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„Junge Menschen scheren sich nicht um alte Grabenkämpfe”

Foto: Büro Teutrine
Foto: Büro Teutrine

Interview mit dem Vorsitzenden der Jungen Liberalen

„Die FDP ist keine Besserverdiener-Partei mehr“, sagt Jens Teutrine (28). Er ist 2021 in den Bundestag eingezogen – mit großen Erwartungen. Im Interview spricht er über die Interessen der Jungwähler, die anstehenden Weichenstellungen, den Reformbedarf im Bildungsbereich und seine Freiheitsliebe.

 

Das Gespräch führte Agnes Polewka

Frage: Die FDP hat bei den Erstwählern 23 Prozent erreicht. Hat sie das überrascht?

Teutrine: Ich war überrascht, wie viele überrascht darüber waren, dass wir bei den Erstwählern stärkste Kraft geworden und bei den jungen Wählern unter 30 Jahren gleichauf mit den Grünen gelandet sind. Schon bei den letzten Wahlen waren die jungen Wähler unter 30 ja unsere prozentual stärkste Wählergruppe.

Wir haben vor allem während der Pandemie neue Mitglieder gewonnen, denn meine Generation hat sich am stärksten vergessen gefühlt, wenn es um die Corona-Maßnahmen ging. Keine andere Altersgruppe hat angegeben, so stark unter der sozialen Isolation gelitten zu haben, was sich auch am Anstieg psychischer Erkrankungen zeigte. Laut einer aktuellen Studie zeigt jeder dritte Schüler psychische Auffälligkeiten.

Gleichzeitig haben jüngere Menschen sehr viel Rücksicht genommen, um andere Gruppen zu schützen. Sie sind aber oft die letzte Gruppe gewesen, die etwas zurückbekommen hat. Eine Bafög-Reform gab es nicht, obwohl alle politischen Jugendorganisationen Bildungsministerin Anja Karliczek einen offenen Brief geschrieben haben. Sie hat noch nicht einmal geantwortet – eine Respektlosigkeit! Die Jungen waren außerdem die Letzten, die ein Impfangebot bekommen haben.

Außerdem hat die FDP – und das eint sie mit den Grünen – keinen Status-quo-Wahlkampf gemacht. Beide haben nicht für ein „Weiter so“ geworben wie Olaf Scholz und Armin Laschet.

2017 hat die FDP bei den jungen Wählern zwischen 18 und 24 12 Prozent geholt. Was hat sich in den vergangenen vier Jahren verändert?

Teutrine: Einerseits hat die Pandemie nochmal ganz stark gezeigt, dass die Große Koalition die Interessen junger Menschen ignoriert. Das zeigt sich auch beim Thema Rente. Da haben wir als FDP mit unserer Aktienrente ein ganz exklusives Angebot gemacht und Zuspruch in einem jüngeren Wählermilieu gefunden. Und ich glaube auch, dass viele junge Menschen sich nicht so stark um alte Grabenkämpfe und Vorurteile scheren. Sie wählen vorurteilsfreier. Die FDP ist für sie keine „Besserverdiener-Partei“ mehr.

FDP und Grüne haben außerdem keinen taktischen Wahlkampf geführt. Keine der Parteien hat für Koalitionen geworben, keine der Parteien ist mit einem Anti-Wahlkampf gegen andere Parteien ins Feld gezogen, wie die Union in den letzten drei Wochen.

FDP und Grüne haben bei den Erst- und Jungwählern die absolute Mehrheit.

Sie haben jetzt mehrfach das Thema Generationenungerechtigkeit angesprochen. Ärgert sie das?

Teutrine: Mich ärgert das sehr. Es gab ja sogar ein historisches Urteil vom Bundesverfassungsgericht zum Thema Generationenungerechtigkeit, bezogen auf die Klimafrage. Und darauf, dass man heutige Entscheidungen auch nach zukünftigen Handlungsspielräumen ausrichten soll. Aber genauso könnte man das auch auf andere Themen, etwa die Rente, übertragen.

Inwiefern kann sich hier nun etwas ändern?

Teutrine: Diese Koalition hat die Aufgabe, das Thema Generationenungerechtigkeit anzugehen, weil sie drei Parteien vereint, denen die Erst- und Jungwähler ihre Stimme gegeben haben. Allein FDP und Grüne haben ja bei den Jung- und Erstwählern eine absolute Mehrheit, wenn man das auf das Parlament übertragen würde.

Deshalb bin ich optimistisch. Im Sondierungspapier steht, dass das Bafög elternunabhängiger werden soll. Jetzt gilt es auszuhandeln: Wie sieht die Bafög-Reform aus? Bei der Rentenpolitik gibt es einen Einstieg in die Kapitaldeckung im Rentensystem. Da wird der erste Schritt gegangen.

Die Koalition sollte nicht nur Politik für eine Legislaturperiode machen, sondern für Jahrzehnte. Es geht um große Weichenstellungen, weil große Herausforderungen auf uns warten: Dekarbonisierung, Digitalisierung und Demografie.

Wie sozial gerecht müssen diese Weichenstellungen sein? Immerhin ist das ein Thema, das Ihnen besonders wichtig ist.

Teutrine: Für mich sind besonders die Chancengerechtigkeit und die Leistungsgerechtigkeit innerhalb der sozialen Gerechtigkeit wichtig. Mit Chancengerechtigkeit meine ich, dass nicht die Herkunft über die Lebenschancen entscheiden darf, sondern der Umstand, wie sehr ich mich anstrenge.

