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„Muslime und Juden sollten sich gemeinsam für den Frieden stark machen“

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Interview mit Muhammad Sameer Murtaza

Die Hamas vertritt eine pervertierte Form des Islam, beklagt der Islamwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza. Die Ideologisierung der Religion habe großen Schaden angerichtet. Im Interview ruft er Muslime und Juden in Deutschland dazu auf, in gemeinsamen Treffen die Verständigung zu fördern und das Leiden aller Zivilisten anzuerkennen und zu betrauern.

Frage: Sie treten für eine Verständigung zwischen den Religionen, besonders auch zwischen Judentum und Islam in Deutschland ein. Wie sehen Sie dieses Anliegen nun nach dieser Eskalation?

Murtaza: Jeder militärische Konflikt zwischen dem israelischen Staat und dem Gazastreifen ist für das jüdisch-muslimische Verhältnis global immer eine starke Belastung. Medial und politisch wird dieser Konflikt simplifiziert als ein Konflikt zwischen Juden und Muslimen. Das ist ein typisches Feindbilddenken: Wir und die anderen. So werden global Menschen jüdischen und muslimischen Glaubens zu Stellvertretersoldaten entweder der Hamas, der Palästinenser oder des israelischen Staates.

Wie sehen Sie islamistische Gruppierungen wie die Hamas im Kontext der muslimischen Religion?

Murtaza: Anfang des 20. Jahrhunderts orientierten sich islamische Kreise an westlichen Entwicklungen. Die Muslime erlebten in ihren Ländern einen politischen und ökonomischen Niedergang und sahen zugleich, dass sich in Europa Nationen wie Italien, Spanien, Deutschland im Aufstieg befanden.

Man fragte sich: Was ist deren Geheimnis? Das war das Zeitalter der Ideologien wie Kommunismus, Faschismus, Nationalismus. Muslimische Denker dachten, sie müssten den Islam in eine Ideologie gießen, um auch einen Aufschwung zu erfahren. Doch wenn Sie aus einer Religion eine Ideologie machen, verändern sie die Religion. Die Religionen sind ja gerade durch ihre plurale Interpretierbarkeit nicht greifbar, nicht eindeutig. Wenn sie aber eine Religion in eine Ideologie gießen, dann wird sie eindeutig, starr und totalitär.

Genauso wie die Ideologien des Kommunismus und Nationalsozialismus in Europa junge Menschen entzündet hat, geschah das auch mit dem ideologischen Islam in der muslimischen Welt. Das stieß auf Begeisterung und hatte Folgen. Eine davon war die iranische Revolution 1979.

Heute wachen wir Muslime erschrocken auf und stellen fest, dass diese Ideologisierung des Islam unserer Religion, unseren Glaubensgeschwistern und Mitmenschen sehr geschadet hat. Sie hat nicht die Spiritualität des Islam wiederbelebt. Die Hamas ist ein Überbleibsel dieser Entwicklung und damit eine pervertierte Form des Islam.

Die Emotionalisierung des Konflikts setzt die Vernunft außer Kraft.

Gibt es öffentliche Verurteilungen der Hamas durch muslimische Gelehrte und Geistliche? Müsste es nicht viel mehr davon geben?

Murtaza: Der bekannte Gelehrte Maulana Wahiduddin Khan hat die Hamas aufgrund ihres unethischen Handelns klar als eine Terrororganisation bezeichnet. Ich sehe das auch so. Aber es müssten weitaus mehr Gelehrte ihre Stimmen erheben, was aber nicht geschieht, da die Emotionalisierung dieses Konfliktes das islamische Ethos und die Vernunft außer Kraft setzen. Wer aber für die Hamas demonstriert, verhöhnt die Opfer der Gewalt. Es ist verwerflich, gegen das Existenzrechts Israels auf die Straße zu gehen und dem Antisemitismus anzuhängen.

Wie kann eine Annäherung zwischen Juden und Muslimen beginnen?

Murtaza: Für uns Juden und Muslime wäre es zunächst wichtig zu verstehen, dass wir als Einzelne für diesen Konflikt nicht verantwortlich sind. Und wir tragen auch nicht die Verantwortung, diesen Konflikt zu lösen. Das ist Aufgabe der Palästinensischen Autonomiebehörde und der israelischen Regierung.

Wir Einzelne sollten uns nicht zu Stellvertretersoldaten irgendeiner politischen Seite machen. Unser Anliegen sollte es sein, uns für die Menschen einzusetzen, die unter diesem Krieg leiden.

Auch auf organisatorischer Ebene wäre es Zeit, dass hierzulande die großen Verbände von Juden und Muslimen zusammenkommen, sich gegenseitig ehrlich erklären, was sie eigentlich wollen: Wollen sie Stellvertreter dieses Konfliktes sein oder Deeskalation betreiben?

