Ein Buch des Historikers Bregman
Der Historiker Rutger Bregman will anhand gut recherchierter Fakten das überwiegend negative Menschenbild der herkömmlichen Geschichtsschreibung revidieren, das sich in unseren Köpfen festgesetzt hat. Neben Kriegen und Gewalt gibt es viel Kooperation und Solidarität. Damit eröffnen sich auch neue Perspektiven für die Zukunft.
Rutger Bregman ist ein unerschütterlicher Optimist. Sein positives Menschenbild lag schon seinem Buch „Utopien für Realisten“ zugrunde und muss auch jetzt wieder die Kraft gewesen sein, die ihn antreibt, das Werk zu verfassen und so intensiv zu recherchieren. Vielleicht macht die Lektüre seiner Bücher deshalb so viel Freude.
Der niederländische Historiker legt hier ein längeres Essay vor, mit dem er nachweisen will, dass der Mensch „im Grund gut“ ist: freundlich, kooperativ, hilfsbereit. Nun spricht die Geschichte der Menschheit nicht gerade für diese These:
Es scheint eine Geschichte von Macht, Gewalt und Krieg zu sein. Jedenfalls ist es das, worauf traditionelle Historiker ihren Schwerpunkt gelegt haben: Wer hat wann regiert, sich welche Territorien einverleibt, Feinde bezwungen, Machtpolitik betrieben usw. Die Schulbücher sind voll von derartigen „Fakten“, auch ein Grund, warum viele das Fach so ermüdend finden.
Bregman lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was gewöhnlich nicht in den Geschichtsbüchern steht: Dass Menschen sich in Katastrophen selbstlos helfen, zum Beispiel in Großbritannien während des Zweiten Weltkriegs oder beim Hurrikan Katrina 2005 in New Orleans. Dass Soldaten eine Hemmung haben, andere zu töten. So hätten im Zweiten Weltkrieg nur 15 bis 25 Prozent der amerikanischen Soldaten im Kampf um die Pazifikinsel Makin trotz Schießbefehl nicht geschossen. Davon gibt es viele weitere belegte Beispiel in der Geschichte. Dass die Theorie vom Homo oeconomicus, also einem Menschen, der immer nur auf seinen Vorteil bedacht ist, falsch ist – dabei liegt sie unserem Wirtschaftssystem zugrunde.
Gegen die einseitige Geschichtsauffassung
Der Grund für die einseitige Geschichtsauffassung liegt aus Sicht des Niederländers darin, dass negative Denkweisen und Philosophien unser Denken bestimmten wie die von Augustinus, Hobbes, Machiavelli, Nietzsche und Freud. Sie hätten mehr Einfluss auf die Gesellschaft als andere Denker, die vom wohlwollenden Menschen ausgehen. Und meistens würden ihre Ideologien ungeprüft übernommen, weil sie so gut in unser eigenes negatives Menschenbild passten.
Bregman als Historiker hingegen hat nachgeprüft, Quellen gecheckt, hinterfragt und dabei keine Mühen gescheut. Er hat Archive konsultiert, das Internet durchforstet, mit Zeitzeugen gesprochen, um eine andere Geschichte zu schreiben.
So beschreibt er die Epoche der Jäger und Sammler als eine friedvolle Zeit, in der Menschen in lockeren Verbänden naturnah lebten und Fremden gegenüber aufgeschlossen und freundlich gewesen seien. Erst mit dem Ackerbau und der Etablierung von Privatbesitz sei es zu Gewalt, Expansion und Kriegen gekommen.
Der Untertitel „Eine neue Geschichte der Menschheit“ ist allerdings zu hoch gegriffen. Denn Bregman geht nicht systematisch vor, sondern greift punktuell Themen auf, die in sein Konzept und seine Art zu denken passen:
So springt er ungeordnet von einem Thema zum nächsten, erzählt die Geschichte der Osterinsel im Pazifik neu, unterzieht das Stanley Milgram-Experiment und andere einer neuen, verblüffenden Interpretation. Er diskutiert die Frage, warum Auschwitz möglich war. Er schreibt über Empathie, Machtmissbrauch und Irrtümer der Aufklärung. Am Ende wendet er sich aktuellen Themen zu wie Bildung, Demokratie, Rassismus und Terrorismus.
Bregman macht es sich nicht leicht. Die Stärke seines Buches liegt auch darin, dass er nicht naiv seine Version der Geschichte wiedergibt, sondern hinterfragt, diskutiert und sich mit Einwänden gegen seine Thesen befasst. Das stärkt das Vertrauen in seine Arbeit und zeigt: Es geht ihm nicht darum, auf Biegen und Brechen Geschichte umzuschreiben, sondern neue Perspektiven zu eröffnen und dadurch unser Geschichtsbild zu erweitern.
Und dies ist unbedingt notwendig, wenn wir Gesellschaft transformieren wollen. Denn die Kraft zur Transformation kommt aus dem Vertrauen in die Freundlichkeit des Menschen. Bregman drückt es so aus: „Was wir voneinander annehmen, ist das, was wir hervorrufen.“ So hilft uns der Autor, die Geschichte der Menschheit anders weiterzuschreiben: als eine Geschichte der Kooperation und Solidarität.
Birgit Stratmann
Rutger Bregman. Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit. Rowohlt 2020