Michael Feike über die Generation der 30-Jährigen
Für Michael Feike, 34, ist Pluralismus keine Theorie, sondern die Antwort auf das Leben in komplexer Welt. Hier kann man sich nur zurecht finden, wenn man mit Ambivalenz leben und vieles gelten lassen kann, ist Feike überzeugt.
Auf dem Weg zum Bäcker begegnen mir zwei junge Männer aus Somalia. Der Bauer, bei dem ich meine Milch hole, ist schwul und bewirtschaftete seinen Hof eine ganze Weile gemeinsam mit seinem Lebensgefährten. Die alteingesessene Nachbarin von schräg gegenüber geht alle zwei Wochen drei Straßen weiter zur Kundalini- Meditation. Ich wohne nicht etwa in einem Berliner Vorort, sondern in einem Oberbayerischen Dorf.
Unsere Gesellschaft wird bunter. Farbe dringt langsam bis in die tiefsten Provinzen. Selbst da, wo vor kurzem noch traditionelles bayrisch Blau- Weiß dominierte, flattern inzwischen tibetische Gebetsfahnen im Wind.
„Pluralismus“ ist ein häufig bemühter Begriff. Für meinen Geschmack klingt er zunächst wie eine Theorie, fast schon zu abstrakt und allgemein, um ein tatsächliches gesellschaftliches Phänomen zu beschreiben. Vielfalt ist ein generelles Merkmal des Lebens und mir scheint als Begriff daher wenig aussagekräftig, wenn wir uns mit aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen beschäftigen.
Auch die 80er Jahre waren farbenfroh, in gewisser Hinsicht scheinen sie weniger homogen gewesen zu sein als die Gegenwart. Da gab es Punks, Mods, Popper, Metaller, Skins, Rocker – ein Durcheinander von Jugendkulturen, die klar voneinander unterschieden waren, mit unterschiedlichen Codes, Styles, entsprechender Mode, Musik etc.
Tatsächlich haben wir es mit einer ambivalenten Entwicklung zu tun. Eine Art globale Leitkultur unter den Vorzeichen des Kapitalismus scheint sich abzuzeichnen. Global gesehen präsentiert sich alles immer einfarbiger. Im hintersten indischen Dorf gibt es Coca Cola, junge Menschen in einem Club in Katmandu tragen die gleiche Kleidung und tanzen zur selben Musik wie die Gleichaltrigen in New York oder Neukölln. Betrachtet man die Gesellschaft, kann mit gleichem Recht um sich greifender Uniformierung, aber auch von zunehmender Vielfalt sprechen. Aber was bedeutet das für mein Leben?
Wir lassen uns nicht festlegen
Den Jüngeren wird gelegentlich eine gewisse Profillosigkeit vorgeworfen. Wir scheinen angepasst zu sein. Tatsächlich laufen wir selten mit gefärbten Haaren herum, wir hören mal diese, mal jene Musik und lassen uns ungern auf klar bestimmte Meinungen und weltanschauliche Konzepte festlegen. Wir scheinen einander alle recht ähnlich zu sein und ein, wenn nicht DAS verbindende Element ist jener Pluralismus.
Man trifft uns auf Technopartys und in Klassik-Konzerten, wir meditieren und engagieren uns sozial. Wir sind unterwegs in virtuellen Welten, in denen es keine Grenzen gibt. Unsere Lebensrealität ist durch und durch pluralistisch. Meine Identität ist kein fixiertes Konstrukt sondern vielmehr eine Art Werkzeugkasten, aus dem ich mich nach Bedarf bediene.
Wir denken pluralistisch, drücken uns pluralistisch aus und nehmen pluralistisch wahr, d.h. wir erfahren die Welt und uns selbst als ein hochkomplexes, vielfarbiges Geschehen Dahinter steht die Erkenntnis, dass das Leben sich nicht festlegen lässt. Mal ist es so, mal anders; man braucht ein bisschen hiervon, ein bisschen davon. Ein 28 jähriger Abonnent einer Öko-Kiste wird sich vielleicht gelegentlich einen Hamburger kaufen, junge Punks gehen auf buddhistische Veranstaltungen, und Technokids arbeiten ehrenamtlich im Tierheim.
