Ein Interview mit Katharina Ceming
In den offenen Gesellschaften sind Menschen sensibler geworden für Diskriminierung. Die Philosophin Katharina Ceming sieht jedoch eine Gefahr, wenn man sich nur über eine bestimmte Gruppenidentität definiert. Ein Interview über Identitätspolitik, Cancel Culture, kulturelle Aneignung und warum wir mehr Räume der Begegnung brauchen.
Das Gespräch führte Mike Kauschke
Was ist Identitätspolitik und welche Probleme sehen Sie darin im gegenwärtigen Diskurs?
Ceming: Das Ansinnen ist plausibel: Menschen, die Diskriminierung erfahren, weil sie Teil einer bestimmten Gruppe sind, schließen sich zusammen, um gegen ihre Benachteiligung zu agieren. Alle Emanzipationsbewegungen sind zunächst auch identitätspolitisch getragene Bewegungen.
Schwierig wird es, wenn bestimmte Merkmale essentialistisch interpretiert werden, das heißt, Menschen werden nur noch aufgrund von bestimmten Merkmalen definiert. Vereinfacht gesagt, ein People of Colour (PoC) wird ausschließlich dadurch bestimmt, dass er zur schwarzen Community gehört.
Hier führt ein berechtigtes Anliegen, nämlich gegen die Unterdrückung zu kämpfen, zu einer ausschließenden Gruppenidentität. Dann wird es schwierig für die Vision der offenen Gesellschaft, die auf der einen Seite heterogen ist, gleichzeitig aber einen gewissen Gemeinsinn braucht, damit wir uns als Mitglieder einer Gesellschaft verstehen.
Diese Dynamik geht auch mit einer starken Sensibilisierung für Verletzungen einher. Geht diese Sensibilisierung Ihrer Ansicht nach manchmal zu weit?
Ceming: Die Sensibilisierung ist an und für sich ein gutes Zeichen. Wir sehen eine Entwicklung hin zu einem schärferen Bewusstsein für Unterdrückung und Diskriminierung. Aber wir beobachten auch einen psychologisch interessanten Mechanismus: Je mehr wir in der Gleichstellung erreichen, desto feiner wird die Wahrnehmung.
Dann verlieren wir aus dem Blick, was in diesem Bereich positiv schon geschehen ist. Wir denken dann, dass die Probleme immer größer werden, obwohl in Wirklichkeit schon ziemlich viel passiert ist.Deshalb könnte man zum Beispiel beim Diskurs über Sexismus manchmal den Eindruck gewinnen, die Situation für Frauen wäre in Deutschland schlimmer als in Saudi-Arabien.
Hier prallen häufig zwei unterschiedliche Dimensionen aufeinander. Es gibt ein eher progressiv liberales Lager und ein eher konservatives bis rechtspopulistisches Lager. Bei konservativen Menschen spielen Loyalität und Zugehörigkeit eine deutlich größere Rolle. Progressive Menschen richten einen stärkeren Fokus auf Diskriminierung und Solidarität.
Wir sollten Uneindeutigkeiten aushalten können.
Wenn wir es aus Sicht der Betroffenen – und nicht der Privilegierten – sehen: Ist diese Verfeinerung der Wahrnehmung nicht verständlich?
Ceming: Aus der Psychologie wissen wir: Je mehr wir feinjustieren und überall und in allem Missstände und Diskriminierung wahrnehmen, desto schlechter geht es uns. Von daher ist die Frage, wie finden wir eine gute Balance, in der wir Diskriminierung bekämpfen und gleichzeitig merken, wenn durch unser Engagement neue Probleme für das gute Zusammenleben entstehen.
Wie können wir diese Verfeinerung der Wahrnehmung wertschätzen, ohne dass es zu noch mehr Fragmentierung und Polarisierung führt?
Ceming: Ich denke, wir brauchen mehr Ambiguitätstoleranz und wir sollten im Miteinander nicht immer alles auf die Goldwaage legen und negativ interpretieren. Es gibt klare Kriterien für rassistisches, sexistisches, homophobes Verhalten.
