Moralische Vorfahrt für Autofahrer?

Sorin Gheorghita/ Unsplash
Sorin Gheorghita/ Unsplash

Ein Standpunkt von Ines Eckermann

Die Aggressivität im Straßenverkehr steigt – und das nicht erst seit den Protesten der „Letzten Generation“. Die Autorin Ines Eckermann fragt: Blockieren die Autos, die die Städte zuparken, nicht ebenso Menschen und nehmen kostbaren Raum in Anspruch?

Eine Protestaktion bringt den Verkehr zum Erliegen. Hupende Menschen mit wild pochenden Adern an den Schläfen brüllen aus ihren Autofenstern. Manche recken eine Faust in den Himmel, als riefen sie in ihrer Verzweiflung den Donnergott um Hilfe. Andere steigen aus, schlagen Protestierenden das Smartphone aus der Hand, drohen Jugendliche anzufahren oder zerren junge Frauen an den Haaren von der Fahrbahn. In Großbritannien rastet ein Mann völlig aus, das Video der Organisation “Just Stop oil” kursierte in sozialen Medien:

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Den Bildern und Videos in den Medien nach scheint auf manchen unserer Straßen Unfrieden zu herrschen. Seit 2022 blockieren die Aktivisten der „Letzen Generation“ bewusst Straßen in ganz Deutschland, um effektive Maßnahmen für den Klimaschutz zu fordern. Presseberichte betiteln sie manchmal auch als „Klimakleber“, weil sie meist eine Handfläche mit Sekundenkleber auf die Fahrbahn kleben.

Stau ist nicht gleich Stau

Kritiker argumentieren gelegentlich, dass die wütenden Menschen vermutlich auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch seien. Falls der Mann in dem Video tatsächlich auf dem Weg zu einem Bewerbungsgespräch war, kann man die Firma nur beglückwünschen: Wer würde mit jemandem zusammenarbeiten wollen, der gewalttätig wird, wenn ihm etwas im wahrsten Sinne des Wortes in die Quere kommt?

Auch wenn der Ärger über die unerwartete Verspätung nachvollziehbar sein mag: Wieso dürfen wir von erwachsenen Menschen nicht etwas mehr Besonnenheit erwarten? Käme der Stau dadurch zustande, dass ein Raser von der Fahrbahn abkam, würden sich Autofahrer vermutlich etwas mehr im Zaum halten können. Ist der Unterschied also, dass es sich beim Stau um eine gesichtslose Masse aus Blech handelt und die meisten Staus durch Unachtsamkeit entstehen statt durch Absicht?

Aggressivität im Straßenverkehr steigt

Doch nicht nur gegen Aktivisten scheint sich der Unmut auf deutschen Straßen zu regen. 67 Prozent der Befragten der Mobility Studie 2020 des TÜV-Verbands gaben an, dass es im Straßenverkehr immer aggressiver zu gehe. Nur drei Prozent der Befragten glaubten, dass das Aggressionslevel sinkt. Und diese Zahlen stammen aus der Zeit vor der Gründung der „Letzen Generation“.

Die Aktivisten klebten sich offenbar auf bereits von Aggression getränkten Boden. Eine Frage muss in der gesamten Debatte also erlaubt sein: Gehen die Menschen, die sich ums Klima und damit auch indirekt um die Existenz der Menschheit sorgen, hier zu weit – oder haben sich vielleicht auch die Autofahrenden radikalisiert?

Heute fahren fast doppelt so viele Autos durch Deutschland wie noch vor vierzig Jahren. Bei den meisten Fahrten sitzt jeweils nur eine Person im Auto. Den Rest der Zeit steht das Gefährt in der Gegend herum – und nimmt allen anderen Platz weg. Und selbst ein Auto, das nur in der Garage parkt, frisst den Raum, den man in überlaufenen Städten in Wohnfläche umwandeln könnte.

Forschende zeigen immer wieder auf, dass die Autofahrende Mehrheit deutlich mehr Raum in der Stadt eingeräumt bekommt als Menschen, die einen schmaleren CO2-Fußabdruck haben. Allein der Liefer- und Schwerlastverkehr und der Transport von Menschen mit Behinderungen müsse bleiben – darüber hinaus seien keine Autos in den Innenstädten nötig. Eine Haltung, die vermutlich nicht jeder teilen dürfte.

