Achtsamkeit im Alltag mit Kindern
„Alles wird gut“, sagen wir oft, wenn Kinder mit Leid konfrontiert sind. Wir meiden Schmerz und die Auseinandersetzung damit. Besser wäre es, ehrlich zu bleiben, gerade auch angesichts von Krieg und Klimakrise, so Steve Heitzer. Der Pädagoge und Achtsamkeitslehrer ermutigt Eltern zu akzeptieren, dass Leben an Grenzen stößt und wir dennoch immer wieder Kraft schöpfen können.
Als meine Tochter mit fünf Jahren ihre beste Freundin verlor, die innerhalb weniger Tage an einer tückischen Krankheit starb, waren wir alle fassungslos angesichts der dunklen Geheimnisse des Lebens. Sie musste hinnehmen, dass wir nicht in einer heilen Welt leben.
Der Satz „Alles wieder gut…“, mit dem wir unsere Kinder oft trösten, wenn etwas passiert ist, passt oft nicht. Für unsere Kinder einen adäquaten Umgang mit Schmerz und Leid im Alltag zu finden, ist nicht so leicht, schon gar nicht in Zeiten von Krieg, Klimakrise und Pandemie.
Oft vermeiden wir Erwachsenen eine tiefere Auseinandersetzung mit den Themen Schmerz und Leid. Wir tun uns schwer mit Gefühlen – mit den eigenen und mit den Gefühlen der Kinder. Schmerz wird lieber vermieden, indem man Kinder schnell mal ablenkt, sich irgendwie „drüberschwindelt“.
Wenn wir uns die großen Krisen vergegenwärtigen, lässt sich kaum hoffen, dass „alles wieder gut wird“. Ist es nicht besser, wenn wir ehrlich bleiben? Und können wir trotzdem Trost spenden? (1)
Das hängt vermutlich davon ab, wo wir selbst Trost finden. Was gibt uns Halt und Orientierung, wenn das große Ganze aus den Fugen gerät? Pflegen wir selbst Zugänge zu der Erfahrung, verbunden und geborgen zu sein? Halten wir Verbindung zu einer Tiefe, der die Wellen des Lebens nichts anhaben können?
Ich erinnere mich an die Großmutter, die im Haus meiner Schwiegermutter, die sie pflegte, viele Stunden hinter dem Küchentisch auf ihrem Platz in der Eckbank saß. Sie hatte ihr Augenlicht fast eingebüßt und besann sich auf den Beitrag, den sie noch leisten konnte: Sie betete still den Rosenkranz.
Auch wenn wir zu dieser Frömmigkeit und Gebetsform heute keinen Zugang haben, so ist es ein wunderbares Beispiel, was Spiritualität leisten kann: eine mit dem großen Ganzen des Lebens verbundene Seele, die ihr betendes Herz in der Mitte des Hauses schlagen lässt.
Beharrlich und bescheiden, unspektakulär, aber präsent, sich nicht fragen, ob das jemand komisch findet, sondern wissend, dass es mein Zugang ist und mein Geschenk an meine Lieben, an die Welt, an der ich noch teilhabe.
Leben stößt an Grenzen und geht darüber hinaus
Die Ohnmacht und Krisenhaftigkeit lässt uns kaum eine Verschnaufpause: Nach der Pandemie nun der Krieg, die Energie- und Wirtschaftskrise und die immer lauter werdenden Zeichen des dramatischen Klimawandels. Natürlich können wir auch jetzt das Leidvolle des Lebens weiter ausblenden, aber es lohnt sich, uns einzulassen auf dieses große Lernfeld – für uns selbst und unsere Kinder: Leben stößt an Grenzen.
Leben ist ständige Veränderung. Leben ist Freude und Leid, hell und dunkel. Leben bleibt unverfügbar, ein Geheimnis, das uns auch manchmal zu schaffen macht. Leben stößt an Grenzen. Und geht darüber hinaus.
Bin ich bereit, das Leben anzunehmen, wie es ist, hell und dunkel? Bin ich bereit, neben Widerstand und Kampf auch die Kunst der Hingabe zu lernen? Menschen haben in Religion und spirituellen Traditionen immer Verbindung und Anhaltspunkte für ein Leben gesucht, das jenseits ihrer jeweiligen Lebensumstände Zuflucht und Halt gewährt.
Wir haben das Leben nicht in der Hand, unter Kontrolle, auch wenn wir vieles tun können, damit as Leben gelingt und Freude bereitet. Es ist eine Tatsache, dass früher oder später Unheil und Leid durch unser Fenster schauen oder mit voller Wucht in das Leben hereinbrechen.
Oberflächliche Formen von Spiritualität blenden manchmal die Zerbrechlichkeit des Lebens aus und können sogar zum Bumerang werden. Lernen wir, über das Denken (ob positiv oder nicht) hinauszugehen, über Verstehen, Wissen und Worte?