Die Verbände sollten eine gemeinsame Deeskalationsstrategie entwickeln, die das Ziel hat, das Leid der Menschen zu lindern und von Politikern auf beiden Seiten Lösungen zu fordern. Wir Muslime und Juden sollten uns gemeinsam für den Frieden im Nahen Osten stark machen.

Wir können gemeinsam um die Toten trauern. Wir können die politisch Verantwortlichen zum Frieden ermahnen. Wir können gemeinsam den Terror der Hamas verurteilen und den Missbrauch von Gottes Namen für Gewalt missbilligen. Das hat zumindest eine symbolische Kraft. Das wäre für mich eine entscheidende Veränderung des Status quo.

Die Zeit des ideologischen Islam ist vorbei.

Denken Sie, dass die islamistische Strömung im Islam mit dem Erstarken der Hamas gestärkt wird?

Murtaza: Nein, ich glaube, die Zeit des ideologischen Islam ist vorbei. Die Bewegungen im Iran, die Hamas und die Muslimbrüder sind sozusagen Überreste. Aufgrund der Erfahrungen gerade mit dem IS sehen wir bei den Menschen in der muslimischen Welt eine Tendenz zur Säkularität, sie wenden sich von der Religion ab. In Tunesien, Marokko und Ägypten bekennen sich Menschen zum Atheismus. In den sozialen Medien gibt es atheistische Foren, betrieben von ehemaligen Muslimen, und immer mehr religionskritische Diskussionen.

Was so aussieht wie ein Zulauf für die Hamas, wenn in der gesamten muslimischen Welt Menschen auf die Straße gehen und ihren irrationalen Emotionen freien Lauf lassen, hat eine andere Ursache:

Die gesamte Region kennt seit über 56 Jahren nichts anderes als die Besatzung der Palästinensergebiete durch Israel. Über diese Jahrzehnte haben sich auf beiden Seiten Bilder von Opfern der Gewalt angehäuft. Die sind jetzt im kollektiven Gedächtnis. Und wenn etwas passiert, werden sie abgerufen.

Die entgrenzte Emotionalisierung ist eine Reaktion auf diese Bilder. Es ist nicht automatisch so, dass diese Leute in die Hamas eintreten oder dieses Islamverständnis übernehmen. Trotzdem muss man sagen, dass sich dieser Protest in Gestalt antisemitischer Weltbilder ausdrückt, die dann als Erklärungsmuster herhalten. Wir hätten nicht diese Situation, wenn man schon viel früher ernsthaft versucht hätte, diesen Konflikt zu lösen.

“Die Muslime sind keine homogene Gruppe”.

Seit der Eskalation im Nahen Osten kam es auch in Deutschland vermehrt zu antisemitischen Übergriffen. Was ist nötig, damit hier ein islamisch begründeter Antisemitismus nicht zunimmt?

Murtaza: Die Hamas ist auch nach islamischen Maßstäben eine Terrororganisation, die einen Terrorangriff auf den israelischen Staat verübt hat, indem sie Zivilisten ermordet hat. Und natürlich hat der israelische Staat das Recht, sich militärisch zu verteidigen.

Genauso richtig ist es, dass Menschen global für Frieden und den Schutz der palästinensischen Bevölkerung demonstrieren dürfen. Es ist aber ethisch verwerflich, wenn Menschen für die Hamas demonstrieren. Denn dadurch verhöhnen sie die Opfer.

Es ist verwerflich, wenn Menschen auf die Straße gehen, um gegen die Existenzberechtigung des israelischen Staates zu demonstrieren. Und es ist genauso verwerflich, unsere jüdischen Brüder und Schwestern zu diffamieren, gegen sie zu Hetze zu betreiben, sie anzugreifen, auf ihre Gotteshäuser Anschläge zu verüben.

Frage: Aber wie sieht es mit dem Antisemitismus unter Muslimen aus?

Murtaza: Wenn in Deutschland jetzt Menschen auf die Straße gehen und Sympathie für die Palästinenser zeigen, bezeichnen wir die Demonstranten vereinfachend als Muslime, als wären sie eine homogene Masse.

Obwohl wir in einem säkularen, religionsneutralen Staat leben, nennen wir sie nicht Bürger, obwohl sie es sind, sondern „Muslime“. Wir nennen sie Muslime, damit wir sie als „die anderen“ deklarieren können. Aber diese Demonstrationen sind nicht homogen.

Darunter befinden sich Menschen muslimischen Glaubens, säkulare arabische Nationalisten, Palästinenser, politisch links eingestellte Menschen, die gar keinen arabischen oder muslimischen Bezug haben, und vielleicht auch politisch Rechte, die sich alle von diesem Konflikt angesprochen fühlen. Und dann wird es halt kompliziert, weil es die Wir-Ihr-Einteilung erschwert.

