Interview mit Burak Yilmaz
„Muslime werden entweder als Terroristen oder Antisemiten bezeichnet,“ beklagt der Pädagoge Burak Yilmaz, der mit jungen Muslimen arbeitet. Er spricht im Interview über Ausgrenzung, aber auch die Notwendigkeit, den politischen Islam zurückzudrängen. „Wir sind nicht ohnmächtig gegen den Hass“, so Yilmaz, aber es brauche mehr Engagement für Demokratie und Teilhabe, auch seitens der Politik.
Das Gespräch führte Mike Kauschke
Frage: Sie arbeiten als Pädagoge mit jungen Muslimen in Duisburg und setzen sich für Verständigung ein.Welche Veränderungen erleben Sie in Ihrer Arbeit seit dem Massaker der Hamas gegen Israel am 7. Oktober 2023?
Yilmaz: Im Moment geht sehr viel Vertrauen kaputt, Kooperationen zwischen den muslimischen und jüdischen Communities oder Gemeinden gehen verloren. Die Menschen ziehen sich in ihre jeweilige Gruppe zurück, weil man so tief im eigenen Schmerz ist. Da ist wenig Raum für den Schmerz der anderen, was aber erstmal auch verständlich ist.
Die antisemitische Gewalt in Deutschland ist extrem gestiegen, auf der anderen Seite werden stigmatisierende Debatten zum Thema Migration und Abschiebung geführt.
Wie beeinflusst diese Situation Ihre Arbeit?
Yilmaz: Vor dem 7. Oktober hatte ich ein bis drei Vorträge an Schulen in der Woche, im Moment sind es einen bis drei Vorträge am Tag. Das Bedürfnis, über dieses Thema zu sprechen, ist groß. Wir erleben gerade, dass sich polarisierende Debatten auf unser Zusammenleben auswirken. Die Islamisten haben Zulauf, gleichzeitig instrumentalisiert die AfD das Thema für sich.
Klar, es gibt viele Menschen, die Allianzen bauen wollen und jetzt besonders aktiv sind. Aber wir brauchen Unterstützung von der Politik. Sie muss die offene Gesellschaft gegen Islamisten und Rechtsextreme verteidigen.
Steht die Politik an der Seite der Minderheiten in diesem Land?
Was wäre aus Ihrer Sicht nötig von Seiten der Politik?
Yilmaz: Mich entsetzt, dass konservative, liberale Parteien, Sozialdemokraten und sogar die Grünen den Rechtspopulismus mitmachen, gerade in einer Zeit, wo die antisemitische Gewalt rasant steigt. Diese Parteien glauben, man könnte die AfD bekämpfen, indem man selber zur AfD wird. Man schafft es noch nicht einmal, sich sprachlich abzugrenzen oder zu signalisieren: Wir stehen an der Seite der Minderheiten in diesem Land.
Die Politik hat das Problem nicht verstanden. Ein Beispiel: Letzte Woche habe ich einen Vortrag in einer deutschen Großstadt gehalten, der Oberbürgermeister ist dann zu mir gekommen und meinte: ‚Bei mir in der Stadt gibt es keine antisemitischen Demonstrationen. Von daher kann ich auch gar nicht verstehen, warum die Juden in meiner Stadt sagen, sie fühlen sich hier nicht mehr sicher.‘ Da frage ich mich, was eigentlich noch passieren muss, damit Verantwortliche verstehen, was gerade passiert.
Es gibt in Deutschland zwei Formen von Antisemitismus: von rechts – dieser reicht teilweise bis in die Mitte der Gesellschaft hinein. Und ein muslimischer. Wie kann unsere Gesellschaft in der historischen Verantwortung des Holocaust und der Veränderung der Gesellschaft durch Migration zu einer Kultur finden, die dem Judenhass entgegenwirkt?
Yilmaz: Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Man findet ihn in jedem Milieu in Deutschland. Eine wichtige Kernfrage für die nächsten Jahre, wird sein: Wie können wir in einer vielfältigen Gesellschaft die Erinnerungskultur so gestalten, dass sich alle angesprochen fühlen?
