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Transformation, Geist und Geld

Katy Flaty/ shutterstock
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Interview mit Stefan Brunnhuber

Der Psychiater und Ökonom Stefan Brunnhuber, Mitglied im Club of Rome, gehört zu den interessantesten Denkern, die sich mit der Transformation von Gesellschaften befassen. Er spricht im Interview über anstehende Veränderungen im Finanzsektor und im Bildungssystem und wie wichtig es ist, Unsicherheit auszuhalten und Kreativität freizusetzen.

 

Das Gespräch führte Sabine Breit

Frage: Sie haben ein Buch mit dem Titel, „die Kunst der Transformation“ geschrieben. Die Wirtschaft will sich transformieren. Warum wird gerade so viel Gewese um das Thema gemacht? Der Wandel ist doch eigentlich Alltagsgeschäft. Unser Planet und die Menschheit haben sich unzählige Male transformiert. Um was geht es heute?

Brunnhuber: Es ist es sicherlich richtig, dass wir uns ständig ändern und weiterentwickeln. Die Frage ist nur, welche Art von Veränderung ansteht. Für mich gibt es Zeiten, in denen wir uns besser an Rahmenbedingungen anpassen, und es gibt Zeiten, wo Veränderung grundlegender ist.

Wir sprechen in diesem Zusammenhang ja häufig von Krisen, also Klimaerwärmung, Artenverlust, Pandemien oder Migrationskrisen etc.. Ich bin mir gar nicht sicher, ob der Begriff der Krise unseren Zustand wirklich adäquat beschreibt. Ich würde eher von einem Wechsel im gesellschaftlichen Aggregationszustand von der einen in eine andere Form des Miteinanders sprechen.

Dabei sind fünf Aspekte wichtig: Zuerst kommt der „Reset“, d. h. die Erfahrung, dass wir nicht weitermachen können wie bisher. Dann stellt man aber schnell in einem zweiten Schritt fest, dass ein solches Zurückfahren mit zahlreichen Kollateraleffekten verbunden ist.

Wir sehen das auch im Umfeld der Corona-Maßnahmen: Wenn wir im Norden runterfahren, gehen Lieferketten für den globalen Süden verloren. Zum Beispiel ging während der laufenden Pandemie der Human Development Index (HDI) durch die Lockdowns um zehn Jahre zurück, und wir werden in den nächsten Jahren einen massiven Zuwachs an Malariaerkrankungen und an Arbeitslosen haben.

Drittens benötigen wir neue Spielregeln. Etwa dazu, wie wir das Verhältnis von Allgemeingütern zu Privatgütern organisieren. Dann entsteht ein vierter Aspekt, nämlich der der Langfristigkeit, d. h. dass diese Spielregeln auch mit Blick auf zukünftige Generationen gelten.

Fünftens geht es schließlich darum, dass wir diese vier Bälle gleichzeitig in der Luft halten. Die Psychologie spricht hier von der Metakognition – also der Fähigkeit des Nachdenkens über das Denken.

Frage: Nun gibt es unterschiedliche Ziele mit unterschiedlichen Prioritäten dazu, wohin wir uns transformieren wollen. Da gibt es die Bekämpfung der Armut, den Klimaschutz, den Schutz der Artenvielfalt. In Ihrem Buch zählen Sie im Wesentlichen sieben dieser Ziele auf. Wo würden Sie eine Priorität setzen, und wo sehen Sie den größten Hebel, den echten Game-Changer?

Brunnhuber: Die aktuelle Diskussion dreht sich ja um die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Das ist ein Konsens, den wir weltweit 2015 darüber errungen haben, in welche Richtung wir uns verändern wollen. Eine der Einsichten dabei war, dass auch unterschiedliche politische Systeme sich mit diesen Zielen anfreunden können.

Foto: Timm_Ziegenthaler

Was wir im Westen oder im globalen Norden in besonderer Weise lernen müssen, ist, dass unsere Form des Zusammenlebens, in der wir individuelle Freiheiten, Kreativität, Autonomie und Verantwortung favorisieren – das was Karl Popper die offene Gesellschaft genannt hat – nicht zwangsläufig universalisierbar ist. So ist auch eine ganz andere Form des Zusammenlebens möglich, die man im weitesten Sinne als „digitale Autokratien“ bezeichnen kann.

