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Selbstmitgefühl ist kein Egoismus

everst/ shutterstock.com
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Anleitungen von Christine Brähler

Die Psychotherapeutin Dr. Christine Brähler ist überzeugt: Selbstmitgefühl ist die Basis, um anderen mitfühlend zu begegnen. Im Beitrag zeigt sie kleine Übungen, um diese Kraft zu stärken. Im nächsten Schritt kann man Fürsorge und Mitgefühl auf andere ausdehnen.

 

 

Mitgefühl und die Bereitschaft, Bedürftigen zu helfen, ist ein zutiefst menschlicher Wert, auf den wir zählen, wenn wir selbst Hilfe bedürfen. Doch auch wenn Hilfsbereitschaft und Mitgefühl weitverbreitete Werte sind, bestimmen sie nicht immer genauso vorhersehbar unser tatsächliches Handeln.

Ein Grund dafür, weshalb Menschen angesichts der Not anderer mitunter nicht helfen, liegt in der menschlichen Aversion gegen Schmerz. Die Neurowissenschaftlerin Tania Singer fand im Rahmen ihrer Forschungen heraus, dass es Empathischmerz auslöst, andere Menschen in Not zu sehen oder davon zu hören. Und dieser Schmerz ist nur begrenzt aushaltbar. Ein Abwenden von der Not oder eine Überforderung aus Hilflosigkeit sind die natürlichen Folgen von zu viel Empathie.

Mitgefühl hingegen wurde in den Studien als positiver Geisteszustand beschrieben, der die Kraft gibt, uns der Not anderer zuzuwenden, ohne dabei auszubrennen. Es ist der Wunsch, dass andere frei sein mögen von Leiden. Die Studien von Tania Singer zeigen auch: Um mehr Mitgefühl und weniger Empathieschmerz zu empfinden, kann es helfen, durch geistiges Training Mitgefühl aktiv zu üben.

Der Dalai Lama sagte dazu einmal: Damit jemand echtes Mitgefühl für andere entwickeln kann, muss er zuerst ein Fundament haben, auf dem das möglich ist. Dieses Fundament ist die Fähigkeit, sich mit den eigenen Gefühlen zu verbinden und sich um sein eigenes Wohlergehen zu kümmern. Fürsorge für andere bedarf Fürsorge für einen selbst.

Selbstmitgefühl macht kompromissbereiter

Der Übungsweg zu mehr Mitgefühl beginnt also mit dem Selbstmitgefühl. Was bedeutet das? Dr. Kristin Neff, Forschungspsychologin an der University of Texas at Austin, definierte Selbstmitgefühl wie folgt: Anstatt eine Belastung zu ignorieren oder sich in Geschichten darüber zu verstricken, nehmen wir einfach wahr, dass wir gerade belastet sind. Wir erkennen an, wie sich das körperlich und emotional anfühlt.

Anstatt uns im Erleben dieser Belastung allein und minderwertig zu fühlen, werden wir uns bewusst, dass alle Menschen schwierige Zeiten durchleben und dass uns das Auf und Ab des menschlichen Lebens miteinander verbindet. Anstatt verärgert mit uns selbst zu sein, wenn etwas schief gelaufen ist, trösten, ermutigen und helfen wir uns, ganz so, wie ein guter Freund dies tun würde.

Gemeinsam mit dem klinischen Psychologen Dr. Chris Germer aus Cambridge entwickelte sie hierfür ein achtsamkeitsbasiertes Trainingsprogramm in Selbstmitgefühl: Mindful Self-Compassion (MSC). Studien zeigen, dass Menschen mit mehr Selbstmitgefühl unter weniger Angst, Depression und Stress leiden, mehr Widerstandsfähigkeit bei Belastung und Niederlagen und mehr positive Geistezustände wie Zuversicht, Weisheit und Lebenszufriedenheit erleben sowie eine gesündere Lebensweise pflegen.

Zudem werden Menschen mit mehr Selbstmitgefühl von ihren Partnern als kompromissbereiter, konfliktfähiger und empathischer beschrieben. Selbstmitgefühl macht uns also nicht egoistisch, wie mitunter fälschlicherweise angenommen wird, sondern hilft uns dabei, Verantwortung für unsere eigenen unerfüllten Bedürfnisse zu übernehmen. Es schafft somit mehr Kapazität, um für andere auf nachhaltige und authentische Weise da zu sein.

Liebevoll, nachsichtig und respektvoll sich selbst gegenüber zu sein, kann man wie einen Muskel trainieren. Die folgenden Übungen aus dem Trainingsprogramm für Selbstmitgefühl können dabei helfen, mitfühlender mit sich selbst im Alltag umzugehen.

Einige Übungen, um Selbstfürsorge zu stärken

Sich in schwierigen Zeiten Beistand schenken: Wenn Sie im Alltag von schwierigen Gefühlen wie Ärger, Neid oder Traurigkeit überwältigt werden, empfiehlt sich die folgende Vorgehensweise:

  1. Nehmen Sie den Schmerz wahr: “Solche Gefühle sind schmerzhaft”.

  2. Erkennen Sie, dass es auch anderen Menschen so geht: “Es ist menschlich, so zu empfinden.”

  3. Seien Sie gut zu sich: “Ich bin freundlich zu mir selbst.”

Fragen Sie sich dann: Was brauche ich jetzt? Was würde ich einem geliebten Menschen sagen, der in derselben Situation wäre? Kann ich mir selbst diese Worte schenken?

Die dritte Frage hilft, für sich selbst Sorge zu tragen. Vielleicht gönnen Sie sich ein warmes Bad, hören sich ein tröstendes Lied an oder haben den Mut, sich abzugrenzen und eine schwierige Situation zu klären.

Sich selbst in den Arm nehmen: Geht es einem nahestehenden Menschen schlecht, nehmen wir ihn in die Arme, um ihn zu trösten. Dasselbe können wir auch für uns tun. Verschränken sie Ihre Arme und drücken Sie sich. Oder legen Sie ihre Hand auf die Mitte des Brustbereiches und spüren Sie die Wärme. Schenken Sie sich ein inneres Lächeln. Der Körper reagiert darauf, indem er Hormone ausschüttet, die beruhigend wirken.

Wohlwollender Begleiter: Stellen sie sich vor, es gäbe jemanden, der Sie innerlich wohlwollend begleiten würde. Dieses Wesen versteht und liebt sie bedingungslos und ist zudem weise, gelassen, mutig und fürsorglich. In schwierigen Situationen, in denen Sie sich verurteilen, schenkt dieser innere Begleiter ihnen tröstende, beruhigende oder ermutigende Worte.

Haben Sie zum Beispiel Süßigkeiten gegessen, obwohl Sie auf Diät sind, verurteilt er Sie nicht, sondern sagt Dinge wie: “Misserfolge sind menschlich. Es ist schwierig, Süßem zu widerstehen. Morgen ist ein neuer Tag, an dem ich mich um meine Gesundheit kümmere.”

Wann immer Ihr innerer Kritiker sich zu Wort meldet, stellen Sie sich vor, was Ihr Begleiter stattdessen in dieser Situation sagen würde. Sie können auch abends den Tag Revue passieren lassen und aufschreiben, was er in den jeweiligen Situationen zu Ihnen gesagt hätte.

Christine Braehler, SelbstmitgefühlDr. Christine Brähler ist Psychologische Psychotherapeutin und International Coordinator des Center for MSC. Sie ist eine der Pionierinnen in der Erforschung von Selbstmitgefühl. www.christinebraehler.com

 

 

 

 

 

 

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