Städte lassen sich freiwillig zuparken

Obendrein ist es in vielen Städten, etwa in der Ruhr-Stadt Bochum, ohne Konsequenzen möglich, auf dem Radweg zu parken. Offiziell gilt zwar auch dort die Straßenverkehrsordnung. Doch wo die Stadt das widerrechtliche Parken nicht ahndet, da stehen auch weiterhin Autos im Weg rum. Die Parkhäuser sind laut offiziellen Angaben so gut wie nie vollausgelastet.

Und während Radwege weiter ungeahndet zugeparkt werden, überlegt die Stadt, mehr kostenfreien Parkraum zu schaffen. Eine Stadt lässt sich freiwillig radikal zuparken. Das ist nicht nur ein Ärgernis für Radfahrende, die in den Autoverkehr ausscheren müssen. Auch für Menschen mit Seh- oder Gehbehinderungen ist es lästig bis gefährlich, Autos auszuweichen, die auf den Gehweg stehen oder Fußgängerüberwege zuparken.

Blockieren die abgestellten Autos nicht ebenso Menschen? Wieso gelten die Klimaaktivisten, die auf eine weltweite Krise aufmerksam machen wollen, als radikaler als die Menschen, die aus egoistisch motivierter Achtlosigkeit ihr Auto im Weg parken? Es ist nahezu unmöglich eine Ethik heranzuziehen, die den Falschparkenden hier moralisch Vorfahrt gewährend würde.

Auch das Argument, dass die Aktivisten Rettungswagen blockieren, ist nur teilweise haltbar: Wenn ein Krankenwagen nicht durch den Stau kommt, ist der Grund des Staus unerheblich. Denn die fehlende Rettungsgasse zeigt, dass die einzelnen Elemente des Staus offenbar in der Fahrschule nicht so recht aufgepasst haben. Der Fehler liegt hier bei den einzelnen Verkehrsteilnehmenden.

Zudem ist der Fall des Krankenwagens der, während einer Protestaktion am 4. November 2022 der „Letzen Generation“ in Berlin im Stau stand, noch aus einem anderen Grund tragisch: Während dieses Ereignis einige Zeit als Ausdruck der Rücksichtslosigkeit der Aktivisten genutzt wurde, blieb ein anderer Punkt meist unerwähnt: Die verstorbene Radfahrerin wurde von einem anderen Verkehrsteilnehmer erfasst und so getötet. Wie später bekannt und von der FAZ berichtet wurde, kam jede Hilfe zu spät.

Am Straßenrand in beide Richtungen schauen

Wer beim Klima-Aktivismus von „Radikalität“ oder „Extremismus“ spricht, hat offenbar nicht in die andere Richtung geschaut. In den Kommentaren zu Meldungen über verunglückte Radfahrende oder das Aufstellen eines Ghostbikes, das den Todesort eines Radfahrenden markiert, ballt sich Hass gegen Radfahrende, ja sogar die Freude über den Tod von Menschen, die nicht im Auto unterwegs waren.

Wer sich letzten Endes wie radikalisiert hat, ist unerheblich. Denn Radikalität und Gewalt sollten generell weder im Straßenverkehr noch in der Gesellschaft Raum finden.

Städte wie Kopenhagen oder Amsterdam zeigen, dass die Lebensqualität steigt, wenn nicht mehr das Auto den Takt der Stadt vorgibt. Natürlich ist das zunächst unbequem und erfordert, dass sich die meisten Beteiligten umgewöhnen – aber am Ende gewinnen die Gemeinschaft, ihre schwächeren Mitglieder wie Ältere, Kinder und Menschen mit Behinderungen – und die Umwelt.

 

Ines Maria Eckermann machte einen Doktor in Philosophie. Nebenbei heuerte sie als freie Mitarbeiterin bei verschiedenen Medien an und engagiert sich im Umweltschutz.

Lesen Sie einen weiteren Beitrag der Autorin über Fast Fashion: Mode zum Wegwerfen – Wie Shein, H&M und Co.  Mensch und Umwelt schädigen

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