Interview mit Luise Reddemann
Luise Reddemann gilt als Koryphäe für Psychotherapie und Traumatherapie. Sie kritisiert die Wissenschaftsgläubigkeit ebenso wie den industrialisierten Medizinbetrieb. Sie setzt sich für mehr Mitgefühl in Therapie und Gesellschaft ein und möchte auch Flüchtlingen helfen.
Das Interview führte Michaela Doepke
Frage: Frau Reddemann, Sie sagen, dass im therapeutischen Umfeld lieblos mit Patienten und Patientinnen umgegangen werde? Können Sie das näher erläutern?
Reddemann: Das hat aus meiner Sicht damit zu tun, dass das wissenschaftliche Denken derartig um sich gegriffen hat und als Lösung für alles herhalten muss. Wissenschaftliches Denken ist ja sozusagen neutral und hält sich, wenn möglich, den Forschungsgegenstand vom Leib. Das können wir aber in der Medizin nicht gebrauchen.
Wir brauchen beides. Wir brauchen die Bereitschaft, uns als Mitmensch auf den anderen Menschen einzulassen und auch die Wissenschaft. Das Mitmenschliche wird von der Forschung mehr oder weniger ignoriert. Und das ist ein Problem, ebenso wie das neoliberale Denken und das Profitstreben. Ich halte es für hochproblematisch, dass z.B. private Krankenhausträger mit Krankheit Gewinne erzielen wollen und das politisch gefördert wird.
Wir müssen uns empören!
Sie behaupten, dass durch den Druck der Kassen eine Art Drehtürpsychotherapie entstünde.
Reddemann: Ich meine den Druck der Krankenkassen, dass die Therapien möglichst kurz sind, unterstützt durch gewisse Forschungen, die gezeigt hätten, dass Kurztherapien immer so hilfreich sind wie Langzeittherapien. Dieser Druck lastet unglaublich auf den Kollegen, die natürlich versuchen, diese Arbeit gut zu machen. Aber sie stoßen an ihre Grenzen, weil sie nicht innerhalb kürzester Zeit sehr belasteten Menschen ausreichend helfen können.
Meiner Ansicht nach müsste es viel mehr Solidarisierung innerhalb der betroffenen Berufsgruppen geben, –gewerkschaftlich oder wie auch immer – und eben eine Auflehnung gegen diesen Druck der Kassen. Wir müssen uns empören und sagen, wir können so nicht arbeiten.
Streiken ist natürlich auch ein Problem. Wie soll ein Arzt streiken? Aber es müsste sich etwas tun, dass die Menschen sich mehr wehren. Ich engagiere mich dafür im Rahmen meiner Möglichkeiten.
Sie betonen die Wichtigkeit von mitfühlendem Handeln. Warum engagieren Sie sich als Therapeutin so sehr für Achtsamkeit, Ethik und Mitgefühl?
Reddemann: Ich engagiere mich als alte, erfahrene Therapeutin dafür, weil ich es für wichtig halte, dass die jüngeren Kolleginnen und Kollegen diese Werte von Anfang an lernen und in ihre Arbeit einfließen lassen. Ich habe es in meiner Ausbildung nicht gelernt. Aber ich hatte Vorbilder in meinen Chefs, die zwar nie von Mitgefühl geredet haben, aber bei denen ich erleben konnte, dass sie mitfühlend mit den Patienten waren.
Das ist überhaupt so ein Thema, über das man nachdenken sollte. Handeln ist das eine, und Begriffe sind etwas anderes. Man kann über Begriffe reden und nicht handeln, oder man kann handeln und der Begriff ist verinnerlicht und wird gelebt. Ich selbst habe als junge Ärztin gelebtes Mitgefühl erfahren und in der sogenannten 68-er Generation auch eine viel größere Bereitschaft aufzubegehren.
Achtsamkeit und Mitgefühl sind Grundprinzipien für mich im Umgang mit leidenden Menschen. Mitgefühl bedeutet, dass ich ganz genau versuche mitzubekommen, was mit diesem Menschen ist. Dafür brauche ich Achtsamkeit und muss mitbekommen, was mit mir ist.
Ich komme aus einer Tradition, wo man auch aus den eigenen Reaktionen Rückschlüsse zieht, was mit dem anderen Menschen los ist. Natürlich muss man das überprüfen. Wir Therapeuten nennen das Gegenübertragung. Und diese Arbeit mit Übertragung und Gegenübertragung habe ich verinnerlicht. Das finde ich enorm wichtig. In dieser therapeutischen Arbeit ist viel Achtsamkeit enthalten.
Frage: Und was hat das mit Ethik zu tun?
Reddemann: Das Ethische lernt man in der Psychotherapie bisher wenig. Natürlich gibt es grobe Regeln, dass man Patienten nicht missbrauchen darf usw. Das schon. Aber im psychotherapeutischen Handeln im engeren Sinn spielt es kaum eine Rolle. Ich meine damit, dass jede Intervention daraufhin abgeklopft wird, ob sie mitfühlend und achtsam ist, das ist eigentlich noch nicht sehr verbreitet. Und genau darum geht es mir: um ein ethische Handeln, das Achtsamkeit und Mitgefühl impliziert.