Die Geschichtsbücher in den Schulen sind auf die Mehrheitsgesellschaft zugeschnitten. Die Erfahrung von Migranten, von Geflüchteten, von Sinti und Roma, von Juden kommen darin gar nicht vor. In meiner Schulzeit hatten wir ein Geschichtsbuch mit 300 Seiten und auf einer Seite war die Geschichte der Gastarbeiter zu finden, völlig reduziert auf Arbeit und die Nutzbarkeit der Menschen. Da stand nicht: Warum sind die hier? Mit welcher Motivation sind sie hierhergekommen? Wie hat die Gesellschaft hier auf sie reagiert?
Wenn wir diese verschiedenen Perspektiven nicht zulassen, dann wird auch die Erinnerungskultur irgendwann überflüssig sein. In meiner letzten Theatergruppe waren zwölf Jugendliche mit zehn verschiedenen Nationalitäten und vier Religionen. Dann muss man sich verständigen: Über welche Erinnerungen wollen wir reden? Welche Geschichtsdeutungen wollen wir? Es ist auch ein Ringen um Erinnerung und Deutung. Aber in einer Demokratie wird die Erinnerungskultur lebendig, wenn wir solche konfrontativen Gespräche führen, uns auch respektvoll streiten können.
Muslime, die ein ganz normales Leben führen, sind zu wenig sichtbar.
Wie müsste sich die Gesellschaft verändern, dass eine solche Erinnerungskultur gelebt wird?
Yilmaz: Wir brauchen Sichtbarkeit und Chancengleichheit. Mit Sichtbarkeit meine ich, dass ich in den Medien gerne alltägliche Geschichten über Jüdinnen und Juden lesen würde. Wir sprechen über sie nur, wenn es um Antisemitismus geht. Wir sehen gar nicht, wie sie unsere Gesellschaft mitgestalten, mit welchen Herausforderungen sie in ihrem Alltag zu tun haben oder wie die Gesellschaft aus ihren Perspektiven aussieht.
Das Gleiche gilt für die muslimische Community. Muslime werden entweder als Terroristen oder als Antisemiten dargestellt. Ansonsten sind sie nicht sichtbar mit dem, was sie in ihrem Alltag wirklich beschäftigt. Weiter müssen wir über Teilhabe reden: Wer darf diese Gesellschaft mitgestalten?
Wichtig dafür wäre, dass Bildung nicht von der sozialen Herkunft abhängt, dass z. B. Jugendliche in Duisburg-Marxloh die Möglichkeit haben, überall teilzuhaben. Dass sie auch ein Recht darauf haben, in den Sommerferien zwei Wochen lang in einem Sommercamp zu verbringen, anstatt im Park abzuhängen. Die momentanen Debatten bestätigten bei vielen Menschen, die ausgegrenzt werden, das Gefühl, dass sie sowieso nicht erwünscht sind.
Im Islam wird die Gewalt zu wenig thematisiert.
Sie haben den Zulauf der Islamisten angesprochen. Wie könnte man dem muslimisch begründeten Antisemitismus entgegenwirken?
Yilmaz: Ja, im Moment hat die islamistische Bewegung einen riesengroßen Zulauf, nicht nur in den sozialen Medien, sondern vor allem in der Ideologie, in der aus der palästinensischen Sache eine islamische Sache gemacht wird. Da frage ich mich: Wo ist die islamische Theologie in Deutschland?
Wir brauchen eine islamische Theologie, die das Gewaltpotenzial in den eigenen Reihen thematisiert und dazu eine Alternative bietet. Und die den islamistischen Bewegungen entgegentritt, indem sie sagt: Wir lassen unseren Glauben nicht politisieren und instrumentalisieren.
Leider gibt es massenhaft Schweigen unter den Gelehrten, den Religionsvertretern, den Menschen, die die Gemeinden repräsentieren. Wir müssen in der muslimischen Community jetzt wirklich umdenken, um den islamistischen Bewegungen etwas entgegenzusetzen. Es wird innerhalb der Community zu einer Spaltung kommen, weil wir für die nächsten Jahre von einer Hochphase des Islamismus ausgehen müssen. Die Menschen, die sich gerade versammeln, werden sich auch organisieren.