Die Frage wird sein, wer von den beiden kann es besser? Sind die offenen Gesellschaften flexibler und anpassungsfähiger bei der Problemlösung, oder bieten technokratische, autokratische Regime auch Problemlösungen an, die dann aber nicht auf dem Boden der liberalen Rechtsstaatlichkeit und liberaler Freiheits- und Menschenrechte stehen, wie wir sie im Westen verstehen?

Wir laufen Gefahr, die Last der Transformation auf den Schultern des Einzelnen abzuladen.

Frage: Und wo liegt der Game-Changer?

Brunnhuber: Ich glaube, dass eine kritische Debatte über die Art und Weise, wie wir unser Geld- und Finanzsystem organisieren, der Game-Changer ist.

Wir laufen Gefahr, dass wir den Prozess der Veränderung zu schnell individualisieren und die ganze Last der Transformation auf den Schultern des Einzelnen abladen. Nach dem Motto: Wenn jetzt alle Veggieburger essen, E-Autos fahren und Inlandsflüge besteuert werden, dann wird das irgendwie.

Grundsätzlich geht es aber doch um die Frage, ob wir einen Systemwechsel hinbekommen, der mit weniger Wohlstandsverlusten einhergeht. Dabei spielt das Geld- und Finanzsystem eine entscheidende Rolle, weil wir hier über ganz andere Größenordnungen sprechen.

Frage: Was wäre Ihr Vorschlag dazu? Wie könnte man das Geld- und Finanzsystem verändern? Es steht die Zahl von vier bis fünf Billionen – eine Billion ist eine Eins mit zwölf Nullen – im Raum, die für die anstehenden Transformationsaufgaben benötigt werden. Wie mobilisiert man dieses Geld?

Brunnhuber: Sie können bei den Nachhaltigkeitszielen anfangen. Technologisch lassen sich diese Ziele erreichen. Die Frage, wieviel Geld wir dazu benötigen und wo es herkommen soll, haben wir aber seit 2015 tunlichst vermieden.

In der Tat geht es um grob vier bis fünf Billionen US-Dollar-Äquivalente für die Gegenfinanzierung der Nachhaltigkeitsziele. Eine Lösung wäre, das Ganze zu privatisieren. Tatsächlich haben wir auf den Kapitalmärkten eine extreme Überliquidität. Nun könnte man sagen, wir schichten diese Gelder um und verwenden sie zur Finanzierung der Nachhaltigkeitsziele.

Damit würden wir die komplette Zukunft, unser gesamtes Allgemeingut, aber endgültig privatisieren. Das können wir ja nicht wollen. Gleichwohl können bei einem Drittel der Nachhaltigkeitsziele private Kapitalgeber eine Rolle spielen. Aber für die anderen Zweidrittel geht es eben nicht.

In einem zweiten Ansatz könnte man das Geld auf den Finanzmärkten besser besteuern. Diese Diskussion ist fast 75 Jahre alt. Wenn Sie sich aber die Zahlen anschauen, stellen Sie fest, dass die dadurch erzielbare Liquidität viel zu gering ist.

Die dritte Möglichkeit ist die Selbstverpflichtung, also das, was Stiftungen oder Philantropie tun. Das sind die drei klassischen Möglichkeiten: Privatisieren, Besteuern oder Philantropie.

Die bisherigen Mittel der Finanzindustrie sind ungeeignet, die Probleme zu lösen.

Frage: Und dann schlagen Sie in Ihrem Buch noch eine völlig andere, radikal neue Möglichkeit vor – eine Parallelwährung.

Brunnhuber: So radikal ist das gar nicht. Zum einen finden diese Entwicklungen schon statt. Es gilt nur, sie auf die richtige Ebene zu heben. Mit Kryptowährungen haben Sie bereits eine Marktkapitalisierung von 1,5 bis 2,5 Billionen US-Dollar.

Auf der Ebene der NGOs haben wir außerdem seit ca. 75 Jahren Regionalwährungen wie den Chiemgauer. Allein in Deutschland gibt es über 60 Initiativen, die zwar volkswirtschaftlich völlig irrelevant sind, uns aber doch zeigen, dass parallel zum aktuellen System andere Systeme sinnvoll sind und funktionieren.

