgegen bringe, der lebe selbst ruhiger und erlebe harmonischere Beziehungen zu seinen Mitmenschen. Daher müssten diese Werte in die Erziehung integriert werden.

Dalai Lama PKonfi 14.05.2014
Foto: Tamara von Rechenberg. Auf der Pressekonferenz stellt eine Kinderreporterin eine Frage an den Dalai Lama.

Das Erziehungssystem muss stärker moralische Werte vermitteln

Auf der Pressekonferenz am 13. Mai 2014 hatte das Netzwerk Ethik heute die Gelegenheit, dem Dalai Lama eine Frage zu stellen: „Was sind die wichtigsten Werte für junge Menschen? Und wie weit sind Sie mit der Entwicklung eines Ethik-Curriculums für Kinder?“
Die Antwort des Dalai Lama: „Wir Menschen sind soziale Wesen. Mitgefühl und die Sorge um andere sind biologisch in uns angelegt. Aber leider begrenzen wir diese Werte auf Menschen, die uns nahe stehen. Doch es ist wichtig, dass wir den Kreis derer, denen wir uns nah und verbunden fühlen, kontinuierlich ausdehnen, bis wir alle Menschen, ja sogar alle Lebewesen, ins Herz schließen können. Wir bringen allen ein warmes Gefühl entgegen, einfach weil sie Menschen sind.
Die Trennung in „ich“ und „andere“ ist überholt. Wir leben in einer vernetzten Welt, in der wir voneinander abhängig und aufeinander angewiesen sind. Deshalb müssen wir stärker das „Wir“ betonen, unsere gemeinsamen Interessen. Leider greift das heutige Erziehungssystem dies nicht auf: Es orientiert sich stark am Materialismus und Konkurrenzdenken.

Das Erziehungssystem muss stärker moralische Werte vermitteln, die nicht an eine bestimmte Religion gebunden sind. Ich denke an Werte, die eine säkulare Basis haben und dadurch gleichermaßen für gläubige wie für nicht-gläubige Menschen gültig sind. Eine Erziehung in säkularer Ethik kann allen Kindern helfen, ein moralisches Rückgrat zu entwickeln.

Vor 15 Jahren habe ich im Rahmen meiner Arbeit mit dem Mind & Life Institute zusammen mit Neurowissenschaftlern, Psychologen und Pädagogen angefangen, mir Gedanken zu machen, wie wir menschliche Werte in die Erziehung einbringen können: Achtsamkeit, Wertschätzung, Respekt, Mitgefühl. Daraus entstand die Idee, ein Ethik-Curriculum auf säkularer Basis zu entwickeln.
Das Curriculum ist nun in Arbeit und wird in diesem oder im nächsten Jahr fertig sein. Einige Schulen in den USA und in Indien haben bereits Interesse angemeldet, es zu testen. Falls es sich bewährt, könnte es weiter verbreitet werden. Mein Wunsch wäre, dass wir die Kinder so früh wie möglich – und natürlich kindgerecht – mit ethischen Werten in Kontakt bringen: vom Kindergarten über die Grundschule bis hin zu höheren Schulen. Auf diese Weise könnten wir innere Werte nachhaltig in unserer Kultur verankern.“

Birgit Stratmann

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Ihr habt zu einer Reflexion des Begriffs “Verantwortung” eingeladen. Für unsere Initiative ist das ein zentraler Begriff. Mit unserer Plattform das-macht-schule.net stiften wir Schüler zu mehr Eigeninitiave, Verantwortung und Gemeinsinn an. Als glaubwürdige Vorbilder aus den eigenen Milieus können die Schüler mit ihren Projekten „Schule machen“. Warum das so wichtig ist? – Werte gehen verloren, Vorbilder geraten ins Wanken. Moralische Grundsätze, wie „Gemeinwohl geht vor Alleinwohl“,
werden zunehmend vom ökonomischen Kalkül verdrängt. Unsere Gesellschaft braucht eine Renaissance dieser staatstragenden Basistugenden und die Bereitschaft und Fähigkeit Verantwortung zu übernehmen. Wir verwenden das Triplet Eigeninitiative, Verantwortung und Gemeinsinn zur Beschreibung der Werte, die wir fördern, weil diese Begriffe zusammenhängen: Eigeninitiative ist die Grundlage für Verantwortungsübernahme. Verantwortungsübernahme und Gemeinsinn sind die Vorraussetzung für die Demokratiefähigkeit einer Gesellschaft. Ein Verfall dieser Werte destabilisiert die Gesellschaft und kann die Ordnung zerstören. Passivität, Verantwortungsabwehr und Eigennutz treten an ihre Stelle und damit Korruptionsbereitschaft, Konkurrenzdenken, Rücksichtslosigkeit, Gewaltzunahme und negative politische Tendenzen. Eigeninitiative ist also die Grundlage. Sie ist ihrer Natur nach freiwillig, selbststartend, setzt sich mit einem Thema ohne externe Aufforderung auseinander, setzt eine Aktivität eigenständig in Gang und hält sie bis zu Ende durch – also bis das gewünschte Ergebnis eingetreten ist. Verantwortung ist dann, gegenüber einer Instanz für sein Handeln Rechenschaft abegen zu können. Diese Instanz kann extern sein, aber was ich für viel wichtiger halte, ist die interne Instanz, meine eigene Moral, vor der ich “gerade stehen” können möchte.
Persönliche Nachsatz:
Verantwortung ist, so könnte man es sehen, mit sich selbst und seinem Handeln im Reinen zu sein. Denn was nützt es schließlich, wenn eine externen Instanz mein Handeln als einwandfrei beurteilt, aber ich selbst damit nicht im Reinen bin.

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