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Lasst uns die Menschen willkommen heißen!

Darrin Henry/ Shutterstock
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Standpunkt: Meine Vision einer offenen Gesellschaft

Frei darüber zu entscheiden, wo man wohnt, sollte ein Menschenrecht sein, sagt Michael Feike, 34. Lesen Sie über seine Vision einer Gesellschaft, in der verschiedene Kulturen und Religionen ihren Platz haben.
Krankenversicherung, Mutterschafturlaub, Eltern- und Erziehungsgeld, Grundsicherung, Wohngeld, Presse- und Versammlungsfreiheit, Wahlrecht, bezahlter Urlaub, Rente und 40-Stundenwoche. Diese Aufzählung von Privilegien ließe sich fortsetzen. Derart privilegiert sind alle, die einen deutschen Pass besitzen, alle Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Durchaus attraktiv diese Deutsche Staatsbürgerschaft!
Deutsche Staatsbürger können sich durch Europa bewegen, als gäbe es keine Grenzen, und sie erhalten problemlos Visa für jedes beliebige Land der Welt. Ich bin einer dieser Privilegierten. Die oben genannten Rechte sind Geburtsrechte für mich. Ich musste nicht dafür kämpfen, sondern sie wurden mir per deutschem Pass in die Wiege gelegt.
Dennoch, die Identifikation mit meiner Staatsbürgerschaft hält sich in Grenzen. Ich fühle mich zuerst einmal als Mensch und Erdenbewohner. Ich würde mir wünschen, selbst darüber entscheiden zu dürfen, welchen Teil dieser Erde ich bewohne, ob den sonnigen Süden oder den wohlhabenden Norden, die Tropen, den Orient… Und ich würde mir wünschen, dass alle Erdenbewohner selbst entscheiden dürften, wo sie leben wollen und dass dieses Entscheidungsrecht nicht durch ihre originäre Staatszugehörigkeit beschnitten wird. Dies sollte zu unseren primären Menschenrechten gehören, dass jeder Mensch selbst bestimmen darf, welchen Flecken dieser Erde er bewohnen mag.

Die Geburtsstunde einer pluralistischen Gesellschaft?

Ich denke, die meisten Menschen würden mehr oder weniger da bleiben, wo sie geboren wurden, in ihrer Heimat, ihrer vertrauten Umgebung. Abgesehen von ein paar Abenteurern würden wahrscheinlich nicht viele die Komfortzone des Vertrauten verlassen, ohne von katastrophalen Lebensumständen dazu getrieben zu werden. Kaum einer würde wohl freiwillig, ohne den Druck desaströser Bedingungen Land und Familie verlassen, um sich in einem völlig fremden Klima-, Kultur- und Sprachraum niederzulassen.
Die Unterscheidung zwischen politischen Flüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen scheint mir danebengegriffen. Ob ein Mensch vor Krieg und Verfolgung flieht oder vor Hunger, Armut und Perspektivlosigkeit – in beiden Fällen treibt ihn die Not in die Fremde. Und ich kenne den ein oder anderen Deutschen, der auswanderte, bloß weil ihm das heimische Klima nicht gefiel. Jeder sollte das Recht haben, in das Land seiner Wahl einzuwandern, unabhängig von politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten.
Gerade wir Deutschen haben die moralische Pflicht, allen, die von Krieg, Gewalt, Vertreibung, Hunger und Armut bedroht sind, Asyl zu gewähren. Und noch etwas: Unser Wohlstand beruht zu einem großen Teil auf der rücksichtslosen wirtschaftlichen Ausbeutung eben jener Länder, deren Bürger sich heute gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen. Der Hunger nach Rohstoffen, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen, die Waffendeals erschweren den Menschen das Leben dort.
Deutsche Technologie und westliche Medien schüren die Sehnsucht nach einem anderen Leben. Mobilfunk, Internet, Fernsehen und Reklame wecken Begehrlichkeiten. Dort wird ein Standard vorgeführt, der für die meisten Menschen nie erreichbar ist, es sei denn vielleicht, sie verlassen ihre Heimat und machen sich auf den Weg in den „goldenen Westen“.
Über die Pflicht, anderen Menschen zu helfen hinaus braucht Deutschland Zuwanderung. Für eine Gesellschaft, die immer älter wird, ist sie schlicht überlebensnotwendig.
Sehen wir von Sachzwängen ab, zeichnet sich jetzt ein völlig neues kulturelles Geschehen ab. Wir können Geburtshelfer einer neuen, bunten, wirklich pluralistischen Gesellschaft sein. Ich spreche sicher für viele Menschen meines Alters, wenn ich mir mehr Nachsicht, Geduld und Großherzigkeit in der Integrationsdebatte wünsche, mehr Mut zur Farbe.
Deutsche Aussiedler waren oft Integrationsverweigerer, sei es an der Wolga, in Südafrika oder Südamerika. Deutsches Brauchtum, deutsche Sprache und Identität wurden dort über Jahrzehnte konserviert, und das Interesse an den heimischen Kulturen war gering. Auch heute noch gibt es Deutsche, die Jahrzehnte lang in fernen Ländern leben und kein Interesse an den Kulturen haben. Ich habe reiche, deutsche Pärchen auf Teneriffa getroffen, die seit Jahren dort leben und fast kein spanisch sprechen.
Lasst uns Menschen aus aller Welt in unserem Land willkommen heißen! Mitsamt ihren Sprachen, Religionen und kulturellen Eigenheiten. Ich freue mich darüber, dass unsere deutschen Städte langsam bunter werden. Ich freue mich über Moscheen, Pagoden und Tempel, in denen friedliebende Menschen gemeinsam beten und kontemplieren, über Kulinarisches aus aller Welt, exotische Klänge und Gerüche. Und ich habe Vertrauen in die Kraft, Integrität, Friedfertigkeit und Dialogfähigkeit dieser neugeborenen multikulturellen Gesellschaft. Ich wünsche mir, dass meine Kinder in einer solchen offenen Gesellschaft aufwachsen dürfen.
Michael Feike
Michael Feike, 32, lebt mit seinen beiden Kindern zwischen Ammersee und Lech. Er arbeitet als Lyriker, Bauer, Gärtner, Altenpfleger, Kabelträger, Töpfer, Veranstalter und freier Autor. Info: www.openmind-dharma.net
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