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Muss ich zu allem eine Meinung haben?

Antenna/ Unsplash
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Ethische Alltagsfragen

In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield eine Frage zum Diskurs in der Demokratie auf: “Heute werden lautstark Meinungen vertreten, oft auf der Basis von Halbwissen. Müssen wir an öffentlichen Diskussionen teilnehmen oder können wir es auch lassen und zugeben: “Das kann ich nicht beurteilen?”

Frage: Ich erlebe unter Kolleginnen und Freunden immer häufiger Diskussionen um komplexe politische Themen: Kriege, Aufrüstung, Klima, Wirtschaft. Die wenigsten haben Ahnung, es werden einfach Meinungen vertreten, zum Teil lautstark und aggressiv. In der Demokratie müssen wir den Diskurs pflegen, das sehe ich ein. Aber sollen wir das wirklich auf der Basis von Halbwissen und wenig umfassenden Informationen tun, einfach um mitzureden? Wäre es nicht heilsam, sich zurückzunehmen und auch mal anzuerkennen: „Das kann ich nicht beurteilen“?

Jay Garfield: Dies ist eine tiefe Frage darüber, was es bedeutet, seine Verantwortung für die Demokratie wahrzunehmen und am öffentlichen Leben teilzunehmen.

Kant hat dies in seinem Aufsatz “Was ist Aufklärung?” erklärt, und Jürgen Habermas hob diesen Punkt ebenfalls hervor in seiner Darstellung der kommunikativen Rationalität: Bürgerinnen und Bürger in einer liberalen Demokratie zu sein, bedeutet Rechte und Pflichten zu haben.

Zu den Rechten gehört die Freiheit, offen zu sprechen, seine Meinung zu äußern und sich am Gedankenaustausch mit den Mitbürgern zu beteiligen. Wenn wir das tun, sollten wir dies verantwortungsbewusst, auf informierte Weise und auf der Basis von Vernunft umsetzen.

Sich uninformiert zu äußern und auf begründete Einwände gegen unsere eigenen Positionen nicht einzugehen, bedeutet, den freien Fluss von Ideen und Argumenten zu behindern oder zu untergraben; es hieße, nützliche Informationen mit sinnlosem Lärm zu überdecken.

Wer darauf besteht, dass jede Idee, die er für attraktiv hält, Gehör finden sollte, verwechselt subjektive Vorurteile mit einer argumentativ begründeten Position.

Die öffentliche Sphäre ist der Bereich des Diskurses, der sich auf Vernunft und das, was gültig ist, stützt. Wenn wir also an einer Diskussion über wichtige soziale oder politische Themen teilnehmen wollen, sollten wir uns vorab ausgewogen informieren.

Gesellschaftliche Teilhabe setzt voraus, dass wir gut informiert sind

Aber müssen wir uns überhaupt an öffentlichen Diskussionen beteiligen, wie es in Ihrer Frage auch anklingt?

Könnten wir nicht einfach sagen, dass wir schlecht informiert sind, zu wenig wissen und uns einfach weigern mitzudiskutieren? Ich glaube nicht.

Das hieße, anderen das Feld der Meinungsbildung zu überlassen. Man erlaubt anderen, zur kollektiven Intelligenz beizutragen, die die Frucht der offenen Gesellschaft ist, ohne sich selbst zu beteiligen.

Gesellschaftliche Teilhabe, die wir so oft einfordern, setzt auch voraus, dass sich die einzelnen über die aktuellen Themen informieren, die das Gemeinwesen betreffen.

Wir können dies tun, indem wir lesen, anderen zuhören, Nachrichten sehen oder hören usw. Dadurch werden wir Teil der informierten Zivilgesellschaft und bereichern den Diskurs.

Natürlich hat diese Verpflichtung auch ihre Grenzen. Wir müssen nicht über jedes Thema, das zur Debatte steht, informiert sein oder qualifiziert Stellung beziehen. In komplexen modernen Gesellschaften muss es eine Arbeitsteilung im Bereich des Wissens geben.

Wenn ich mich voll und ganz in das Thema Klimawandel einarbeite, habe ich vielleicht zu wenig Zeit, um einen wirksamen Beitrag zu einer Debatte über Einwanderung zu leisten. Aber das ist okay, denn ich bin effektiver, wenn ich mich in einem Bereich sehr gut auskenne.

Oder ich entschließe mich, als Laie an einer Debatte über den Klimawandel teilzunehmen. Dann sollte ich mir bewusst sein, dass ich weniger weiß als Wissenschaftler, die intensiv an dem Thema geforscht haben. Es wäre verantwortungsbewusst, wenn ich meine Grenzen kenne und das, was die Experten sage, in mein Denken einbeziehe.

Vorsicht vor falschen Informationen

Die Verpflichtung, sich an der öffentlichen Debatte zu beteiligen, ist ein Beispiel für “unvollkommene Pflichten”, wie man es in der Ethik nennt. Das bedeutet, in allgemeiner Weise zu handeln, aber keine spezifischen Handlungen auszuführen. Ein Beispiel wäre, für wohltätige Zwecke zu spenden, ohne den Notleidenden selbst zu helfen.

Entsprechend können wir, was den öffentlichen Diskurs angeht, uns entsprechend unserer Interessen, dem Fachwissen und Lebensumständen engagieren.

Ein Punkt ist noch wichtig: Wir leben in einer Zeit, in der wir nicht allen Informationsquellen vertrauen können. Denn vielen geht es nicht um die Wahrheit oder einen verantwortungsvollen Diskurs, sondern um Täuschung und Propaganda – die “Fake News”-Industrie.

Diese Industrie wird zunehmend von ausgeklügelten staatlichen und anderen institutionellen Akteuren gut organisiert und durch künstliche Intelligenz verstärkt. Dies stellt uns Bürgerinnen und Bürger vor neue Herausforderungen.

Es verlangt von uns, dass wir bei der Auswahl von Informationsquellen äußerst vorsichtig und kritisch vorgehen. Wenn wir Quellen nicht kennen oder sie nicht überprüfen können, sollten wir ihnen nicht vorschnell vertrauen.

Es wäre gut, manchmal innezuhalten, bevor wir sprechen oder schreiben, den eigenen Wissensstand zu überprüfen, Unsicherheiten zuzugeben und darauf zu achten, ob andere sich auf gute oder zweifelhafte Quellen stützen. Diese Abwägung verleiht unseren staatsbürgerlichen Pflichten eine neue Dimension.

Ziviles Engagement in einer liberalen Demokratie ist anspruchsvoll, aber auch wertvoll. Die Erfüllung dieser Aufgabe macht uns nicht nur zu besseren Bürgerinnen und Bürgern, sondern zu besseren Menschen.

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Wenn Sie eine Frage haben, eine ethische Zwickmühle, schreiben Sie uns: redaktion@ethik-heute.org

Jay Garfield ist Professor für Philosophie am Smith College, Northhampten, USA, und Dozent für westliche Philosophie an der tibetischen Universität in Sarnath, Indien. Ein Schwerpunkt seiner Lehrtätigkeit ist die interkulturelle Philosophie. Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Alle Beiträge von Jay Garfield in der Rubrik „Ethische Alltagsfragen“ im Überblick
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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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