Interview mit Jon Kabat-Zinn
Achtsamkeit ist in der Politik angekommen. Im 2. Teil des Interviews mit Ethik heute spricht Jon Kabat-Zinn, Pionier der Achtsamkeitsbewegung, über Initiativen von Politikern wie „A Mindful Nation“ in Großbritannien. Sein Anliegen ist es, politisch Verantwortlichen Achtsamkeit zu vermitteln.
Das Interview führte Michaela Doepke, Redakteurin bei Ethik heute. Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Marx.
Frage: Jon, was sind Ihre Visionen und Wünsche für die Zukunft der Achtsamkeit in unserer Gesellschaft?
Kabat-Zinn: Nun, wissen Sie, heutzutage geschehen interessante Dinge auf unserem Planeten, und ich bin zuversichtlich, dass diese Entwicklungen eine Zukunft haben. Ein Beispiel: Ein Mitglied des amerikanischen Kongresses, der Demokrat Tim Ryan aus Ohio, praktiziert schon lange Achtsamkeit. Er hat 2012 ein Buch geschrieben, A Mindful Nation (Eine achtsame Nation), für das er alle Forschungsstätten, Kliniken, Unternehmen usw., an denen wir Achtsamkeit unterrichten, besucht hat. Ein Buch mit dem Titel A Mindful Nation über die Vereinigten Staaten von Amerika! Das hat es noch nie gegeben!
Auch dass Wissenschaft und Buddhismus zusammen treffen, ist neu. Oder die Tatsache, dass Ihr Netzwerk Ethik heute Verbindungen zum Dalai Lama hat. Die Tatsache, dass der Dalai Lama die Wissenschaft schätzt und schon seit Jahrzehnten den Dialog mit westlichen Neurowissenschaftlern, Physikern und anderen Forschern, Geistlichen und Praktizierenden vorantreibt. So etwas gab es in der Geschichte der Wissenschaft vorher nicht. Es ist unglaublich schön und bietet eine Fülle von Potenzialen und Möglichkeiten.
Sind sie auch an den Mind And Life-Dialogen beteiligt, ein Institut, das interkulturelle Dialoge organisiert, u.a. mit dem Dalai Lama?
Kabat-Zinn: Ja, ich habe über 15 Jahre lang an den Mind and Life-Dialogen teilgenommen. Bei der dritten Konferenz 1990 habe ich dem Dalai Lama MBSR (Mindfulness Based Stress-Reduction) vorgestellt. Da gab es das Konzept erst elf Jahre. Mittlerweile sind es 38 Jahre.
MBSR wird sogar in der Wirtschaft angewandt, in der Verhaltensökonomie. An der London School of Economics gibt es einen Professor namens Lord Richard Layard, Mitglied des britischen Oberhauses. Er hat großes Interesse daran, neue Methoden zu entwickeln, um die Gesellschaft gesünder zu machen, ganz unabhängig vom Bruttosozialprodukt (BSP).
In der Vergangenheit hieß es immer, dass man am BSP den Gesundheitszustand einer Gesellschaft ablesen könne. Tatsächlich sagt das überhaupt nichts über die Menschen aus, ihre Einstellungen, ihr Verhältnis zur Arbeit usw. Layard entwickelt also neue Kriterien für die Verhaltensökonomie und möchte damit sein Land verändern. Und, wie Ihnen vielleicht bekannt ist, gibt es im Vereinigten Königreich eine Achtsamkeits-Initiative im Parlament: Etwa 200 Mitglieder des Unter- und Oberhauses haben ein achtwöchiges Achtsamkeitsprogramm absolviert.
Mindful Nation UK.
Kabat-Zinn: Genau. Und sie haben gemeinsam ein Dokument erarbeitet Mindful Nation. All Party Parliamentary Report (Achtsame Nation. Ein Bericht von allen Parteien des Parlaments). Sie haben den Titel von Tim Ryans Buch übernommen. Darin empfehlen sie der Regierung, das Potenzial der Achtsamkeit zu untersuchen, und zwar auf einem viel höheren Niveau und mit viel mehr finanziellen Mitteln als bisher.
Hier werden vier Bereiche aufgezählt: Gesundheit, Bildung, Innovation/Technologien/Wirtschaft und Strafvollzug. Das ist bemerkenswert. In den USA wäre es undenkbar, dass zwei Parteien, die Demokraten und die Republikaner, sich zusammentun, um einen Bericht über die Förderung der Gesundheit der Gesellschaft zu verfassen.
Ich reise regelmäßig nach Großbritannien und treffe die Abgeordneten. Sie sind ernsthaft Praktizierende! Und das nicht nur auf einer oberflächlichen Ebene. Sie sind wirklich berührt und sprechen sogar oft über ihre eigenen psychischen Probleme, ihren Stress.
Daher können sie sich auch in das Leiden anderer Menschen einfühlen, die nicht in solch privilegierten Positionen sind wie sie, die nicht die Therapie bekommen, die sie eigentlich bräuchten. Nun hat das staatliche Gesundheitssystem des Vereinigten Königreichs Achtsamkeit als Behandlung für Menschen angeordnet, die unter starken Depressionen leiden und bereits drei oder vier Rückfälle hatten. Das ist phänomenal!
Der Gesellschaft dienen
Würden Sie diese Entwicklung „achtsame Revolution“ nennen?
