Ein Buch von Heinz Bude
Wofür lohnt es sich zu leben, fragt der bekannte Soziologe Heinz Bude in seinem Buch über Solidarität. Nur um individuelle Wünsche zu befriedigen? Die Geschichte zeigt, dass Gesellschaften ohne Solidarität nicht überlebensfähig sind. Nur wenn wir uns zur Mitmenschlichkeit entscheiden, können wir den Zusammenhalt sichern und zukünftige Probleme lösen.
Was heißt Solidarität? Wie gelingt es, diesen Begriff heute auf eine Zukunft zu richten, in der das Miteinander in all der individualisierten Vielfalt wieder an Bedeutung gewinnt? Wie kann ein solches solidarisches Miteinander Spaltung und lautstarkem Populismus etwas entgegensetzen, was wirklich zukunftsfähig ist?
Diesen Fragen geht der Soziologe Heinz Bude, der an der Universität Kassel Makrosoziologie lehrt, in seinem Buch: „Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee“ nach. Er sucht nach einer Sprache der Solidarität, die in vielen gesellschaftlichen Diskursen gegenwärtig zu fehlen scheint.
Dafür skizziert Bude zu Beginn seines Werkes das, was den Begriff der Solidarität historisch ausmacht und wie diese „beängstigend große Idee“ in anderen Kontexten wirkte: in der römischen Rechtsprechung, in der christlichen Brüderlichkeitsethik, in der französischen Revolution, der späteren Arbeiterbewegung und in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg, in dem ein solidarisches Miteinander über so manchen Konflikt hinwegsehen ließ – wenn auch nicht immer zum Guten.
Solidarität ist das, was sichtbar wird, wenn sich eine Gemeinschaft zur Stärkung der eigenen Grundfesten um ein gelingendes Miteinander bemüht. Der Autor zeigt deutlich, wie schwer sich solche Grundfesten heute in einer Gesellschaft des hochdifferenzierten Wir und Ihr ausmachen lassen. Einer Gesellschaft, die durch neoliberalistische Ideale geprägt und daran gewöhnt ist, das eigene Handeln am eigenen Ich auszurichten, ohne darin zwingend eine Problematik zu erkennen.
Dieses Ich ist mit dem Kollektiv verwoben, erkennt aber in diesem Verwobensein voller Ungleichheiten nicht die Gründe und Notwendigkeiten für das eigene Tun und Handeln. Stattdessen nimmt es für selbstverständlich, die Vorteile der Gemeinschaft zu nutzen, ohne selbst für ihr Weiterbestehen sorgen zu müssen. Geht es schließlich nur noch um dieses Ich, den Nutzen und die Vorteile, die ein systematischer Zusammenhang im sozialen Gefüge dem Einzelnen scheinbar schuldet, dann finden wir uns in einer Gesellschaft von Trittbrettfahrern wieder, wie Heinz Bude den Gegentypus des solidarischen Menschen beschreibt.
Wofür lohnt es sich zu leben?
Das Anliegen des Buches liegt darin, trotz der Schwierigkeiten mit dieser beladenen Idee des Solidarischen ihre Notwendigkeit historisch herzuleiten und für die Gegenwart deutlich zu machen. So wird sie als „soziales Band“ erkennbar, wie es bereits der Soziologe Emile Durkheim Ende des 19. Jahrhunderts herausgearbeitet hat. Solidarisches Miteinander scheint als eine Begabung dem Menschen innezuwohnen, wie Bude anhand des Phänomens menschlicher Anteilnahme zeigt.
In einem eigenen Kapitel widmet er sich darüberhinaus der aktuellen Debatte um den Appell zur Achtsamkeit, der einen ambivalenten Zugang zum Wesentlichen eröffnet. Bude spart nicht mit Kritik und fragt, ob sich hierin nicht eher eine Haltung verbirgt, die den Blick auf den Einzelnen nur noch verstärkt.
Allein das Versprechen, das im Titel des Buches („Die Zukunft einer großen Idee“) formuliert ist, bekommt in der Unterschiedlichkeit der Perspektiven und Facetten des schillernden Begriffs der Solidarität selbst zu wenig Raum. Erst gegen Ende des Buches wird es Thema.
Aber genau die Frage nach der Gestaltung einer solidarischen Zukunft, brennt dem Leser unter den Nägeln. Denn es muss um die Möglichkeiten gehen, die notwendigen „Grundfesten“ in einer global vernetzten Welt zu stärken. Die uns gegenwärtig alle verbindende Frage nach einem Weiterleben des Menschen auf diesem Planeten ist ein Ziel, das dringlicher kaum sein könnte und ohne Solidarität nicht erreicht werden kann. Darin sieht auch Heinz Bude das zentrale Ziel eines Miteinanders, das sich globale Ziele setzen muss:
Das Verwurzeltsein in und auf einer gemeinsamen Erde, die den Boden bildet, auf dem wir alle stehen, führt er anhand von Denkerinnen wie Donna J. Haraway, Vinciane Despert und dem italienischen Philosophen Emanuele Coccia aus, bleibt darin aber eher beschreibend
In dieser bodenständigen Verwurzelung kann ein Weg in die Zukunft des Solidarischen liegen, dem das Buch gern noch mehr Raum hätte geben können, um daraus das notwendige „Dritte“ zu entwickeln, das uns Grund zur Solidarität sein kann. zu entwickeln.
Die wesentliche Frage, die uns laut Bude in Bezug auf die Zukunft der Solidarität beschäftigen muss, sollten wir uns nicht als Individuum, sondern als Menschheit stellen: „Wofür lohnt es sich zu leben?“ Eine Frage, deren Antwort, wie es der Autor deutlich macht, nicht durch moralische Appelle erzwungen werden kann, sondern in Diskursen verhandelt und geprüft werden muss.
Diese Frage erfordert ein Wachsen an und mit dem anderen, eine Offenheit und Bereitschaft, die aber dennoch keine freiwillige sein kann, weil das Ziel, das besagte „Dritte“ unser Handeln fordert und darin lehrt, Unterschiede und Konflikte um „der Sache willen“ zurück zu stellen. Diesen Umstand macht das Buch sehr eindrücklich und anhand vieler Belege deutlich. Spannend wird nun, diese Einsicht an lebendigen und gegenwärtigen Fragestellungen zu verwirklichen und die Tragfähigkeit eines notwendigen Solidaritätsprinzips für die Zukunft nicht zu fordern, sondern zu fördern.
Ina Schmidt
Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee. Hanser Verlag 2019
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