Frage: Um das auf eine wirklich relevante Ebene zu heben, brauchen Sie aber völlig andere „Mitspieler“, etwa die Zentralbanken und die Geschäftsbanken. Und erfordert es dort dann nicht auch ein völlig anderes Denken und mutige Menschen, die bereit sind, voranzugehen und Tabus zu brechen. Wen und was braucht es?

Brunnhuber: Genau. Nehmen Sie die Zentralbanken. Seit vier bis fünf Jahren experimentieren über 50 Zentralbanken weltweit bereits mit sogenanntem digitalem Zentralbankgeld (CBDC). Das wäre bereits eine dritte Entwicklung. Was braucht es ansonsten?

Nun, wir müssen erst einmal anerkennen, dass die herkömmlichen Mittel und Instrumente der Finanzindustrie ungeeignet sind, um die vor uns liegenden Herausforderungen zu lösen. Das heißt, wir müssen zuerst anerkennen, dass wir fünf Billionen zusätzliche Liquidität brauchen, die in einer anderen Art und Weise konfiguriert ist und die Probleme angeht, als man das bisher durch Privatisierung, Umverteilung oder Philantropie gemacht hat.

Ein erweitertes Zentralbankmandat, welches zur Einführung eines parallelen Geldsystems ansetzt, setzt voraus, dass wir uns mit dem Finanzsektor in gleicher Weise der Komplexität stellen, wie es in anderen Sektoren auch gefordert ist. Im Bildungssystem, in der Politik, der Realwirtschaft, im allgemeinen Leben wird ja auch eine zusätzliche Problemlösungskompetenz erwartet. Und wenn man dieses erweiterte Mandat mit einer intelligenten Blockchain-Technologie versieht, dann kann das gehen.

Frage: Stichwort Komplexität. Gegenwärtig versucht man ja eher, Komplexität zu reduzieren. Muss es nicht darum gehen, mit Komplexität angemessen umzugehen und diese Fähigkeit auch gerade bei Führungskräften zu erhöhen, damit Transformation gelingt? Was braucht ein Mensch dafür?

Brunnhuber: Wenn man fragt, wie der Einzelne mit einem Zuwachs an Komplexität umgeht, dann heißt das übersetzt für mich: Wie geht der Einzelne mit einem Zuwachs an Unsicherheit und Ungewissheit um?

Ist Unsicherheit etwas, was man mit Wahrscheinlichkeitstabellen und Statistik quantifizieren und auflösen kann? Oder steckt sie im System und geht nie weg? Das sind die zwei Formen der Unsicherheit, mit der wir konfrontiert sind.

Wenn wir von der ersten Form sprechen, dann müssten wir einfach nur einen Algorithmus entwickeln, der diese Risiken quantifiziert, und können dann so weitermachen wie bisher. Wenn wir aber anerkennen, dass wir jetzt von einer systemimmanenten Unsicherheit sprechen, die nie weggehen wird, brauchen wir auf individueller und kollektiver Ebene Mechanismen oder auch eine Geisteshaltung, die es uns ermöglicht, mit Unsicherheit umzugehen.

Man kann dagegen ankämpfen, davor weglaufen, oder den Kopf in den Sand stecken und Komplexität verleugnen. Eine vierte Möglichkeit wäre, innezuhalten und uns zu fragen, wie wir Rahmenbedingungen schaffen können, die den Einzelnen in mehr Kreativität und Autonomie, mehr Freiheit und mehr Verantwortung setzt, um mit dieser Komplexität besser umzugehen.

Mit Freiheit und Verantwortung können wir Kreativität und Kraft freisetzen.

Frage: Wie würde man das konkret umsetzen, z. B. im Bildungsbereich oder auch in Unternehmen? Wie kann man einen Beitrag dazu leisten, dass Menschen individuell und kollektiv transformationsfähiger werden? Und noch konkreter: Sie sind auch Klinikchef, wie machen Sie das bei sich im Haus?

Brunnhuber: Vielleicht ein Beispiel aus dem Erziehungssystem. In den letzten 100 bis 200 Jahren haben wir uns immer weiter in Subdisziplinen spezialisiert. Vor 200 Jahren gab es vielleicht 8 oder 10 Disziplinen, heute sind es über 2000 Disziplinen und Subdisziplinen.