Können wir das Machbare hinter uns lassen, um uns am Ende „in ein Geheimnis zu entlassen“ (2) – uns zugestehen, dass das Leben hell und dunkel ist und wir keinen letzten Zugriff haben. Können wir trotzdem damit rechnen, dass selbst „wenn alles fällt … jemand dieses Fallen ganz sanft in seinen Händen hält“ (Rilke)?
Die Erfahrung, in Verbindung zu sein
Wir hätten gerne, dass schnell wieder alles gut wird. Schon im Alltag wollen wir kleinste Störungen sofort beseitigen, um schnell wieder unsere Arbeitslisten abzuarbeiten. Konflikte wollen wir rasch lösen, damit die Kinder wieder unbeschwert spielen und wir wieder unserer Arbeit nachgehen können.
Doch die großen „Störungen“ und Konflikte wie Krieg und Klima-Krise lassen sich nicht mal eben weg-machen. Wird alles wieder gut? Nein, in der Ukraine jedenfalls nicht; und was das Klima angeht, erst recht nicht. Es wird noch schlimmer werden, prophezeihen fast alle Experten.
Zugleich gilt: In uns ist eine gute Kraft. Unsere Aufgabe ist es, diese Kraft in uns wachzuhalten und immer wieder Zugang dazu zu finden, zum Beispiel durch erbauliche Literatur, die Beschäftigung mit Biografien wie der von Viktor Frankl oder Dr. Edith Eva Eger, die unvorstellbares Leid erfahren haben, aber nicht daran zerbrochen sind. Im Gegenteil: Sie haben das, was sie in ihrer Seele „unverletzt hinübergerettet“ (3) haben, für andere zur Therapie, zur Heilung zur Verfügung gestellt.
Für uns und unsere Kinder gibt es Bilderbücher, die unser bedrohtes Leben einfangen, und gleichzeitig Trost geben. In seinem Buch „Der Junge, der Maulwurf, der Fuchs und das Pferd“ zeichnet Charlie Mackesy wunderbare Bilder. Mit wenigen Worten bringt er beide Aspekte des Lebens zum Ausdruck, hell und dunkel. Bei aller Bedrohung, Zerbrechlichkeit und Angst schimmert hinter allem Geborgenheit und echter Trost.
„Wenn die dunklen Wolken kommen, geh weiter. Wenn euch die großen Dinge zu entgleiten scheinen, konzentriert euch auf das, was ihr liebt und was vor eurer Nase ist“, sagte das Pferd.
Wir wissen nicht, was morgen ist […]. Wir müssen nur wissen, dass wir einander lieben.“
Entscheidend sind in schweren Zeiten die Erfahrungen, geliebt zu werden und in Verbindung zu sein. Was wir selbst erfahren, können wir auch geben. Ob wir dafür Rosenkranz beten, meditieren oder in anderen spirituellen Formen praktizieren, ist zweitrangig. Wichtig ist in Zeiten wie diesen, überhaupt Wege zu finden, wo jenseits aller Worte das Herz schlägt und die Seele unversehrt bleibt. Verbundenheit und Geborgenheit in einer aus den Fugen geratenen Welt.
Gut ist auch, mit unseren Kindern zu überlegen, was wir tun und wie wir helfen können, zum Beispiel in der Flüchtlingshilfe oder im Umweltschutz. Gleichzeitig müssen wir einsehen, dass wir mit unserem Tun an Grenzen stoßen. Können wir dem Leben sein Geheimnis lassen? Und können wir uns selbst „ent-lassen in dieses Geheimnis“?
Quellen:
(1) Steve Heitzer beschreibt in seinem Buch „Kinder sind nichts für Feiglinge. Ein Übungsweg der Achtsamkeit“ (Arbor-Verlag 2016) neun Übungen, wie man Achtsamkeit nicht nur auf dem Meditationskissen praktizieren kann, sondern hellwach mitten im Alltag mit Kindern. Eine dieser Übungen heißt “leiden”. S.101-114.
(2) Fulbert Steffensky, Schwarzbrot-Spiritualität, Stuttgart, Radius-Verlag 2006, S.37.
(3) Etty Hillesum: Das denkende Herz der Baracke. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943. Freiburg, Herder-Verlag 2022, S. 198.
Steve Heitzer arbeitet seit zwanzig Jahren mit Eltern und Kindern. 2016 erschien sein Buch „Kinder sind nichts für Feiglinge. Ein Übungsweg der Achtsamkeit.“ im Arbor-Verlag. Sein nächstes Buch ist gerade in Vorbereitung.
Lesen Sie auch seinen Beitrag “Zu viel Sorge schwächt die Kinder”.