Vielleicht fällt es uns schwer, Farbe zu bekennen, weil unser Blick immer mehr auf das ganze Farbspektrum gerichtet ist. Hierin liegt die Gefahr, sich in Beliebigkeit und Unverbindlichkeit zu verlieren. Dafür denken wir mehr in „sowohl als auch“ und malen nicht schwarz-weiß.
Toleranz ist bei uns zur Selbstverständlichkeit geworden. Dieser „Privatpluralismus“ ist unsere Antwort auf eine komplexe Wirklichkeit, die wir in der modernen Welt vorfinden.
Es ist eine Welt, in der es keine einfachen, absoluten Antworten gibt. Wenn möglich vermeiden wir es daher, uns festzulegen und entscheiden von Moment zu Moment, was wir tun und lassen. Ob Bio oder Konventionell, ob Regel- oder alternative Privat-Schule, wir finden für alles Argumente und können genauso gut gegen alles argumentieren. In Diskussionen im Freundeskreis werden oft alle möglichen Positionen vertreten, politisch, ökologisch, sozial, spirituell.
Vielleicht ist das durch und durch pluralistische Individuum, das sich in Zukunft als am flexibelsten erweisen und am souveränsten im Umgang mit den Gegebenheiten erweisen wird. Vielleicht beginnt sich hier ein Weg aus unserem Spezialistentum abzuzeichnen, ein Weg zu einem komplexen Universalismus, in dessen Verlauf wir immer mehr zu Weltbürgern werden, die sich mit allem verbunden fühlen.
Stefan Ringstorff
Michael Feike, 34, lebt mit seinen beiden Kindern zwischen Ammersee und Lech. Er arbeitet als Lyriker, Bauer, Gärtner, Altenpfleger, Kabelträger, Töpfer, Veranstalter und freier Autor. Stöbern Sie in seinen Texten
Der Artikel gefällt mir. Duch die pluralistische Sichtweise fühle ich weniger zerrissen in meiner Identität, es fällt mir leichter die Umwelt und mich zu akzeptieren.
Danke für diese Einschätzung eines modernen Lebensgefühls. Ob alle jungen Menschen so denken?
Guter Versuch, so etwas schwer Fassbares in Worte zu fassen. Der Artikel regt zum Nachdenken an, über sich, die Gesellschaft, in der wir leben und – den Sinn des Lebens überhaupt.
Ich finde die Ansicht interessant, denke aber dass der Artikel die Komplexität der heutigen Gesellschaft nicht erfasst. Es gibt sehr wohl klare Statements -man denke nur an fridays for future. Das ist mir wesentlich sympathischer als der ein wenig schwammige „Weltbürger“ wie im Artikel.
Den Punkt der umfangreicher werdenden Vielfalt sehe ich als besonders Positiv an, besonders hinsichtlich der Gesellschaftsentwicklung und daraus resultierender Möglichkeiten in der Zukunft wenn verschiedene Meinungen und Qualitäten kombiniert werden können und vielleicht so auf neue Lösungen zukünftiger Probleme kommen, ebenso ist eine weltweit zusammengehörige Gesellschaft deutlich Stärker im Sinne des. friedens und eventuellem Zusammentreffen fremder Zivilisationen. (Extraterrestrisch). Jedoch missfällt mir der Punkt das sich die Menschen immer mehr angleichen, dies klingt als würde das Individuum und einzelne Qualitäten verloren gehen in einer gesamten Bunten Masse. Und auch unsere Generation hat bekanntlich Probleme damit und erkämpft sich mit allen Mitteln erkrampfte Individualität.
Interessanter, erfrischender Artikel. Er beschreibt den Ist-Zustand und dass die Globalisierung auch in beschaulichen bayrischen Bergdörfern angekommen ist und diese nicht mehr aufzuhalten ist sondern längst mit uns lebt und wir mit ihr. Trotz alledem sollten wir unsere Traditionen wahren und pflegen. Mir ist es auch wichtig regionale Produkte zu kaufen und den Bestellwahn zu begrenzen. Der Pluralismus zeigt uns viele Möglichkeiten auf und jetzt liegt es an jedem selbst seine Interessen rauszufiltern und dennoch nicht seine Identität zu verlieren oder erst einmal finden. Seit loyal, kauft regional!