Die Palästinenser, die in Deutschland leben, haben eine eigene Erzählung von der Staatsgründung Israels. Diese war für sie verbunden mit Zwangsvertreibungen, Massakern und Plünderungen. In der westlichen Perspektive wollen wir davon nichts hören.

Mit der Erinnerungskultur an die Shoa haben wir den israelischen Staat so idealisiert, dass wir uns gar nicht vorstellen können, dass auch dieser Staat wie jeder andere Staat Unrecht begehen kann.

Wir sollten gesellschaftlich ehrlich anerkennen, dass uns im Westen die Israelis kulturell näher sind. Wir haben infolgedessen eine Hierarchie geschaffen, wessen Leid für uns mehr bedeutet.

Wir sollten den Konflikt aus mehreren Blickwinkeln betrachten.

Sie meinen also, wir messen mit zweierlei Maß? Gibt es in Ihren Augen keinen muslimischen Antisemitismus?

Murtaza: In diesem Land leben Menschen, die das Gefühl haben, dass ihre Leidensgeschichte kein Gehör findet. Wenn sie Kritik üben, wird diese automatisch in die Ecke Antisemitismus gestellt. Ja, es gibt diesen israelbezogenen Antisemitismus. Aber nicht jede Kritik am Handeln der israelischen Regierung ist Antisemitismus.

Was aber geschieht, wenn ich Menschen keinen Raum gebe, ihr Leid zu artikulieren, wenn ich nicht bereit bin zuzuhören? Das haben wir jetzt auf der Frankfurter Buchmesse gesehen.

Die palästinensische Autorin Adania Shibli hat einen Roman verfasst, in dem es um die Vergewaltigung und Ermordung eines palästinensischen Beduinenmädchens durch israelische Soldaten ein Jahr nach Gründung des Staates Israel geht. Der Roman heißt „Eine Nebensache“, ein treffender Titel, weil für uns das palästinensische Leid eine Nebensache ist. Die Verleihung eines Literaturpreises für die Autorin wurde verschoben. Das hat natürlich Signalwirkung für die palästinensische Seite.

So werden Menschen, obwohl sie gemäßigt sind, in die Arme von Extremisten getrieben mit dem Argument des Antisemitismus. Wir müssten Raum schaffen, damit auch diese Menschen ihre Geschichten erzählen können.

Darauf hat Slavoj Žižek bei seiner Rede versucht hinzuweisen. Wir müssen anfangen, diesen Konflikt aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, damit wir zu einer Lösung finden.

Wie erklären Sie sich die scharfen Reaktionen in Frankurt auf Žižek?

Es scheint, dass die deutsche Politik und Gesellschaft nicht fähig ist, andere Perspektiven einzunehmen. Wir sind nicht bereit, die Herausforderung anzunehmen, dass wir heute in einer Migrationsgesellschaft weiter gefasste Narrative brauchen. Wir erleben einen tiefen Riss in unserer Bevölkerung zwischen Menschen, die nicht bereit sind, ohne Wenn-und-Aber die deutsche Staatsräson mitzutragen, die auf das Existenzrechts Israels pocht und das Leid der Palästinenser in den Hintergrund rückt.

Wir haben hier zwei Seiten in unserer Bevölkerung, und solange wir nicht Raum für beide Perspektiven schaffen und Räume für Begegnungen wird sich an dieser Spaltung nichts ändern.

Ich habe die Erfahrung gemacht, wenn Menschen als Menschen zusammenkommen und von ihren jeweiligen Perspektiven berichten, dann können sie auch die andere Seite wahrnehmen. Dann findet wirkliche Veränderung statt.

Ich sehe aber hier in Deutschland nicht den Willen dazu, solche Räume zu schaffen. Und diese Bereitschaft sehe ich auch nicht drüben bei der palästinensischen Autonomiebehörde oder auf Seiten der israelischen Regierung.

Mehr zum Thema: “Wir müssen die offene Gesellschaft gegen Islamisten und Rechtsextreme verteidigen”, Interview mit dem Pädagogen Burak Yilmaz

Dr. Muhammad Sameer Murtaza ist Islam- und Politikwissenschaftler, islamischer Philosoph und Buchautor. Er ist wissenschaftlicher Referent beim jüdisch-muslimischen Bildungswerk Maimonides, wirkt als freier Mitarbeiter bei der Stiftung Weltethos und arbeitet als wissenschaftlicher Gutachter bei der renommierten in Pakistan herausgegebenen islamwissenschaftlichen Fachzeitschrift Hamdard Islamicus.

Er ist Autor von Büchern wie Gewaltlosigkeit im Islam, Schalom und Salam: Wider den islamisch verbrämten Antisemitismus und Die Friedensmacher: Ethos und Ethik im Islam.

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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