Rassismus: „Ich spürte den Riss in mir“

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Über einen denkwürdigen Besuch in New York

Barbara Marx, Übersetzerin und Mutter, war ein paar Tage allein in New York. Sie erlebte Rassismus am eigenen Leib und erfuhr, wie tief die Diskriminierung in der Gesellschaft und im Bewusstsein der Menschen verankert sind. Sich das bewusst zu machen ist nötig, um Vourteile zu überwinden.

 

Brooklyn, an einem lauen Frühlingsabend, es ist schon dunkel. Ich bin eine Woche allein in New York unterwegs, ohne Familie. Mal raus aus dem Alltag, raus aus dem vertrauten Tübingen. An dem Abend versuche ich, Standby-Tickets für ein Konzert von Gilberto Gil und Caetano Veloso zu ergattern, aber 140 Dollar sind mir dann doch zu viel.

Müde und hungrig vom langen Anstehen gehe ich nach draußen und kaufe mir an einem Straßenstand ein Sandwich. Es ist zwar kein besonders idyllischer Ort, eine größere Kreuzung, aber es ist viel los, und ich setze mich einfach auf eine Mauer, wie es viele andere gemacht haben.

Mir fällt auf: Nur Schwarze sind auf der Straße. Ich spüre ein leichtes Unbehagen und merke, dass fast unbewusst ungewohnte Gedanken auftauchen: Irgendwie fühle ich mich bedroht und überlege zum Beispiel, ob ich mir ein „netteres“ Plätzchen zum Essen suchen soll. Vielleicht eins, in dem mehr Weiße unterwegs sind, Menschen, die „ordentlicher“ und weniger verwahrlost aussehen. Aber, ach was, sage ich mir, ist doch egal. Ob schwarz, ob weiß, ob arm, ob reich, ich habe Hunger, und es ist okay für mich, hier zu sitzen.

Dann höre ich, wie eine Frau, die ein paar Meter neben mir sitzt, vor sich hin schimpft. Ziemlich übel, ziemlich laut, geradezu aufgebracht. Dann merke ich, hoppla, sie meint MICH: „Look at that stupid white bitch! Look at her white face and her blooooooond hair“ (das „blond“ stark in die Länge gezogen, mit sehr sarkastischem Unterton). Es folgen weitere Beschimpfungen. Immer lauter, immer verletzender.

Es ist unangenehm. Ich ertappe mich bei dem Gedanken: „Wäre ich doch wenigstens nicht so blond“ und wundere mich über mich selbst. Selten war mir bewusst, wie stark ich mich mit meiner Hautfarbe und all den Privilegien, die dazu gehören, identifiziere. Das Essen schmeckt so nicht. Etwas erwidern hat keinen Sinn. So gehe ich weg und suche mir doch einen anderen Platz.

Freiheit für alle?

Erst habe ich mich zu Unrecht angegriffen gefühlt und gemerkt, wie ich mich rechtfertigen will. Dann macht sich Traurigkeit breit. Die Frau war so wütend, so frustriert, verzweifelt. Vielleicht steht sie stellvertretend für viele Generationen Schwarzer, die nicht die gleichen Rechte haben wie Weiße. Für Menschen, die diese Diskriminierung am eigenen Leib spüren, jeden Tag, die mich stellvertretend für „die Weißen“ hassen, also jene Bevorzugten mit den (besseren) Jobs, den glücklicheren Familien, dem ganzen vollen Leben, von dem sie so weit weg ist. Und mit dem sie nichts zu tun haben darf und auch nicht (mehr?) will.

Das Leben ist plötzlich zweigeteilt. Ich spüre den Riss in der amerikanischen Gesellschaft am eigenen Leib.

Ein paar Tage später in East Village, Manhattan. Ich besuche die Nichte einer Nachbarin, die erst kürzlich nach New York gezogen ist, frisch verheiratet, hochschwanger. Nach einer längeren Busfahrt steige ich aus und fühle mich „wie zu Hause“, irgendwie entspannt. Woran liegt das? Es gibt viele Bäume, schöne alte Häuser mit richtigen Klingelschildern mit Namen drauf, keine Zahlencodes zum Eingeben.

Nette Cafés, ein munteres Treiben auf den Straßen. Später schaue ich bei Wikipedia nach: East Village ist ein weißer Stadtteil. Schwarzer Bevölkerungsanteil: sieben Prozent, dagegen hat Crown Heights, wo meine Unterkunft für die Woche liegt, ca. 75 Prozent. Wir gehen einen Kaffee trinken und reden über dies und das, auch über die Schwangerschaft. Ich erzähle auch von meinem Abend in Brooklyn und dass ich überrascht und enttäuscht bin, wie präsent das Rassenthema hier ist.

Da berichtet die Neu-New-Yorkerin von einer Sitzung ihres Geburtsvorbereitungskurses. Die Hebamme fragte alle Teilnehmerinnen, auf was sie sich denn besonders freuten oder was ihnen vielleicht auch Angst oder Sorgen bereite, wenn sie an ihre Zukunft mit Kind dächten. Alle waren Weiße. Eine aus der Gruppe, die mit einem Schwarzen verheiratet ist, antwortete: „Ich mache mir ziemliche Sorgen, wenn ich daran denke, dass es für mein Kind als Mischling ganz schön schwer werden kann in dieser Gesellschaft“.