„Ohne sicheren Aufenthaltsstatus ist keine Therapie für Flüchtlinge möglich“
Eine Frage an Sie als Traumaexpertin: Im Moment kommen viele Flüchtlinge zu uns, die an Traumata leiden. Wie können wir diesen helfen?
Reddemann: Die Ärzteschaft und auch die psychologischen Psychotherapeuten müssten über ihre Kammern deutlich machen: Ohne sicheren Aufenthaltsstatus ist eine Traumatherapie, die möglicherweise notwendig ist, kaum durchführbar. Mein Eindruck ist, da werden wieder wichtige Dinge verschoben von einer Ebene auf eine nächste. Das funktioniert aber nicht.
Jede Person, die traumatherapeutische Kenntnisse hat, weiß, dass die äußere Sicherheit die Bedingung für innere Arbeit ist. Und dann: Erstens ist Therapie sicher nicht für alle Flüchtlinge erforderlich. Denn möglicherweise stabilisieren sie sich vielleicht von selbst, wenn sie ihren sicheren Aufenthaltsstatus haben, oder in ihrer Gemeinschaft leben, wenn es die gibt.
Wir sollen also nicht glauben, dass jeder Flüchtling Traumatherapie braucht. Aber es sind sicher viele, die hier Unterstützung bräuchten. Und dafür sind klare Voraussetzungen nötig. Und so lange sie den sicheren Aufenthaltsstatus nicht haben, ist Therapie kaum möglich. In dieser Zeit kann man sie mitmenschlich begleiten, das ist immer gut. Aber mitmenschliches Verständnis, Mitgefühl und Begleitung sind noch keine Therapie!
Unverarbeitete Traumata der Deutschen
Glauben Sie, dass durch die Bedrohung, die manche deutsche Bürger im Moment durch die Flüchtlinge erleben, auch alte Traumata ausgelöst werden, die aus verdrängten Kriegs- und Vertreibungserfahrungen resultieren?
Reddemann: Durch die Flüchtlinge kommt ganz viel Unverarbeitetes hoch, was auf sie übertragen wird. Ich finde auch nicht, dass die Flüchtlinge eine Bedrohung sind, sondern die Einwanderung wird zu einer Bedrohung gemacht. Ich habe die Bundeskanzlerin Frau Merkel dafür bewundert, dass sie gesagt hat „Wir schaffen das“.
Aber meiner Ansicht nach müsste es ein Konzept geben, wie wir das schaffen können, wie die Handlungen aussehen sollen. Und das scheint mir viel zu wenig durchdacht und geplant. Die Menschen bräuchten eine Anleitung und klare Vorgaben, was sie zu tun und was sie zu lassen haben. Das vermisse ich. Ich glaube, das könnte auch ein Missverständnis von Demokratie sein, wenn man alles laufen lässt. Und so kommt mir das vor. Die Dinge regeln sich eben nicht alle von selbst.
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Amerikaner, bzw. die Alliierten, die uns ja die Demokratie bringen wollten, ganz klar geregelt, was mit den Vertriebenen hier zu geschehen hat, und was nicht sein darf. So eine Richtlinie brauchen wir meines Erachtens.
Und das weiß ich auch aus der Psychotherapie. Wenn Leute sehr belastet sind, dann sind klare Absprachen notwendig, wie der Alltag aussehen sollte. Denn man kann sich im Alltag ständig neu belasten und sogar retraumatisieren. Also ohne eine gewisse Struktur geht das nicht. Und daran wird zu wenig gedacht.
Noch zu den Übertragungen alter Erfahrungen: Die Geschichten, die mit der NS-Zeit und K
rieg und Vertreibung zu tun haben, kommen hoch bei den Enkeln und sogar Urenkeln der Kriegsgeneration. Was diese unbewusst an Problemen mitbekommen haben oder was durch Erzählungen an sie weiter gegeben wurde, das kann jetzt wieder aktiviert werden. Da bin ich mir ziemlich sicher. Ich empfehle, dass man Forschung macht über die Menschen, die jetzt so gegen die Flüchtlinge hetzen, was sie für einen Hintergrund haben, wo sie herkommen, was deren Eltern im letzten Krieg und während der NS-Zeit erlebt und gemacht haben, ob sie Vertriebene sind und so weiter. …
Ein ausführliches Audio-Interview mit Reddemann gibt es in der Audiothek. Diese gehört zum Premium-Bereich dieser Website. Wenn Sie Mitglied im Freundeskreis Ethik heute werden (für 60 Euro im Jahr) erhalten Sie Zugang. Sie unterstützen damit auch diese Website, die jede Woche neu, kostenlos, ohne Werbung Beiträge zum Inspirieren und Nachdenken liefert.
Im Interview spricht Reddemann auch über den Achtsamkeitshype und den Trend zu einfachen Lösungen. Sie setzt sich für eine Medizin ein, in der die Zuwendung eine größere Rolle spielt.
Luise Reddemann ist Fachärztin für Nervenheilkunde und Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytikerin. Sie ist Honorarprofessorin für Psychotraumatologie und Medizinische Psychologie an der Universität Klagenfurt. Mehr: www.luise-reddemann.de
Buchtipp: Mitgefühl, Trauma und Achtsamkeit in psychodynamischen Therapien, Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2016.