Es gibt viele Menschen aus der deutsch-muslimischen Zivilgesellschaft, die viel dagegen tun. Aber wir brauchen auch die Unterstützung der Mehrheitsgesellschaft. Wenn Erdogan nach Berlin kommt, dann bedeutet das für mich, dass die Politik nicht auf unserer Seite steht.
Die Politik steht auf der Seite der islamistischen Bewegungen, die gerade glauben, dass sie das Ruder übernehmen. In der Politik will man nicht verstehen, dass man in diesem Land sowohl in der Außen- als auch in der Integrationspolitik jahrzehntelang den Islamismus gefördert hat.
Wir sind nicht ohnmächtig gegen den Hass.
Wie meinen Sie das, dass die Politik den Islamismus gefördert hat?
Yilmaz: Indem man gute wirtschaftliche Beziehungen zum Iran, nach Katar, mit der Türkei unterhält. Es ist ein Problem, wenn man rund 10 Milliarden an die Türkei überweist, um den Türsteher für Europa zu spielen, ohne zu begreifen, was es eigentlich bedeutet, einem Staat so viel Geld zu geben, der den Islamismus fördert, nicht nur im eigenen Land, sondern durch Medien auch in anderen Ländern.
Und wenn in Deutschland und Europa die Rechtsextremen Zulauf haben und im Nahen Osten die Islamisten, dann habe ich keine schönen Zukunftsvisionen für diese Welt. Mein Vertrauen in die deutsche Politik ist geschwächt. Jetzt sind wir alle gefragt: Wir müssen unsere offene Gesellschaft gegen Islamisten und Rechtsextreme verteidigen. Wir kämpfen für eine Gesellschaft, die vielfältig ist. Wir schauen nicht weg bei Antisemitismus und Rassismus, und wir werden diese Gesellschaft mit allen Mitteln verteidigen.
Was kann der Einzelne tun gegen Judenhass und Rassismus?
Yilmaz: Wichtig ist, sich über den Nahost-Konflikt zu informieren, Bücher zu lesen, Dokumentationen anzuschauen, Podcasts anzuhören und mit Leuten im eigenen Umfeld über das Thema Rassismus und Antisemitismus zu sprechen. Und immer wieder die Frage stellen: Was kann ich in meinem Umfeld tun?
Das fängt damit an einzuschreiten, wenn antisemitische Aussagen geäußert werden, Haltung und Zivilcourage zeigen. Darüber kann man in der eigenen Schule oder im Unternehmen Räume schaffen, um über solche Themen reden zu können. Denn diese Räume gibt es nicht, in denen Menschen sich austauschen, andere Perspektiven kennenlernen oder ihre Sichtweise ändern können.
Was braucht man für solche Dialoge?
Yilmaz: Sehr viel Ausdauer, Ambiguitätstoleranz und einen guten Willen. Es braucht aktives Zuhören, mich in die Perspektiven anderer Menschen hineinzuversetzen, die andere Erfahrungen als ich machen. Solche Erfahrungen anzuerkennen ist ein wichtiger Schritt. Und ja, es braucht auch Streit. Diese Sehnsucht nach Harmonie bringt uns als Gesellschaft nicht weiter.
Mehr zum Thema: “Muslime und Juden sollten sich gemeinsam für den Frieden stark machen”, Interview mit dem Islamwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza
Burak Yılmaz lebt als Autor und Publizist in seiner Heimatstadt Duisburg. Er initiierte das Projekt “Junge Muslime in Auschwitz”. In seinem Buch “Ehrensache: Kämpfen gegen Judenhass“, 2021, plädiert er für eine neue Erinnerungskultur, die die Biografiearbeit ins Zentrum stellt. Yılmaz schreibt über die Gefahren des Islamismus in Deutschland sowie über deutsche Identitätsdebatten und Ausgrenzung.