Szenenwechsel. Am nächsten Tag nehme ich die Fähre nach Staten Island. Vorbei an der Freiheitsstatue. Freiheit für allle? Im Internet habe ich über das Jacques Marchais Museum of Tibetan Art gelesen, das eine Sammlung tibetischer Kunst beherbergt. Dort soll es heute auch eine angeleitete Mediation von Thupten Phuntsok geben, einem Schwarzen , der buddhistischer Mönch ist. Das finde ich toll. Endlich mal ein Schwarzer, der Buddhist ist und sogar ein besonders angesehener Lehrer.

Wieder stutze ich. Warum freut es mich eigentlich, warum erscheint es mir als etwas Besonderes, dass ein Schwarzer zur Meditation anleitet? Ist dies eine Form von Rassismus? Das Erstaunen darüber impliziert, dass man es ihm eigentlich nicht zutraut. Man zieht es gar nicht in Erwägung, weil Schwarze „normalerweise“ andere Arbeiten verrichten. Diese Zuschreibungen laufen unbewusst ab – als hätten sie sich tief in unser Bewusstsein eingegraben.

Tatsache ist: Es ist nicht normal, dass Schwarze als Meditationslehrer auftreten. Es ist selten. Auch bei dem Besuch einer Meditation ein paar Tage zuvor im Rubin Museum of Art hatte ich das Gefühl, dass solche Angebote eher etwas für die „gehobene Klasse“ sind, für die Elite. Es nahmen daran fast ausschließlich weiße Frauen um die fünfzig, sechzig teil, die schick gekleidet waren und sicher keiner unterprivilegierten Schicht angehörten. Es gibt in New York tatsächlich viele Orte, wo es kaum Schwarze gibt, es sei denn als Bedienung oder Security Guard.

Etwa fünfzehn Leute versammeln sich also zum Meditieren, alles Weiße, in einem rustikalen Raum mit rohen Steinwänden. Doch Thupten Phuntsok ist erkrankt. Eine Schülerin springt für ihn ein. Schade, denke ich, aber ich freue mich trotzdem und warte gespannt. Zu meiner großen Freude ist sie ebenfalls eine Schwarze. Aber warum freue ich mich eigentlich darüber? Mir ist das peinlich und unangenehm, diese Gedankengänge wiederzugeben, die wie aus dem Nichts auftauchen. Sicher bin ich nicht die einzige, die solche Gedanken hat. Ich spüre, wie tief der Rassismus sogar in mir verwurzelt ist, die ich mich für eine moderne, aufgeklärte Frau halte.

Black Lives Matter

Kurz darauf, wieder zu Hause in Deutschland, kommt eine Übersetzungsanfrage von Ethik heute für den Artikel von Jay Garfield über die Black Lives Matter-Bewegung. Hier bestätigt sich einiges, das ich auf meiner Reise selbst erlebt habe. Was bei mir eher unterbewusst ablief, ist hier klar in Worte gefasst. Es ist die Rede von einem impliziten Rassismus, den man gar nicht bewusst wahrnimmt, und der laut Garfield die gesamte amerikanische Gesellschaft durchzieht.

Auch Studien weisen das nach. Die Weißen profitieren von der Benachteiligung der Schwarzen, ohne es zu merken. Gerade weil man sich bezüglich der eigenen Hautfarbe keinerlei Probleme bewusst ist, wird deutlich, dass man eine Vorrangstellung einnimmt und kein Interesse hat, etwas an der Situation zu ändern.

Lasse ich meine Erlebnisse noc
h einmal Revue passieren, spüre ich, wie recht Garfield hat, und denke, dass nicht nur die Amerikaner von diesem impliziten Rassismus betroffen sind, sondern auch ich und sicher viele andere Europäer/innen.

In einem Dossier der ZEIT vom 8. September erfährt man: „Schwarze machen in den USA nur ein Prozent der Fachbelegschaft von Google aus, ebenso ist es bei Facebook, Twitter, Yahoo und LinkedIn. 75 Prozent der Reinigungskräfte sind Schwarze und Latinos.”

Vor einigen Tagen sah ich im Fernsehen eine Reportage über Baltimore, wo im April 2015 ein 25-jähriger Schwarzer seinen Verletzungen erlag, die er in der Haft erlitten hatte. Im Juni 2016 erschoss ein Polizist einen unbewaffneten Schwarzen, was landesweit starke Proteste ausgelöst hatte. Mehrere Menschen wurden zur Situation der schwarzen Bevölkerung dort befragt. Eine Frau sagte, es mache keinen großen Unterschied, ob Clinton oder Trump die Präsidentschaftswahlen gewinne, die Benachteiligung der Schwarzen würde sich sicher nicht ändern.

Das ist mir zu pessimistisch. Mich interessiert, ob Weiße und Schwarze sich gemeinsam aufmachen können, um dem Rassismus entgegen zu wirken.

Barbara Marx

Die Autorin ist Diplom-Übersetzerin und arbeitet freiberuflich als Lektorin und Übersetzerin mit den Schwerpunkten Buddhismus, Psychologie und Populärwissenschaften. www.barbaramarx.de

 

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