Der gesellschaftliche Dialog wird schwierig, wenn nur aufgrund von bestimmten Theorien ein Verhalten als rassistisch bezeichnet wird. Dann könnte eine Aussage als sexistisch interpretiert werden, obwohl derjenige es überhaupt nicht so meint. Aus ethischer Perspektive sollte die Intention eines Menschen im Vordergrund stehen.
Im Konflikt wäre es hilfreich, mehr ins Gespräch zu gehen und über die Intentionen zu sprechen. Wenn das nicht mehr möglich ist, dann sind wir schnell bei Sprechverboten, weil eine bestimmte Aussage oder ein Wort an sich Ausdruck von Rassismus ist.
Menschen, die diese Diskurse gar nicht kennen und nicht nachverfolgen können, benutzen manchmal Begriffe unbedarft, ohne mit einer wirklich bösen Absicht. Deshalb ist so wichtig, also dass wir Uneindeutigkeiten aushalten können.
Man richtet sich in Diskursen ein, statt gegen die soziale Benachteiligung von Frauen zu kämpfen.
Im Zusammenhang mit Sprechverboten wird schnell von einer Cancel Culture gesprochen. Dieser Ausdruck wird manchmal zum Kampfbegriff, um unter dem Vorwand der Meinungsfreiheit andere herabzusetzen. Wie sehen Sie diese Diskussion?
Ceming: Im rechten Lager taucht der Vorwurf der Cancel Culture schnell auf, wenn Menschen zu Recht anmahnen, dass es nicht unter die Meinungsfreiheit fällt, andere zu beleidigen. Dann kommt oft die Antwort: Ich lasse mir doch von niemandem sagen, was ich sagen darf.
Da muss man ganz klar erwidern: Doch, denn es gibt auch so etwas wie ein verträgliches Miteinander. In der Demokratie wird zudem juristisch geregelt, was nicht unter Meinungsfreiheit fällt. Im Extremfall muss das ein Gericht klären.
An den Urteilen sehen wir, dass die Meinungsfreiheit bei uns relativ weit gefasst wird. Das finde ich prinzipiell gut. Es müssen auch konservative Haltungen das Recht haben, sich zu artikulieren. Aber wenn dabei anderen Menschen das Existenzrecht abgesprochen wird, dann hat es nichts mehr mit Meinungsfreiheit zu tun.
Im progressiven Lager sehe ich einen gewissen missionarischen Eifer, eine bestimmte Form der Ausdrucksweise allgemein verbindlich durchzusetzen. Wenn jemand davon abweicht, wird er oder sie mit einer Empörungswelle überzogen.
Nehmen wir als Beispiel das Gendern. Diese Diskussion beruht auf Theorien, die man hinterfragen kann, zum Beispiel, dass unsere Sprache Wirklichkeit schaffen würde. Natürlich hat die sprachliche Repräsentation einen Einfluss auf die Wahrnehmung der Wirklichkeit, aber es ist nicht nur die Sprache. Wir sollten auch überlegen, wie wir die gesellschaftlichen und sozialen Verhältnisse derart gestalten, dass sie weniger diskriminierend sind.
Ein Beispiel: In Deutschland steuern wir auf eine riesige Altersarmut zu, die vor allem Frauen betrifft. Dagegen etwas zu tun, ist viel anstrengender, als sich über die Besetzung der Posten in den Ministerien aufzuregen. Hier sehe ich in progressiven Kreisen die Tendenz, sich in bestimmten Diskursräumen gemütlich einzurichten, weil es weniger aufwendig ist.
Gleichberechtigung und Patriarchat passen nicht zusammen.
Ähnliche Dynamiken scheinen auch bei den Diskussionen um der kulturellen Aneignung zu wirken. Können Sie erklären, wie es dabei zu Missverständnissen im öffentlichen Diskurs kommt?