Im Grunde sind das alles curriculare Bildungsprogramme. Wenn wir aber ein Maximum an Talent, Kreativität und Neugier freisetzen wollen, halte ich das, was nicht im Lehrplan steht, für viel wichtiger.

Ich denke hier etwa an die wichtige Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, oder die Frage, ob ein Schüler, Student oder Doktorand emotionale Faktoren in der Persönlichkeitsentwicklung hinreichend ausbilden kann. Es geht um Dinge wie Selbststeuerung, Ambivalenztoleranz, Umgang mit Unsicherheit oder mit Affekten.

Hierzu gehört auch die Frage, was wir essen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Ernährung und Leistung. Wenn man den ganzen Tag nur industriell hergestellte Gerichte zu sich nimmt, wirkt sich das negativ auf die Gedächtnisleistung aus.

Ein weiterer Aspekt ist Bewegung. Wir wissen heute, dass es zwischen Bewegung und der Entwicklung des präfrontalen Kortex eine Korrelation gibt. Ganz konkret: Sieben Minuten Yogaprogramm während des Mathematikunterrichts bei Viertklässlern führt nach sechs Wochen bereits zu signifikanten Verbesserungen der mathematischen Rechnungen, ohne dass es irgendwas kostet.

Oder schauen wir uns Unternehmen an. Allein die Vorstandssitzungen in DAX-Unternehmen sind völlig ineffiziente Veranstaltungen. Es fehlt an Wissen, wie man ein Format schafft, in dem die bestbezahlten Menschen des Landes ein Maximum an Kreativität freisetzen können.

Noch konkreter, weil Sie auch mein Krankenhaus erwähnt haben: Wir haben entschieden, dass Mitarbeiter und Patienten auf allen Stationen mindestens einmal die Woche während der Kernarbeitszeit eine Stunde lang schweigen. Aus der Erfahrung der letzten 5000 Jahre sind Schweigen und Stille eines der stärksten Instrumente, um Aufmerksamkeit, Klarheit, Konzentration und Kreativität freizusetzen.

Frage: Zum Abschluss: Was wäre Ihre Lieblingsutopie? Sie sind auch Vater. Welche Welt möchten Sie gerne für Ihre Kinder sehen?

Brunnhuber: Ich möchte mit meinen Kindern weiterhin daran arbeiten, in einer offenen Gesellschaft leben zu wollen. Das setzt voraus, dass Menschen immer wieder in die Freiheit entlassen werden. Freiheit, die immer auch Verantwortung heißt. Und das betrifft eben nicht nur die Freiheit dieser Generation, sondern auch zukünftiger Generationen, ja sogar alles Lebendigen und der Natur.

Wenn uns das gelingt, dann werden wir auch Nachhaltigkeit hinbekommen. Und dann werden wir im Bildungssystem und auch in anderen Bereichen eine ungeheure Kreativität und Kraft freisetzen, die es nur in offenen Gesellschaften gibt.

Menschen, die in die wirklich verstandene Freiheit und Verantwortung entlassen werden, können ein Problemlösungspotenzial entfalten, das uns in diesen neuen Aggregationszustand hineinbringt, den man vielleicht eine zweite Aufklärung nennen kann. Oder eine zweite Renaissance. Das geht nur innerhalb einer Ordnung der Freiheit.

 

Stefan Brunnhuber ist Ökonom und Psychiater, Mitglied des Club of Rome und der Lancet-Kommision, sowie Senator der Europäischen Akademie der Wissenschaften. Außerdem ist er ärztlicher Direktor der Diakonie-Klinik für Integrative Psychiatrie sowie Professor für Psychologie und Nachhaltigkeit an der Hochschule Mittweida in Sachsen. www.stefan-brunnhuber.de

Prof. Brunnhuber wird auf den Kongress Meditation und Wissenschaft am 1. und 2. April 2022 sprechen.

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Mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen.

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Liebe Sabine

das ist ganz wunderbar und ein tolles Interview. Es spricht mir in vielen Aspekten aus der Seele. 1 Std. Stille, Bewegung und die Einübung von Unübersichtlichkeit und Unsicherheit. Und wir müssen an das Geldsystem ran. Die 6 billionen sind ja da, aber falsch genutzt. Ob Blockchain das regelt, da habe ich Zweifel, aber interessnte idee.
Liebe Grüße auch an dich Birigt
Guido Peltzer

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