Kabat-Zinn: Manche Leute sagen „Revolution“. Ich nenne es lieber „beschleunigte Evolution“. Aus der Bewegung ist eine länderübergreifende Initiative entstanden mit Verbindungen zu Parlamentariern in Schweden, Holland, den Vereinigten Arabischen Emiraten und anderen Ländern, die dort Achtsamkeit praktizieren. Und all diese Leute treffen sich auch, um über das zu reden, was wir hier besprechen: Wie man Regierungen so verändern kann, dass die Verantwortlichen für die Menschen wirklich da sein können.
Und Ihr Wunsch?
Kabat-Zinn: Vor ein paar Jahren schrieb ich ein Buch mit dem Titel Zur Besinnung kommen. Für mich spielte der Bezug zur Welt immer eine große Rolle. Meine Absicht war nie, eine Therapie oder Diagnose nur für einzelne Menschen anzubieten, sondern ich wollte etwas schaffen, das allen Bereichen der Gesellschaft dienlich sein kann.
Ich sehe die Achtsamkeit gewissermaßen als Heilmittel für die Krankheiten der Welt, den Stress des Planeten und als einen Weg, die Schönheit und das Potenzial des menschlichen Geistes zu erkennen. Es ist direkt hier, auch wenn wir älter werden. Aber das Potenzial, das in uns steckt, unsere eigene wahre Natur oder Schönheit oder Ganzheit, oder welches Wort man auch immer verwenden möchte, – das zu erkennen, war für uns nie einfacher als genau jetzt! Egal wie alt, krank oder verblendet man ist: Dies ist der Moment!
Wir können Achtsamkeit kultivieren, sowohl formal als auch im Alltag. Denn die echte Meditationspraxis ist das tägliche Leben. Meditation ist nicht das Sitzen auf dem Kissen wie eine Statue im British Museum oder in irgendeinem Tempel in China. Es geht darum, wie wir uns in jedem Moment verhalten. Ethische Entscheidungen treffen wir in jedem Augenblick neu.
Wer immer nur um sich selbst kreist, betrügt sich. Denn das Ich ist so viel mehr als das, wofür wir es halten. Genau diese Selbsttäuschung ist das ethische Dilemma, in dem wir stecken: uns für etwas anderes zu halten, als wir tatsächlich sind.
Wenn man die grundlegende leere, klare Natur des Prozesses der Ich-Entstehung erkennt, dann nimmt man Dinge nicht mehr so persönlich. In einem solchen Geisteszustand hat man Zugriff auf alle Werkzeuge, alle inneren Ressourcen. Und dann geht es nicht mehr nur um das ICH, dieses „Wie toll bin ICH!“ oder „Das sind MEINE Ressourcen!“ oder „ICH werde die Welt retten“ oder Ähnliches.
Das Ganze entzerrt sich, wenn man erkennt, dass wir alle eins sind, miteinander verbunden, dass wir Zellen eines großen Organismus sind. Und wenn wir uns gegenseitig bekämpfen, erzeugen wir Krebs. Für den ganzen Planeten.
Und Achtsamkeit gibt den Impuls…
Kabat-Zinn: Wenn man Achtsamkeit kultiviert und übt, dann passiert das, was die Tibeter „das Selbst befreien“ nennen. Achtsamkeit ist wie das Berühren einer Seifenblase. Es macht „puff“ und das vermeintliche Selbst löst sich auf. Man berührt zum Beispiel den eigenen Impuls für Gier. Wir sind alle nur Menschen, wir haben eigene Interessen, aber sobald man das begreift – und der Blick, der sieht, ist reines Gewahrsein, es gibt eigentlich gar keinen Blick – macht es „puff!“. Und der Impuls geht vorüber.
Genau das ist das ethische Fundament: Man betrügt sich nicht mehr. Es gibt kein Selbst mehr, das man belügen könnte. Gier, Hass und Täuschung können einen nicht mehr antreiben. Sie sind vielleicht da, aber in dem Moment, in dem sie auftauchen, sieht man das und erkennt:
Wie viel Leid werde ich erzeugen, wenn ich mich von diesen Emotionen lenken lasse! Man berührt die Seifenblase und sie macht „puff“. Und zwei Sekunden später kommt vielleicht ein neuer Impuls. Und es macht „puff, puff, puff, puff, puff…..“. So funktioniert die Praxis. Es ist Wissen. Es ist wirklich sein. Moment für Moment für Moment… So gut wir können.
Lesen Sie auch den 1. Teil des Interviews, das Jon Kabat-Zinn Ethik heute im November 2016 gab.
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Jon Kabat-Zinn, PhD, Begründer des Achtsamkeitsprogramms MBSR (Mindfulness Based Stress-Reduction), ist Professor Emeritus für Medizin an der University of Massachusetts Medical School und Begründer des Center for Mindfulness in Medicine, Health Care, and Society. Jon Kabat-Zinn ist Autor zahlreicher Bestseller, die in mehr als dreißig Sprachen übersetzt wurden. Mehr unter: www.arbor-seminare.de
Michaela Doepke engagiert sich als Journalistin und Redakteurin für das Netzwerk Ethik heute. Sie ist zudem MBSR- und Meditationslehrerin und hält Seminare als Achtsamkeitstrainerin in Unternehmen, Naturhotels und Meditationszentren. www.michaela-doepke.de