Wir haben noch weitere Forderungen im Wahlprogramm, die es jetzt auszuhandeln gilt. Etwa die Gründung von Talentschulen. Kleinere Klassen, bessere Lehrer, innovative pädagogische Konzepte und zwar dort, wo die schwierigsten Rahmenbedingungen vorherrschen – als Leuchttürme der Chancengerechtigkeit.

Wenn die neue Regierung Kompromisse schließt und das Soziale, Ökologische und Ökonomische mitdenkt, kann sie die Gesellschaft befrieden.

Also ist soziale Gerechtigkeit primär eine Bildungsangelegenheit?

Teutrine: Im Bildungsbereich, aber auch im Sozialstaat gibt es Reformbedarf. Wir werden ja jetzt Hartz IV zu einem Bürgergeld umreformieren. Für uns bedeutet es, dass soziale Teilhabe für Kinder und Jugendliche einfacher und weniger bürokratisch wird, dass Hinzuverdienst-Möglichkeiten besser werden.

Junge Menschen dürfen von ihrem 450-Euro-Job bislang nur 170 Euro behalten, wenn sie in einer Bedarfsgemeinschaft wohnen und nebenbei arbeiten. Das finde ich leistungsfeindlich. Sie zahlen den wahren Spitzensteuersatz in Deutschland – 80 Prozent!

Ihnen möchten wir einen besseren Zuverdienst ermöglichen. Wir setzen uns für einen aufstiegsorientierten Sozialstaat ein, der auch soziale Teilhabe ermöglicht. Ich glaube, das werden riesige Projekte für die soziale Gerechtigkeit in unserem Land.

Wie lässt sich der Umbau unseres Landes – bis hin zum Klimawandel – sozial abfedern?

Teutrine: Beim Klimaschutz muss man auf jeden Fall auf die soziale Verträglichkeit achten. Wir haben mit die höchsten Strompreise in ganz Europa. Um dem entgegen zu wirken, soll die EEG-Umlage abgeschafft werden. Wir müssen auch an die Stromsteuer ran, bei den Benzinpreisen an die Mineralölsteuer.

Gleichzeitig braucht es in Sachen Klimaschutz eine CO2-Bepreisung. Das kostet die Bürger Geld und da steht die Frage im Raum, wie schüttet man das wieder aus? Sowohl die Grünen wie wir als FDP haben hier ein Konzept zur „Klimadividende“ ausgearbeitet: Einnahmen, die der Staat durch die CO2-Bepreisung erzielt, sollen sozial verträglich verteilt werden, insbesondere an Menschen mit niedrigeren und mittleren Einkommen.

Ich glaube, die große Chance dieser Koalition besteht darin, dass es hier sehr viele unterschiedliche Werte, Anschauungen und Forderungen gibt, die zeigen, welche öffentlichen Debatten aktuell in der Gesellschaft geführt werden. Wenn diese Koalition es schafft, sich zu einen und Kompromisse zu schließen und dabei stets das Soziale, Ökologische und Ökonomische mitdenkt, dann besitzt sie das Potential, die Gesellschaft zu befrieden.

Sie selbst sind mit 16 in die Partei eingetreten und ihr Lebenslauf widerspricht jeglichem FDP-Klischee. Ihre Mutter war alleinerziehend und hatte eine Putzstelle. Was hat Sie damals zum Parteieintritt bewogen?

Teutrine: Das war 2009 zur Bundestagswahl. Wir haben in der Schule die Wahlprogramme verglichen. Die FDP hat damals einen reinen Steuerwahlkampf geführt, mit Slogans wie „Arbeit muss sich wieder lohnen“oder „Mehr Netto vom Brutto“. Ich habe ja als Schüler nicht mehr Steuern gezahlt als die Mehrwertsteuer, hatte da also keine Berührungspunkte. Die FDP hat einen stärkeren Akzent auf der Leistungs- und Chancengerechtigkeit, weniger auf der Gleichheit und Umverteilung. Und mich hat das damals in der Werteorientierung – gerade aufgrund meiner Lebensbiografie – sehr angesprochen. Weil diese Werte meine persönlichen Stärken waren.

Außerdem ist die FDP die Partei der Freiheit und Bürgerrechte. Ich bin ein sehr freiheitsliebender Mensch und mich haben die Werte des Liberalismus überzeugt. Das heißt nicht, dass ich jeden Einzelpunkt immer gut fand oder jede Äußerung des Parteivorsitzenden.

Überzeugen Sie sie immer noch, die Werte der FDP?

Teutrine: Sonst wäre ich längst ausgetreten. Und ich werbe deshalb auch ganz stark für die Themen, von denen ich denke, dass die FDP sie noch stärker nach außen tragen muss und für den gesamten Full-Flavor-Liberalismus.

Auch interessant: “Junge Menschen im Parlament beteiligen” – Interview mit Zoe Mayer, der jüngsten Abgeordneten im Bundestag.

Jens Teutrine (28) ist seit August 2020 Bundesvorsitzender der Jungen Liberalen. Der Philosophiestudent wuchs gemeinsam mit einer Schwester als Kind einer alleinerziehenden Mutter auf. Wegen einer Sprachstörung besuchte er zunächst eine Förderschule. Nach dem Abitur begann er sein Studium der Philosophie und Sozialwissenschaftan an der Universität Bielefeld. Bei der Bundestagswahl 2021 zog er über die Landesliste der FDP Nordrhein-Westfalen in den Bundestag ein.

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