Ceming: Hinter der Theorie der kulturellen Aneignung steht die Frage, wie es sein kann, dass eine Kultur die Produkte anderer Kulturen vermarktet, ohne diese daran zu beteiligen.
Aus diesem berechtigten Anliegen ist meines Erachtens eine seltsame Ideologie geworden, die gegen alles spricht, was die kulturelle Entwicklung der Menschheit ausgezeichnet hat: Austausch, Übernahme, Vermischung, Adaption. Hier ist ein Reinheitsdenken am Werk, das dem guten Miteinander nicht zuträglich ist. In Amerika wird dann ernsthaft gefragt, ob in der Mensa noch Sushi serviert werden darf.
Nützlicher wäre ein ehrlicher Diskurs darüber, wie Menschen, die zu marginalisierten Gruppen gehören, besser ökonomisch partizipieren können. Oder wie Menschen, die einen migrantischen Hintergrund haben, im Kulturbetrieb mehr Gehör finden.
Hinter all diesen Themen wirkt die Realität unterschiedlicher Werte. Die Frage ist, wie ein gutes Miteinander gelingt. Wie sehen Sie diese Frage der Werte als darunter liegendes Phänomen, mit dem wir umgehen müssen?
Ceming: Im Wertediskurs zeigt sich etwas, was dem postmodernen Paradigma zuwiderläuft. Es gibt Werte, die dem gesellschaftlichen Miteinander in einer offenen multikulturellen, diversen Gesellschaft zuträglicher sind, etwa Gleichwertigkeit, Gleichberechtigung, Toleranz.
Traditionelle Werte, die in traditionellen Gesellschaften durchaus ihren Wert hatten, sollten in modernen Gesellschaften keine öffentliche Berücksichtigung finden. Wenn Gleichberechtigung gilt, kann nicht gleichzeitig ein patriarchales Familienmodell gelten. Ein Paar kann das individuell anders handhaben, aber es funktioniert nicht, es im öffentlichen Bereich als verbindliches Modell für alle einzufordern. Kein Vater kann z.B. seine Tochter gegen ihren Willen verheiraten, weil das Grundgesetz die freie Wahl der Ehepartner garantiert.
Darum muss man manchmal sagen: Das mögen deine kulturellen Werte und Prägungen sein, aber sie passen nicht in die offene Gesellschaft, weil diese Rechte für alle garantiert.
“Wir brauchen mehr Räume für Begegnungen.”
Die Frage ist, wie entsteht eine Gesellschaft, die sich auf ein Gemeinwohl oder einen Gemeinsinn einigt. Dazu bedarf es der Begegnung und des Austauschs.
Ceming: Ja, je mehr wir mit Menschen im Gespräch sind, desto eher entwickeln wir eine gewisse Offenheit. Man sieht, der andere ist zunächst mal ein Mensch, unabhängig von seiner Herkunft bewegen ihn ähnliche Bedürfnisse. Als Gesellschaft brauchen wir diese Begegnungsmöglichkeiten.
Aber wenn Mieten in den Innenstädten unbezahlbar sind, dann kann sich nur noch eine bestimmte Schicht dort eine Wohnung leisten. Es gibt kaum öffentliche Räume, wo man anderen Leuten begegnen kann, ohne dass es was kostet. Wir bräuchten eigentlich in jedem Stadtgebiet Quartiersviertel mit offenen Werkstätten und einem Cafe, wo man zum Selbstkostenpreis einen Kaffee trinken kann. Sonst bleibt jeder in der eigenen Blase. Daran etwas zu ändern, ist die wirklich große Herausforderung.
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Prof. Dr. Dr. Katharina Ceming ist Theologin, Philosophin, Autorin und Seminarleiterin. Sie ist Autorin des Buches „Grenzwertig. Was in Debatten über Rassismus, Identitätspolitik und kulturelle Aneignung schiefläuft“, Vier Türme Verlag 2023. www.quelle-des-guten-lebens.de